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Die Königin des Regens
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eBook491 Seiten7 Stunden

Die Königin des Regens

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Über dieses E-Book

Fünf Menschen im Bann einer unheimlichen Mordserie ...
Ein Polizist mit einem ungelösten Fall und einer Vorahnung, ein Mädchen, in das sich der Falsche verliebt, ein Ex-Fahnder im Drogensumpf, ein einsamer Junge auf der Suche nach Wärme und ein alter Mann, Opfer seiner Besessenheit. Dem Strudel der Ereignisse können sie nicht entkommen ...
Endlich als umfassende Neuausgabe! Sascha André Michaels großer Psychothriller - ein aufregender Wettlauf gegen die Zeit und zugleich eine subtile und eindringliche Charakterstudie, die den Leser in die dunkelsten und einsamsten Gefilde der menschlichen Seele entführt.

»Spannend! ... Sascha André Michael seziert wie ein Pathologe die Gefühlswelten von Täter und Opfer.«
Augsburger Allgemeine Zeitung
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum26. Juni 2017
ISBN9783744859905
Die Königin des Regens
Autor

Sascha André Michael

Der Legende nach begann Sascha André Michael noch im Mutterleib beim Klang einer Schreibmaschine aufgeregt zu zappeln und seine Mutter mit Tritten zu erfreuen. Ob er es zu diesem Zeitpunkt schon ahnte oder nicht, so würde ihn dieses Geräusch sein ganzes Leben lang verfolgen und definieren. Denn - das müssen Sie unbedingt wissen - Sascha Andre Michael hat sich das Schreiben nicht ausgesucht. Es hat ihn ausgesucht und ließ ihm nie eine andere Wahl, als zu schreiben, schreiben, schreiben. Schon als kleiner Junge hackte er zahllose Kurzgeschichten in die riesige Triumph-Schreibmaschine seines Großvaters, während andere Kinder draußen waren und ... nun ja, irgendwelche Dinge taten, die man als Kind ebenso tut. Und derweil andere Jugendliche Dinge taten, die man eben als Jugendlicher so tut, erforschte Sascha André Michael die Abgründe der menschlichen Seele und recherchierte über Serienmörder und Profiler. Letztlich gesehen hat sich daran bis heute nichts geändert. Selbst die Triumph-Schreibmaschine existiert noch und wird benutzt. Und das ist wahrscheinlich gut so. Seit seinen ersten Veröffentlichungen in den 1990er Jahren haben seine Artikel, Romane, Novellen, Kurzgeschichten, Reportagen und Werbetexte genug Leser gegruselt, unterhalten und mental gekitzelt, dass er sich zu einem Geheimtipp der Thrillerszene entwickelt hat. Heute lebt der Sprachenlehrer und ausgebildete Securityfachmann mit seiner Lebensgefährtin in Bukarest, Rumänien, bleibt aber seiner Ulmer und Nürnberger Heimat weiterhin innig verbunden. Er ist überzeugter Veganer und hat »einen seltsamen Humor« (Zitat eines Bekannten.)

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    Buchvorschau

    Die Königin des Regens - Sascha André Michael

    Jeder, der gegen Ungeheuer kämpft,

    sollte darauf achten,

    dass er bei diesem Vorgang nicht selbst

    zum Ungeheuer wird,

    und wenn jemand in einen Abgrund blickt,

    blickt der Abgrund seinerseits in ihn hinein.

    Friedrich Nietzsche

    Mein Herz denkt an dein Wort:

    »Sucht mein Angesicht!«

    Dein Angesicht, Herr,

    will ich suchen.

    Psalme 27,8

    Gewidmet meinem Großvater,

    Theodor Häbich.

    Ohne seine Liebe zu Büchern und der

    Sprache, ohne seine humoristische Kreativität

    und auch ohne seine Triumph-Adler-Schreibmasche

    (stets ein Quell der Inspiration für mich!)

    würde es den Schriftsteller Sascha André Michael

    nicht geben.

    Inhaltsverzeichnis

    Erstes Buch: Der Polizist

    Zweites Buch: Der Süchtige

    Drittes Buch: Der Mentor

    Viertes Buch: Der Schüler

    Fünftes Buch: Die Königin

    Erstes Buch

    DER POLIZIST

    Selbst gnädig war Rockville bestenfalls als schmucklos zu bezeichnen. Der an eine tropfenförmige Meeresbucht in Nordkalifornien hingesprenkelte Ort spiegelte in der Einfachheit, Schnörkellosigkeit und Funktionalität von Architektur und Anlage viel zu sehr die zutiefst bodenständige Mentalität seiner etwa fünfzehntausend Bewohner wieder, als dass er ansprechend oder auch nur besonders gewirkt hätte. An jenem Tag, der alles in Bewegung brachte und das Leben einer Handvoll besonderer Menschen für immer verändern sollte, erwachte Rockville wie so oft unter einer Glocke aus deprimierendem, bleiernem Hochnebel.

    Die Nachricht, dass ein Trupp Forstarbeiter unweit der Stadtgrenze im Redwood Nationalpark eine Leiche gefunden hatte, erreichte Aaron Landman noch am Frühstückstisch, wo er mit einer Tasse Kaffee in der Hand die Morgenzeitung überflogen hatte. Zügig und ohne einen Zwischenstopp im Polizeipräsidium steuerte er seinen Ford von Zuhause aus direkt in das trübe Dickicht, wo er auf die Kollegen vom Rockville Police Department stieß.

    Während ein leicht hinkender Fotograf (Bradlee, mit ee am Schluss) den Tatort und seine Umgebung aus allen möglichen und unmöglichen Winkeln und Entfernungen sorgfältig dokumentierte, zwängte Landman wie unzählige Male zuvor in seiner Dienstzeit als Kriminalbeamter seine feingliedrigen Hände in puderbestäubte Latexhandschuhe. Dunkelhaarig, drahtig und von einer distanzierten Aura umgeben, so stand der Ermittler da und wartete, bis ihm der geschäftige Lichtbildner ein Zeichen gab. Dann war es soweit:

    Aaron Landman begann zu funktionieren.

    Als auf der anderen Seite der Waldichtung ein paar Leute der Spurensicherung begannen, Gipsabdrücke einer vom Tatort wegführenden Reifenspuren anzufertigen, hockte sich der Ermittler neben die sterblichen Überreste eines gewaltsam zu Tode gekommenen Menschen.

