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Seelenfrost
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eBook471 Seiten6 Stunden

Seelenfrost

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Über dieses E-Book

Es beginnt im Nebel - und endet im Feuer
Der Fall scheint erledigt. Alle Indizien sprechen dafür, dass der Herumtreiber Stig Hansen einen Geschäftsmann und ein junges Mädchen umgebracht hat. Doch den Polizeiermittler David Lieberman plagen Zweifel an Hansens Schuld. Entgegen aller Vernunft folgt Lieberman seiner Intuition ... und entdeckt eine Spur, die ihn auf die Fährte eines unheimlichen Phantoms bringt: Ein Serienmörder ist in Norrestad unterwegs. Für Lieberman und seinen drogensüchtigen Ex-Partner, den Zielfahnder Spencer Lockhart, beginnt ein dramatischer Wettlauf gegen die Zeit, um das Leben eines verschwundenen Mädchens zu retten.

SEELENFROST - eigenwillig, abgründig und finster wie die Nacht. Ein neues, haarsträubend spannendes Thriller-Meisterwerk von Sascha André Michael, dem Autor von Die Frequenz der Angst und Morgenmenschen.

Der erste Band der Norrland-Trilogie ...
Eine fremdartige Stadt im Nebel
Zwei gequälte Seelen
Fünf Menschen im Bann einer erbarmungslosen Mordserie.
SEELENFROST
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum29. Nov. 2017
ISBN9783746051222
Seelenfrost
Autor

Sascha André Michael

Der Legende nach begann Sascha André Michael noch im Mutterleib beim Klang einer Schreibmaschine aufgeregt zu zappeln und seine Mutter mit Tritten zu erfreuen. Ob er es zu diesem Zeitpunkt schon ahnte oder nicht, so würde ihn dieses Geräusch sein ganzes Leben lang verfolgen und definieren. Denn - das müssen Sie unbedingt wissen - Sascha Andre Michael hat sich das Schreiben nicht ausgesucht. Es hat ihn ausgesucht und ließ ihm nie eine andere Wahl, als zu schreiben, schreiben, schreiben. Schon als kleiner Junge hackte er zahllose Kurzgeschichten in die riesige Triumph-Schreibmaschine seines Großvaters, während andere Kinder draußen waren und ... nun ja, irgendwelche Dinge taten, die man als Kind ebenso tut. Und derweil andere Jugendliche Dinge taten, die man eben als Jugendlicher so tut, erforschte Sascha André Michael die Abgründe der menschlichen Seele und recherchierte über Serienmörder und Profiler. Letztlich gesehen hat sich daran bis heute nichts geändert. Selbst die Triumph-Schreibmaschine existiert noch und wird benutzt. Und das ist wahrscheinlich gut so. Seit seinen ersten Veröffentlichungen in den 1990er Jahren haben seine Artikel, Romane, Novellen, Kurzgeschichten, Reportagen und Werbetexte genug Leser gegruselt, unterhalten und mental gekitzelt, dass er sich zu einem Geheimtipp der Thrillerszene entwickelt hat. Heute lebt der Sprachenlehrer und ausgebildete Securityfachmann mit seiner Lebensgefährtin in Bukarest, Rumänien, bleibt aber seiner Ulmer und Nürnberger Heimat weiterhin innig verbunden. Er ist überzeugter Veganer und hat »einen seltsamen Humor« (Zitat eines Bekannten.)

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    Buchvorschau

    Seelenfrost - Sascha André Michael

    For my L-angel, in forever love!

    Happy, happy bug, coffef and kisslings.

    Every great love has its own language.

    Ours is forever growing.

    Inhaltsverzeichnis

    Richtung Norrland

    Erster Teil: Jagdzeit

    1. Kapitel

    2. Kapitel

    3. Kapitel

    4. Kapitel

    5. Kapitel

    6. Kapitel

    7. Kapitel

    8. Kapitel

    9. Kapitel

    10. Kapitel

    11. Kapitel

    12. Kapitel

    13. Kapitel

    14. Kapitel

    15. Kapitel

    Zweiter Teil: Angleichung

    16. Kapitel

    17. Kapitel

    18. Kapitel

    19. Kapitel

    20. Kapitel

    21. Kapitel

    22. Kapitel

    23. Kapitel

    24. Kapitel

    25. Kapitel

    26. Kapitel

    27. Kapitel

    28. Kapitel

    29. Kapitel

    30. Kapitel

    31. Kapitel

    Dritter Teil: Schadensbegrenzung

    32. Kapitel

    33. Kapitel

    34. Kapitel

    35. Kapitel

    36. Kapitel

    37. Kapitel

    38. Kapitel

    39. Kapitel

    40. Kapitel

    41. Kapitel

    42. Kapitel

    43. Kapitel

    44. Kapitel

    Vierter Teil: Liebestod

    45. Kapitel

    46. Kapitel

    47. Kapitel

    48. Kapitel

    49. Kapitel

    50. Kapitel

    51. Kapitel

    52. Kapitel

    53. Kapitel

    54. Kapitel

    55. Kapitel

    56. Kapitel

    57. Kapitel

    58. Kapitel

    59. Kapitel

    Im Zustand der Gnade

    Richtung

    Norrland

    »Kommt mit«, sagte der Hahn. »Etwas Besseres

    als den Tod werden wir überall finden!«

    (Gebrüder Grimm, die Bremer Stadtmusikanten)

    Mein Herz denkt an dein Wort:

    Sucht mein Angesicht!