    Seine ersten Blicke galten den offensichtlichsten Details:

    Der Tote war weiß, zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt mochte etwa einsfünfundachtzig groß gewesen sein. Wie ein weggeworfenes Bündel Lumpen lag der Mann auf dem bemoosten Waldboden, zusammengekrümmt, bleich und jeglicher Würde beraubt. Strähnen seines schütteren Haares klebten ihm feucht und schmutzig auf der Stirn. Seine manikürten Fingernägel, der kostspielige Anzug und die edlen Schuhe wiesen ihn ziemlich sicher als Ortsfremden aus – eine Visitenkarte der Großstadt gewissermaßen.

    Auch das noch, dachte Landman. Touristen fanden selbst in der Hauptreisezeit nur alle Jubeljahre ihren Weg nach Rockville und hielten sich noch seltener länger auf; die Besucher übernachteten entweder in Eureka und machten von dort Ausflüge, oder sie fuhren gleich weiter zu ihren Zielorten. Und nun war ausgerechnet einer der wenigen Reisenden hier einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Prächtig.

    Mit einem Gefühl der Ernüchterung und Leere fuhr Landman fort, die Leiche zu untersuchen. An der Einschusswunde im Oberbauch konnte er kaum Blut ausmachen. Die wohl bei einem heftigen Gerangel entstandenen Schrammen seitlich am Kopf des Toten hatten erheblich stärker geblutet als die Geschoßeintrittswunde in der Brust. Und das bedeutete nach Landmans Erfahrung, dass die verwendete Waffe von sehr kleinem Kaliber gewesen war; er schätzte, dass es sich um eine .22 oder 6,35mm-Pistole handele und die Schussverletzung ein langsames innerliches Verbluten zur Folge gehabt hatte. Ein schmerzhafter Tod.

    Anschließend fuhr Landman mit den Fingern in Jacken- und Hosentaschen des Opfers. Er förderte ein Streichholzbriefchen mit Werbung eines Chemiegroßhänders namens DCM Inc. aus Kansas City zutage, ein gebrauchtes, aber sorgfältig zusammengefaltetes Papiertaschentuch und einen Notizzettel mit dem Emblem der Redwood Lodge, des teuersten und wohl besten Hotels der Stadt. Ein paar Telefonnummern und Vornamen waren darauf vermerkt.

    Landman wollte gerade wieder aufstehen, als ihm jemand auf die Schulter klopfte.

    »Calvano hat die Brieftasche des Toten gefunden«, sagte der Chief Deputy, Tommy Shingleton, mit leiser Stimme und deutete auf das Unterholz etwa zwanzig Meter nördlich der beiden, wo jetzt eine kleine Fahne mit der Markierungsnummer '12' im Boden steckte.

    Landman nahm die teure Ledergeldbörse entgegen und nickte dem muskulösen Hilfssheriff, dessen Figur und Agilität an einen Ringkämpfer erinnerten, dankend zu. Nach wie vor war Shingleton einer der wenigen innerhalb des Departments, bei dem der Landman nicht das Gefühl hatte, noch in zehn Jahren als Fremdkörper, als der ewige 'Neue aus der Stadt' angesehen zu werden, egal was er tat.

    Er entdeckte kein Bargeld, als er die Börse untersuchte, nur noch ein paar einsam im Seitenfach klimpernde Centmünzen. Die Einschübe für die Kreditkarten waren ebenfalls geplündert worden, aber Führerschein und Pass steckten noch in ihren mit Folie überspannten Fächern. Der Tote hatte nun einen Namen, Robert Joseph (genannt 'R.J.') Bauersachs, sowie eine Heimat: Santa Rosa, Kalifornien. Im Innenteil der Brieftasche stieß Landman noch auf ein Foto, das Mr. Bauersachs inmitten einer Gruppe von Männern und Frauen in seinem Alter - wahrscheinlich Freunden oder Geschäftspartnern - zeigte, ein kleines Büchlein mit Telefonnummern, einen Organspenderausweis und eine Zimmerschlüsselkarte der Redwood Lodge. Lauter Puzzleteile, die darauf warteten, zu einem Bild zusammengesetzt zu werden.

    Landman ließ die Brieftasche (gestern noch ein sehr privater Gebrauchsgegenstand, jetzt ein kaltes Beweisstück), in einen transparenten Plastikbeutel fallen, schloss die Hülle sorgsam ab und erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung aus der Hocke. Danach übergab er die Geldbörse an Deputy Forry Ackerman und klappte mit Fingern, die in der feuchtkalten Luft langsam zu stechen begannen, den Kragen seines Mantels hoch. Als nächstes hörte man von ihm ein lautstarkes Räuspern, um die Kollegen auf sich aufmerksam zu machen, doch es war erst Shingletons gellender Pfiff, der sämtliche Hilfssheriffs in Richtung des Detectives blicken ließ.

    »Also, wenn wir Glück haben, rechnen der oder die Täter nicht damit, dass wir die Leiche so schnell finden würden«, begann Landman. »Noch fühlen sie sich sicher. Aber wenn sie mitbekommen, dass sie gesucht werden, verlieren wir unseren Vorteil. Keiner verplappert sich also, wenn die Reporter auftauchen. Klappe zu, Affe tot, klar?«

    Zustimmendes Nicken und Gemurmel der Polizisten am Tatort, bevor er fortfuhr: »Calvano und Forrest, ihr beide schwingt eure Hintern zur Redwood Lodge; Tracy, Sie hängen sich ans Telefon. Wir brauchen Infos für eine All Points Bulletin-Suchmeldung: Kreditkartennummern, Daten über den Pkw des Toten, Baujahr, Farbe, Typ, besondere Kennzeichen, Motor- und Fahrgestellnummer, und d-«

    Das Brummen eines nahenden Autos ließ ihn verstummen. Sofort schoss ihm der Gedanke an Reporter durch den Kopf, doch am Steuer des alten GMC-Pickups, der den schlecht befestigten Waldweg hinaufrumpelte, saß nur Sterling Goodyear, ein rundlicher Mann, der meistens eine alte Parka, ein kariertes Hemd, Jeans und abgewetzte Cowboystiefel trug. Goodyear gehörte nicht offiziell zur Polizei von Rockville County, half aber gelegentlich aus, weil seine Hunde die schärfsten Spürnasen der Umgebung waren. Landman kannte ihn von einigen früheren Einsätzen.

    Während der Truck kurz vor der gelb/schwarzen Polizeiabsperrung abbremste und dann durchgelassen wurde, gab Landman den Deputies mit einer Geste zu verstehen, dass sie sich an die Arbeit machen sollten; anschließend beobachtete er, wie Goodyear und seine breitschultrigen Cousins Allan und Gray ihre Tiere, ein Labrador und zwei deutsche Schäferhunde, anleinten und Witterung aufnehmen ließen.

    Na schön, dachte Landman nickend. Die Jagd hat begonnen.

    Knapp vierundzwanzig Stunden nach dem Fund der Leiche betrat Aaron Landman den kargen, auch als »die Schlucht« bekannten Konferenzraum im Hauptquartier des Rockville County Police Departments. Drei Männer und eine Frau warteten bereits in dem lang gezogenen Zimmer ohne Fenster, an dessen Wände Fotos des Tatorts und seiner Umgebung, sowie des Mordopfers gepinnt worden waren. Den Mittelpunkt des Planungsraumes bildete ein breiter Stahltisch, an dessen Kopf der Platz von Sheriff Parks lag.

    Landman nickte den anderen Cops im Raum zu und ließ sich dann neben Dr. Danny Kemp an der Tafelrunde nieder. Kemp war Bezirkspathologe von Rockville County, ein gedrungener, gelinde gesagt zur Behäbigkeit neigender Ire mit wuscheligem, schwarzem Haar und gutmütigen Augen hinter einer schwach vergrößernden Brille. Wie sein sonniges Gemüt war auch Kemps breites Gesicht immer freundlich und sah trotz der langen Nachtschicht, die er hinter sich hatte, so rund, glatt und weich wie ein Babypopo aus.

    »Morgen.« Kemp grüßte seinen Freund, ohne von den Papieren, die er gerade emsig sortierte, aufzusehen. »So wie du aussiehst, bist du letzte Nacht auch nicht unbedingt dazugekommen, deine Augenlider von innen zu betrachten, oder?«

    Aaron Landman (der neben Kemp ziemlich müde und ausgelaugt aussah mit seinen schwarzen Ringen unter den Augen) brummte eine Zustimmung. Tatsächlich hatte er ohne Pause an der Koordination der Fahndung mitgearbeitet und auf die Berichte des Pathologen und der Spurensicherung gewartet; jetzt sehnte er sich nach einem höllischen Kaffee oder einer innigen Umarmung seiner Freundin Margret. Beides würde ihn aufmöbeln, aber leider war nur der Kaffee jetzt realistisch.

    »Greif zu«, lud Kemp ihn ein und schob eine randvolle Henkeltasse, von der Dampf aufstieg, zum Detective hinüber. »Ich weiß nicht, was es für ein Gesöff ist, aber es ist vorschriftsmäßig heiß und stark.«

    »So lange der Löffel alleine darin stehen kann, trinke ich's.«

    Landman nahm das undefinierbare Automatengebräu an sich.

    Als er gerade den ersten Schluck herunterkippte, öffnete sich die Zimmertüre, und der Sheriff zelebrierte einen seiner typischen Auftritte: eine sorgsam inszenierte Choreographie großspuriger Gesten, vom Aufhängen der teuren Lederjacke bis zum Abwischen des Stuhles vor dem Setzen. Robin Parks war achtunddreißig und seit knapp drei Jahren Polizeichef von Rockville, ein großer, schlanker Mann mit distanzierten grauen Augen und elegant zurückgekämmtem dunkelblondem Haar.

    Parks' Vorgänger, Andy Yarborough, hatte nur durch seine Präsenz Vertrauen und Respekt erweckt und als Sheriff wie ein Handschuh zu den redlichen und hart arbeitenden Leuten hier oben gepasst. Groß und vierschrötig, mit dem Herz am rechten Fleck und einer ländlichen, grundehrlichen Art, die ihn immer genau das sagen ließ, was er dachte, war Yarborough für die Menschen von der Straße zugleich Großvater, Vater und großer Bruder gewesen.

    Der strategisch günstig in den Dunstkreis der Tyrrell Industriedynastie eingeheiratete Parks hingegen wirkte in Yarboroughs altem Büro und der Uniform des Bezirkssheriffs völlig fehl am Platze. Fast alle in Rockville fanden, dass Parks eher in einen Designeranzug gepasst hätte, in einem teuren Golfklub Scotch on the Rocks schlürfend, dabei eifrig Smalltalk betreibend und in die breitgesessenen Kehrseiten einflussreicher Lokalgrößen kriechend.

    Doch dieser Eindruck täuschte und trug dazu bei, dass man Parks unterschätzte, was teuer werden konnte. Denn in Wirklichkeit war Robin Parks ein politisch hochambitionierter, von seinem Ehrgeiz getriebener Karrierist, der auf seinem Weg nach oben verbissen hinter jeder Möglichkeit zur Profilierung herjagte und dabei nicht daran dachte, sich von irgendjemand aufhalten zu lassen. Landman, der den wahren Charakter seines Polizeichefs zum Glück schon vor geraumer Zeit erkannt hatte, zweifelte insgeheim nicht daran, dass es Parks eines Tages weit bringen würde (wenn er sich nicht irgendwann überschätzte und an einem zu großen Bissen Machtkuchen verschluckte.)

    »Ich sehe, wir sind komplett«, begann Parks mit seiner sonoren, wie geölten Radiosprecherstimme. »Als erstes wenigstens ein paar gute Neuigkeiten: Ernest Kenwood hat sich bereiterklärt, unser Lufttaxi zu spielen, sollten die Täter gefasst werden. Jetzt zum Aktuellen - Detective Landman, was haben Sie uns über das Opfer anzubieten?«

    Landman nickte und stellte seinen Kaffee auf den Tisch zurück. In diesem Moment wurde ihm zwangsweise mit frustrierender Deutlichkeit eines klar: Wie sehr hatte er sich doch während seiner Entscheidung, sein altes Revier zu verlassen, etwas vorgemacht. Immerhin war es damals nicht zuletzt genau diese unausweichliche, allgegenwärtige Gewalt gewesen, wegen der er sich aus Los Angeles hatte wegversetzen lassen, um in irgendeiner entfernten Stadt, wo er nicht mit jeder Straßenecke Erinnerungen verband, neu anzufangen.

    Doch inzwischen wusste er, dass er auf das älteste Klischee im Buch für dienstmüde Polizisten hereingefallen war ... wie Tausende vor und wohl auch nach ihm. Auch in der scheinbar friedlichsten Umgebung blieb ein Mord einfach ein Mord. Und die Verbrechen in Rockville unterschieden sich für den Polizeidetektiv nur in ihrer geringeren Zahl von jenen, die er vor Jahren in der Stadt der Engel bearbeitet hatte. Sonst blieb alles beim Alten, wenn die Tretmühle erst in Gang gekommen war, so wie jetzt.

    »Der Tote hieß Robert Bauersachs; er wohnte in Santa Rosa, geschieden, ein Sohn aus erster Ehe«, las er aus der Ermittlungsakte, die er auf ein Clipboard geheftet hatte, vor. »Er arbeitete als freier Außendienstmitarbeiter bei einem chemikalischen Großhandelsbetrieb und war hier in Rockville, um Verhandlungen mit Tyrrell Chemicals zu führen. Er wohnte in der Redwood Lodge. Der letzte Zeuge, der ihn lebend gesehen hat, ist ein Mitarbeiter von Tyrrell, mit dem sich Bauersachs zum Abendessen im Steakparadies in der Eureka Avenue getroffen hat. Bauersachs verließ das Restaurant um halb elf und ist nicht mehr im Hotel angekommen, also hat er seine Mörder zwischen halb elf und halb zwölf getroffen. Ungefähr um zwölf wurden ihm die Verletzungen zugefügt, der Tod trat etwa um vier Uhr am Morgen ein.«

    Zu einem Zeitpunkt, als Landman tief und friedlich neben seiner Lebensgefährtin geschlafen hatte. Guter Gott.

    »Bislang haben wir niemand aufgetrieben, der ihn gesehen hat, nachdem er das Restaurant verlassen hat«, fuhr er fort. »Aber die Befragungen dauern noch an, Calvano und Tracy sind noch draußen. Gestohlen wurden jedenfalls der Wagen, ein Mercedes Benz Baureihe 250, Baujahr '94, metallic-grün, seine Amex, Visa und Mastercard und eine bislang unbekannte Summe an Bargeld. Die Kartennummern wurden gekennzeichnet. Sobald jemand damit einzukaufen versucht, bekommen wir Nachricht. Bis dahin bleibt die Nachrichtensperre aufrecht.«

    »Also gut«, sagte Parks. »Was ist mit den Leuten, die die Leiche gefunden haben? Sind sie zuverlässig?«

    Landman rang sich zu einem Nicken durch. Er wusste nicht, ob es an der hektischen Nacht oder aber an der Stimmung lag, die immer ein wenig angespannter wurde, sobald Parks einen Raum betrat. Doch im Moment fühlte er sich, als würde sich das Laufrad, in dem er steckte, ein wenig zu schnell für seinen Geschmack drehen.

    »Die verstehen, warum noch nichts von dem Mord der Presse bekannt gemacht worden ist«, sagte er. »Ich denke, sie halten dicht.«

    »Na ja, hoffen wir es.« Parks tippte mit einem Bleistift gegen seine blitzsauberen, verkronten Vorderzähne. »Haben wir irgendwelche konkreten Spuren am Tatort?«

    »Also, wir haben den Tatort mit Sterlings Spürhunden in einem Umkreis von inzwischen ... äh? ... zwei Meilen durchkämmt«, antwortete Landman, sein schwarzes Haar glänzend im kalten Licht der Neonröhren an der Decke. »Die Umgebung scheint sauber zu sein. Aber was wir haben, sind ein paar fast unversehrte Schuh- und Reifenspuren direkt von der Leichenfundstelle. Daher wissen wir: Es waren mit Sicherheit zwei Täter beteiligt. Der eine - der größere der beiden -, trug am Tatort Stiefel mit stark profilierter Sohle, wahrscheinlich alte Springerstiefel, Größe 46. Sein Komplize trug Turnschuhe Größe 38, ziemlich abgelaufen Der Reifenabdruck gehört zu einem Bridgestone-Reifen, wie sie auf den Mercedes des Opfers montiert gewesen sind. Dazu kommen noch die zwei Fingerabdruckfragmente auf der Brieftasche des Toten.

    Das Problem ist, dass die leider von sehr schlechter Qualität sind, zu verwischt und undeutlich, um sie direkt in den Computer zu jagen. Die Sachen sind gestern Abend zum zuständigen FBI-Labor abgegangen. Da hat man die besseren Apparate und Hilfsmittel, um die Qualität der Prints zu verbessern, Helium-Kadmium-Laser und das ganze Zeug. Die Jungs dort unten sind meistens ziemlich schnell, aber die haben viel um die Ohren. Ich hoffe, dass wir die ersten brauchbaren Resultate irgendwann in den nächsten Tagen erwarten können.«

    »M-hm.« Parks wandte sich ab, auf seinem Gesicht die übliche sphinxhafte Ausdruckslosigkeit. »Doktor Kemp?«

    »Das Opfer hatte keine Drogen oder Alkohol im Blut«, berichtete der Pathologe mit seiner ruhigen, unaufgeregten Stimme. »Seine letzte Mahlzeit vor dem Tod war das Abendessen. Am Kopf hatte er ein paar Kampfspuren. Laut den freien Histaminwerten erlitt er diese Verletzungen unmittelbar vor dem Tod, was wohl bedeutet, dass er zuerst ohne direkten physischen Zwang mit seinen Mördern gegangen ist. Vielleicht wurde er mit einer Waffe bedroht. Dann kam es da oben in dem Wald zu einem Kampf, und dabei wurde er, vielleicht im Kampfgetümmel, angeschossen. Laut des ballistischen Berichts handelt es sich um ein Projektil 6.35mm, abgeschossen aus einer Waffe mit sehr kurzem Lauf. Der Schuss wurde aus kürzestem Abstand zum Körper abgegeben, zehn bis zwanzig Zentimeter. Die Kugel hat zu schweren internen Verletzungen geführt, an denen er verblutet ist. Das hat, wie Detective Landman schon sagte, fast vier Stunden gedauert.«

    Für ein paar Momente herrschte nach dieser Eröffnung unangenehme Stille im Konferenzsaal. Dann klopfte es unerwartet an der Türe, und Shingleton platzte herein.

    »Chef, wichtige Neuigkeiten!«, sagte der Deputy. »Ein Kollege aus Sacramento hat vor einem Imbiss einen verdächtigen Wagen gesehen und überprüfen lassen: Volltreffer, es ist der gesuchte Mercedes. Die beiden Verdächtigen sind noch in dem Lokal. SWAT Sacramento macht sich zum Zuschlagen bereit.«

    Sofort stieß sich Parks aus dem Sessel hoch. Im Vorbeigehen riss er seine teure Lederjacke vom Kleiderhaken an der Türe.

    »Alles klar, Tommy«, sagte er. »Rufen Sie Kenwood an und sagen Sie ihm, er soll seine Kiste anwerfen. Pronto! Detective Landman, ich will Sie dabeihaben. Ich schätze, in ein paar Stunden haben wir alle Antworten, die wir brauchen.«

    Als der glänzende Jeep Cherokee des Sherrifs auf dem lehmigen Boden des Flugfeldes zum stehen kam, wartete Ernest Kenwoods einmotorige Piper Warrior bereits startbereit vor dem Hangar auf die Fluggäste. Nur wenige Minuten später ließ das Flugzeug die Piste in der Nähe von Rockport auch schon hinter sich und steuerte ins Landesinnere.

    Noch vor dem Start hatte Kenwood geschätzt, dass sie für die Strecke von etwas mehr als dreihundertfünfzig Kilometer nach Sacramento um die anderthalb Stunden reine Flugzeit benötigen würden, mögliche Warteschleifen vor der Landung nicht mitgerechnet.

    Landman dauerte dies viel zu lange. Er scharrte mit den Hufen; ungeduldig, gespannt und unruhig. Er wollte so schnell wie nur möglich nach Sacramento, denn immerhin wusste er eines - sobald der Zugriff erfolgt war und sich die Verdächtigen im Polizeigewahrsam befanden, konnte es nicht lange dauern, bis auch Kollegen von den anderen Departments, die nach den Gangstern fahndeten, in Sacramento auftauchen würden. Und dann brach wie immer das übliche Gerangel um Zuständigkeit und Priorität aus. Jedes Präsidium, jede Staatspolizei-Einheit würde geltend machen, dass ihr Fall der wichtigste war und der schnellsten Klärung bedurfte, und, je größer und wichtiger die Stadt war, je mehr Einfluss der Bezirksstaatsanwalt hatte, desto eher würde dieser Behauptung wahrscheinlich geglaubt und nachgegeben werden.

    Eine gute Stunde später rollte die Piper mit Parks und Landman schließlich und endlich auf einem kleinen Sportflughafen außerhalb der City aus. Parks hatte noch nicht einmal seinen Sicherheitsgurt gelöst, als sein Handy piepsend zum Leben erwachte.

    Mit den Zähnen zupfte der Sheriff die Antenne aus dem Gehäuse, drückte das kleine Mobiltelefon ans rechte Ohr und meldete sich mit: »Parks?!« Dann: »Ja, Shingleton ...? Man hat ...? Hervorragend ... okay, 10-4.« Zufrieden nickend schob er das Handy wieder in seine Lederjacke und wandte sich zu Landman um.

    »Wir haben sie im Sack!«, sagte er. »Einer der beiden Verdächtigen hat sich ergeben, der andere hat offenbar die Nerven verloren. Er fuchtelte mit seiner Kanone herum und hat auf das Sondereinsatzkommando geschossen. Die Antwort bekam er von einem Scharfschützen. Er ist auf dem Weg ins Krankenhaus, aber der Notarzt gibt ihm keine allzu großen Chancen.«

    Landman stieß seinen angehaltenen Atem zischend durch die Vorderzähne aus. Er klang halb erleichtert, halb frustriert, als er fragte: »Wissen wir schon, wer die beiden sind?«

    Parks schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Sie bringen den Verdächtigen gerade ins Präsidium.«

    Landman wusste, was in diesem Moment in Sacramento vor sich ging, und er wünschte sich, schon dort zu sein: Etwa zur selben Zeit, in der die Kollegen aus Sacramento begannen, den überlebenden Gangster zu verhören, wurden Kopien der Fingerabdrücke beider Verdächtiger online zum Zentralregister der kalifornischen Staatspolizei und an die Labors des FBI geschickt, um die Identifizierung der undeutlichen Prints von der Brieftasche aus Rockville mit den neuen Vergleichsmustern zu erleichtern. Den Abdrücken folgte eine Kette von Routineprotokollen, Berichten und Meldungen an verschiedene Dienststellen und Departments, sowie Listen der Dinge, die bei den Gangstern gefunden wurden, und die sie möglicherweise mit anderen unaufgeklärten Einbrüchen oder Überfällen in Verbindung bringen konnten.

    Neben einem weißgetünchten Wellblechhangar parkte bereits ein ziviler Polizeiwagen, der die Insassen der Maschine zügig in die Stadt brachte. Im Präsidium des Sacramento Police Departments wurden die Cops aus Rockville von einem glatzköpfigen, schnurrbärtigen Detective Sergeant namens Dale ("Aber nennt mich einfach 'Bubba', das tun alle!") Whittington in Empfang genommen.

    »Der zweite Verdächtige ist vor einer Viertelstunde gestorben«, berichtete der bullige Cop mit den tätowierten Unterarmen, während er Landman und Parks im Laufschritt durch das Gebäude führte. »Hatte wohl keine Chance. Sein halbes Gehirn war feinsäuberlich über den Mercedes verteilt, nachdem der Scharfschütze ihn erwischt hat. Sie müssen sich mal das Einsatzvideo ansehen, das ist heftiger Stoff.« Damit stieß er die Türe zum Nebenraum des vierten Verhörzimmers auf, in dem der Gangster befragt wurde. »Tja, und mit dem anderen Vogel beschäftigen sich gerade zwei meiner Jungs. Hier herein, die Herren.«

    Landman trat so nahe an die Beobachtungsscheibe heran, dass das einseitig durchsichtige Glas von seinem Atem beschlug.

    Und mit einem dumpfen Grummeln im Magen musterte er zum ersten Mal Chris Kessler:

    Der Gauner war vielleicht einsfünfundsechzig groß und auf verschlagene Weise nicht unattraktiv, er hatte kurzes, helles Haar und trug Jeans und ein kariertes Hemd. In den Akten stand, dass Kessler im Juni '66 in Eureka, Kalifornien, geboren wurde. Seine Mutter war Verkäuferin, sein Vater Hausmeister; er hatte eine jüngere und eine ältere Halbschwester. Ohne Highschool-Abschluß ging er Anfang '85 freiwillig zur Army, wo er jedoch nur vier Monate Dienst tat, bis er aus medizinischen Gründen (einem bei der Musterung offenbar übersehenen Herzfehler) entlassen wurde. Es folgte das, was man ein langsames Abrutschen in die Kriminalität nannte: Einbrüche und Hehlerei, hauptsächlich im kalifornischen Norden, aber auch weiter oben in Oregon. Einmal saß er für sechs Monate in Crescent City, weil er nach einem kleineren Ding von zwei festgenommenen Komplizen verpfiffen worden war; ansonsten hatte er immer Glück gehabt, denn die großen Sachen konnten ihm nie nachgewiesen werden.

    »Erst vor ein paar Monaten machte er einen Fehler«, erzählte ‚Bubba’ Whittington und zupfte dabei an seinem buschigen, sandfarbenen Schnurrbart. »Er wollte in eine Wohnung oben in Redding einsteigen, wusste aber scheinbar nicht, dass ein Freund des Besitzers in dem Appartement übernachtete. Es kam zu einem Kampf, und Kessler zog den Kürzeren. Beim Flüchten aus der Wohnung zerriss er sich einen seiner Handschuhe und hinterließ einen wunderschönen Satz blutiger Abdrücke. Typen wie er, die haben 'ne Weile lang Glück, aber dann machen sie erfahrungsgemäß einen Patzer ... wie auch jetzt.«

    »Hat er schon einen Anwalt verlangt?«, fragte Parks.

    »Nee, bislang wollte er noch keinen«, meinte Whittington und verschränkte die Arme. »Um genau zu sein hat er außer seinem Namen noch so gut wie überhaupt nichts gesagt. Aber das dauert wahrscheinlich nicht mehr lange. Viele von denen wollen zuerst den starken Macker markieren. Die glauben, sie kommen mit dieser coolen Unschuldsmasche durch, und irgendwann heulen sie doch nach 'nem Rechtsverdreher.«

    Stumm nickend schlug Landman die Akte zu und wandte sich dem Verhör im Nebenraum zu.

    » ... dein Freund im Krankenhaus hat ausgepackt«, sagte gerade der größere der beiden Cops. Landman erkannte die Phrase sofort als eine jener üblichen Maschen, mit denen bei Verhören gearbeitet wurde.

    »Es geht ihm nicht besonders, aber er hat wenigstens eingesehen, was richtig für ihn war. Wie steht's mit dir, hm?«

    Der Verdächtige brummte eine unverständliche Antwort. Landman fand es schade, die Stimme des Verdächtigen nicht gehört zu haben.

    »Mann, deine Situation könnte echt nicht viel mieser sein«, sagte der kleinere, gedrungene Cop. »Du bist hier wegen Raubmordes, kapierst du das? Wir reden hier nicht mehr nur von ein paar Brüchen. Da kannst du nicht erwarten, glimpflich davonzukommen, nicht mehr. Die ganzen Beweise ... und jetzt auch noch die Aussage deines Kumpels. Weißt du, ich kann dir nichts vorschreiben, sondern dir nur einen guten Rat geben, aber wenn ich dich wäre, dann würde ich jetzt ganz auspacken.«

    Endlich meldete sich Kessler zum ersten Mal zu Wort. Er klang zittrig und gepresst, als er behauptete: »Es war ein Unfall, okay? Ein Unfall. Ich hab' bislang noch nie jemanden erledigt. Auch der Kerl in Rockville könnte noch leben. Ich geb' ja zu, dass ich und Shep ihn ausnehmen wollten, aber wir hatten es nur auf sein Geld und den Wagen abgesehen. Er musste ja den Rambo spielen und mit seiner beschissenen Kanone herumfuchteln. Ich hab' mich nur gewehrt

    »Ja, klar, und wenn ich mich vorbeuge, fliegen mir Schweine aus dem Arsch.« Der größere Cop (laut Whittington war sein Name Joe 'Shooter' Ebsen, der »beste verdammte Schütze jenseits von Frisco") grinste höhnisch. »Mann, du würdest uns doch so gut wie alles erzählen, damit du nicht wegen Mord, sondern nur wegen Totschlag angeklagt wirst, oder? Das zieht bei mir nicht. Spar' dir also diesen Müll. Du hältst mich für 'nen riesengroßen Wichser, klar. Aber glaub' mir, wenn du etwas wirklich Kluges tun willst - das Beste, was du in deiner Situation tun kannst -, dann erzählst du jetzt schön brav die Wahrheit. Ich meine, möchtest du, dass der Richter in deiner Akte ein freundliches 'sehr kooperativ und einsichtig, besonders reuevoll' sieht, oder etwas, das viel weniger positiv klingt, wenn es darum geht, das Strafmaß festzulegen? Das könnte den Unterschied zwischen der Todesstrafe und lebenslanger Haft ausmachen.«

    »Und du weißt, was das bedeutet, oder?«, fragte Benny Lemke, der kleinere Cop, und nahm den Faden übergangslos von seinem Partner auf. Alleine an diesem Detail erkannte Landman, dass die beiden Kollegen ihre Horror-Show schon zum Erbrechen oft durchgekaut hatten: »Zehn, fünfzehn Jahre in dieser winzigen, kahlen Todeszelle. Und dann die Gaskammer. Stell' dir das Geräusch vor, das sie macht, wenn sie sich zum letzten Mal schließt ... und die Leute werden applaudieren, sobald endlich die Cyanidpille fällt ... Sie werden klatschen und johlen und eine Party feiern, während du erstickst. Lustig, was?«

    Kessler drückte seine Hände gegeneinander, wahrscheinlich um zu verbergen, dass sie zitterten. Etwas an seiner Art, an seinen Augen irritierte Landman, auch wenn er noch nicht sagen konnte, was es war.

    »Ich hab' noch nie jemanden umgebracht«, versicherte der Ganove erneut. »Das ist nicht mein Stil, ich will ja nicht mal was mit Rauschgift zu tun haben. Ich mache Brüche, und ab und zu zocke ich reiche Typen ab, denen so was nicht weh tut. Das ist alles

    Diese Worte hallten durch Landmans Kopf wie hartnäckiges Husten durch einen lautlosen Konzertsaal. Er wandte sich ab.

    »Kann ich mit Kessler sprechen, wenn Ihre Jungs fertig sind?«, fragte er.

    »Tun Sie sich keinen Zwang an, Kumpel«, meinte Whittington mit einer einladenden Handbewegung. »Lemke und Ebsen sind jetzt schon seit zwei Stunden da drinnen - vielleicht tut diesem Vogel eine kleine Luftveränderung ganz gut. Beeilen Sie sich, bevor die Staatspolizei und die anderen Departments antanzen und Kessler für sich wollen.«

    Der Detective nickte und verließ den Raum.

    Kurz darauf sahen Parks und Whittington, wie Landman das Verhörzimmer betrat. Dort schaltete er das grelle Deckenlicht aus und ließ nur eine kleine Schreibtischlampe, die er auf den Boden stellte, brennen. Schließlich schob er den Tisch zur Seite und rutschte den zweiten Stuhl, der noch angewärmt von Ebsens massiger Kehrseite war, zu Kessler hinüber.

    »Was soll denn das werden?«, fragte Whittington verdutzt.

    »Er weiß schon, was er tut«, sagte Parks.

    Whittington überlegte kurz. »Sagen Sie, ist er eigentlich der Aaron Landman ... ich meine, der Typ, der damals der Partner von Paul Teravainen gewesen ist?«

    Robin Parks nickte und verschränkte die Arme. »Sie wissen ja, was damals passiert ist? Der Key-West-Ripper?«

    Whittington murmelte eine Zustimmung.

    »Teravainen ging alleine in die Halle, wo sich Vance Bloch versteckt hielt, und ich glaube, jeder weiß, was Bloch mit ihm gemacht hat«, sagte Parks. »Landman hatte in einer anderen Spur ermittelt und ist zu spät gekommen. Er fühlt sich immer noch schuldig deswegen.«

    Whittington nickte stumm. Danach starrten die beiden Cops aufmerksam und abwartend durch die Spiegelglasscheibe.

    »H allo, Mister Kessler«, sagte Aaron Landman mit distanzierter Freundlichkeit und stellte sich vor.

    »Mann, was wollen Sie denn jetzt noch?« Kessler klang zugleich genervt und argwöhnisch. »Ihre Kumpels waren ziemlich gründlich.«

    »Sie meinen Tarzan und Jane mit ihrer Guter-Cop-schlechter-Cop-Nummer, die schon 1946 aus der Mode kam?« Landman machte eine abfällige Geste in Richtung der Türe. »Das war nicht gründlich, das war der übliche voreingenommene Scheiß, der gar nichts bringt.«

    »Was ... was wollen Sie denn dann?« Kessler schien seinen Argwohn gegen schlichte Verwirrung eingetauscht zu haben.

    »Mich nur mit Ihnen unterhalten, das ist alles. Ihre Seite der Geschichte erfahren«, erläuterte Landman leise, fast im Flüsterton, und beugte sich ein wenig vor. »Was können Sie verlieren, außer ein paar Minuten? Sie können sicher sein, dass ich Ihnen zuhöre. Denn ich möchte Sie verstehen. Wenn Sie ehrlich zu mir sind, haben Sie so was wie einen Verbündeten. Aber nur dann. Ansonsten überlasse ich Sie wieder den Officers Dick und Doof von vorhin. Sie haben die Wahl, Chris. Die oder ich?«

    »Sie«, antwortete Kessler nach kurzem Überlegen.

    »Gute Wahl, Chris. Sie haben nur eine Chance, also versuchen wir es mit etwas einfachem. Erinnern Sie sich an Ihre Kindheit? Ihre Familie?«, fragte er mit zugewandter Stimme. »Spielkameraden? Freunde? Was ist mit Ihrem Vater? Wie sind Ihre Erinnerungen an ihn?«

    »Äh - was?« Der Verdächtige schüttelte den Kopf, als hätte er nicht verstanden.

    »Pech gehabt.« Stumm erhob sich Landman und ging zur Türe.

    »He, warten Sie, Mann«, sagte Kessler. »Schon gut - nein, ich erinnere mich nicht an meinen Vater, okay? Ich war erst zwei, als er draufging. Er ist besoffen eine Treppe in der Schule 'runtergefallen, wo er gearbeitet hat.«

    Landman blieb stehen – in beunruhigend kurzer Entfernung zur Ausgangstüre - und verschränkte die Arme. »Haben Sie Ihre Mutter gemocht? Hat sie Sie gemocht und gut behandelt?«

    Kessler seufzte. »Was soll dieser ganze Mist?«, sagte er. »Sind Sie einer von diesen Psychofritzen, die einem sagen, dass man Lust gehabt hätte, seine Mutter zu vögeln und deshalb zum Verbrecher wird, oder wie?«

    »Hatten Sie je Lust dazu? Und wenn ja, warum?«, erkundigte sich Landman unbeeindruckt und mit einer Ruhe, die Kessler sofort jeglichen Wind aus den Segeln nahm.

    »Ich kapiere Sie nicht«, brummte der Gangster und starrte seine jetzt im Schoß liegenden Hände an. »Ich bin kein so gebildeter Kerl.«

    »Dann beantworten Sie die Frage, die Sie beantworten können. Das genügt mir völlig.« Landmans Stimme war leise und eindringlich, aber ihr Unterton war endgültig und ließ keinen Widerspruch mehr zu, wie eine Tür, die zugeschlagen und verschlossen wurde. »Und sehen Sie mir genau in die Augen, wenn Sie mit mir reden. Wie war ihre Mutter?«

    »Sie hat viel gearbeitet.«

    »Sie hat also nicht viel Zeit für Sie gehabt?«

    »Sie hatte viel um die Ohren ... sie musste für mich, meine Schwestern und unsere Großmutter, die auch bei uns gewohnt hat, sorgen. Aber ich hab' sie respektiert. Ehrlich.«

    »Hat sie Sie geschlagen?«

    »Nicht was Sie denken, Sie hat mir ab und zu mal eine 'runtergehauen, aber nur, wenn ich es verdient hatte.«

    Landman setzte sich wieder. »Woher wussten Sie, wann Sie es verdient hatten und wann nicht? Konnten Sie das von selbst unterscheiden, oder hat sie es Ihnen gesagt?«

    »Sie ... sie hat's mir gesagt«, sagte Kessler, der sich immer unbehaglicher zu fühlen schien. »Und ich wusste es auch. Denke ich.«

    »Damals wussten Sie es also?! Wieso nicht mehr heute, erklären Sie's mir?«

    »Mann, ich hab' keine Ausbildung, die wollten mich ja nicht mal bei der Army«, sagte Kessler. »Irgendwann musste ich mich alleine durchschlagen, weil ich nicht verhungern wollte. Es ist einfach etwas, das ich tue, okay? Wenn man Geld braucht, fragt man sich nicht, ob das Recht oder Unrecht ist. Aber ich habe nie jemanden umgebracht, das habe ich schon hundertmal gesagt. Shep und ich wollten einfach nur das Geld und den Wagen, aber auf einmal hatte der Typ eine Kanone ...«

    »Darüber haben wir nicht geredet, aber wenn Sie wollen, nehmen wir das Thema auf. Sie sagen also, dass Ihnen bislang nichts anderes übrig geblieben ist, als früher oder später das zu tun, was Sie tun. Habe ich das richtig verstanden, Sie hatten nie eine andere Wahl? Hatten Sie da oben im Wald vielleicht auch keine andere Wahl? Ist es wirklich ein so großer Unterschied, in die Wohnung von jemand einzusteigen, oder eine Kanone zu nehmen und jemanden wegzupusten? Kann es nicht sein, dass man auch da keinen Unterschied mehr machen will, wenn man dringend Kohle braucht?«

    Für ein paar Momente schien Kessler nicht zu wissen, was er sagen sollte und druckste um Worte ringend herum.

    »Nein ... ich meine ... das ist ...« stammelte er. »Shep und ich waren da oben, um diesen Kerl auszunehmen. Das alles gebe ich ja zu, okay? Wir waren schon eine Weile im Norden und wir brauchten Bares und einen Wagen, um wieder nach Süden zurückzukommen. Also haben wir ihn uns geschnappt. Es war Zufall, dass wir ausgerechnet ihn erwischt haben; er hatte sich verfahren, und ich habe mich angeboten, ihm den Weg zu zeigen. Später ließ ich Shep einsteigen, und dann sind wir in diesen Wald gefahren, wo ich diesen Macker fesseln und ruhigstellen wollte. Aber ich wollte ihn wirklich nicht umbringen. Es hätte ganz schnell gehen können. Ich meine, der Kerl war doch garantiert versichert. Es wäre doch kein beschissener Verlust für ihn gewesen. Aber auf einmal hatte er diese Kanone in der Hand, er muss sie irgendwo im Wagen gehabt haben, und rannte auf mich zu. Also habe ich mich gewehrt, und dabei ... dabei löste sich ein Schuss. Der Kerl schrie und wälzte sich auf dem Boden hin und her ... aber es war ein Unfall! Hören Sie?«

    »Ja, ich höre zu. Aber nur so lange, bis ich denke, dass du mir eine Lüge erzählst. Dann ist es vorbei.« Nach dieser Ermahnung blieb Landman still, ließ Kessler einfach reden.

    »Ich ... ich kriegte einfach Panik«, fuhr der Gauner mit bleichem Gesicht fort. »Ich hab' noch nie jemanden so schreien hören. Ich wollte ja was tun, aber ich wusste nicht, was. Hätte ich die Bullen rufen sollen? Dann ist er auf einmal still geworden, hat nur noch gewimmert. Die Zunge hing' ihm heraus, wie bei einem Hund. Ich wollte nur noch weg ... Also sind Shep und ich so schnell wir konnten mit dem Wagen verschwunden und haben ihn ... na ja, liegengelassen. Das war mies, Scheiße, aber ich konnte nicht anderes. Ich wollte nur noch weg von da oben. Die Waffe hab' ich saubergemacht und irgendwo bei Eureka in einen Fluss geworfen.«

    Immer noch wortlos sah Landman sein Gegenüber an.

    »Das ist die Wahrheit, Mann«, versicherte Kessler und verkrampfte wieder seine Hände ineinander.

    »Vielleicht glaube ich Ihnen, Chris.« Landman nickte langsam, stand auf und schob den Stuhl an den Tisch zurück. Dann ließ er Kessler alleine. Für heute hatte er genug gehört und gesehen.

    Bis weit nach Mitternacht wartete Landman ungeduldig auf Neuigkeiten, was die Nachforschungen der Cops in den anderen Städten ergeben hatten, und tauschte dabei belanglose Erinnerungen und Anekdoten mit zwei alten Kollegen aus L.A. aus. Dann erwischte ihn schließlich der tote Punkt, gegen den er schon seit Stunden angekämpft hatte, mit der Wucht und Wirkung einer gegen seinen Kopf krachenden Bowlingkugel.

    Gähnend hatte er Bubba Whittington gefragt, wo man hier für ein paar Minuten die Augen zumachen könnte, und rollte sich dann in seine Jacke gehüllt auf einem quietschenden, nach verschüttetem Bier, Kaffee und Zigarettenrauch muffelnden Sofa in einem abgelegenen Nebenraum auf der zweiten Etage zusammen.

    Doch der Nachhall des turbulenten Tages ließ ihn zunächst keine Ruhe finden, obwohl er verrückterweise zu müde war, um die Augendeckel offen zu halten. Mit irgendwelchen wirren Bildern und wie ein Bienenschwarm umhersurrenden Gesprächsfetzen im Kopf nickte Landman schließlich ein, glitt fast übergangslos in einen

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