    Dein Angesicht, Herr,

    will ich suchen.

    (Psalme 27,8)

    Sowohl der legendäre Pacific Coast Highway Nummer 1 wie auch die von der Bevölkerung The One-Oh-One genannte Staatsstraße 101 beginnen ihren Weg im südkalifornischen Orange County.

    Während der Highway 101 jedoch schon kurz hinter Santa Barbara ins Landesinnere abbiegt, folgt die State Route 1 der zerklüfteten kalifornischen Küstenlinie weiterhin so dicht, wie sich eine Straße nur an einer Küste entlangwinden kann. Erst bei Rockport, knapp 320 Kilometer hinter San Francisco, lässt auch sie den pazifischen Ozean zurück und vereinigt sich schließlich nahe der kleinen Ortschaft Leggett wieder mit dem Highway 101. Wenn einem danach ist (und man über genug Geld, Zeit und Benzin verfügt), kann einen der One-Oh-One nun auf malerische Weise über Oregon und Washington bis an die kanadische Grenze bringen.

    Vorher jedoch, nur wenige Meilen hinter einem formlosen nordkalifornischen Siedlungsgebiet namens McKinleyville, geschieht immer etwas Seltsames. So manchem Reisenden fällt die Veränderung zunächst nicht auf; Menschen mit einem wachen Blick für die Umgebung bemerken sie sofort. Aber irgendwann, nachdem man die Grenze zwischen Humboldt und Norrland County passiert hatte, beschleicht jeden Ortsfremden das eigentümliche Gefühl, mehr als nur die Trennlinie zweier Landkreise hinter sich gelassen zu haben. Wenige Minuten später ist man schließlich überzeugt, unbemerkt einen Sprung auf einen anderen Kontinent gemacht zu haben.

    Der One-Oh-One (an dieser Stelle nicht mehr als eine stark gewundene, zweispurige Landstraße) führt nun durch kleine Ortschaften namens Ottenby, Norrköping oder Halmstadt, deren postkartenhaftes Erscheinungsbild von Holzhäusern mit Sprossenfenstern dominiert wird. Auf einmal enden alle Straßennamen mit -gatan oder -väg, in seltenen Fällen auch –gate.

    Außerdem sieht sich der Reisende unverhofft einer fast völligen Dominanz von Volvos und Saabs, von Sisu oder Scania-Lastwagen gegenüber, und die Verkehrsampeln stehen vor den Kreuzungen und nicht dahinter. Die Wandlung hat auch die Namen der Läden (»Ilonas liten butiksstil«), Büros, Esslokale (»Halmstadt Restaurang«) und sogar der Zeitungen in ihren kleinen roten Verkaufsboxen (»Norrland Dagblad« oder »Allmänna Aftonbald«) erfasst. Ein überwiegender Großteil der Passanten ist nun auffällig blond und begrüßt einen, je nach Jahreszeit, mit einem lässig-sommerlichen oder eher herbstlichen, introvertierten »Hej!«

    Zuletzt versagen sämtliche Mobiltelefone jählings ihren Dienst. Die Funkwellen scheinen auf einmal von unsichtbaren Barrieren abzuprallen oder von der gebirgigen Gegend einfach verschluckt zu werden.

    An diesem Punkt hat man bereits fast alle äußeren Kreise durchquert und nähert sich dem Herz von Norrland County, der größten skandinavischen Enklave außerhalb von Skandinavien.

    Dem Mythos nach hat dieser einzigartige Fleck seinen Ursprung im Jahre 1875. Björn Hedlund, ein aus Uppsala stammender Aussiedler, hatte – so sagte die Legende – seine gesamten Ersparnisse einem windigen Makler anvertraut und war betrogen worden. Anstatt der versprochenen Goldmine erwarteten ihn, seine Frau und seine drei Kinder am Ziel ihrer beschwerlichen Reise nur Bäume. Doch anstatt zu verzweifeln hatte Hedlund beim Anblick der Meeresbucht, an der er buchstäblich gestrandet war, eine mächtige Vision: er würde hier eine Zuflucht und neue Heimat für alle betrogenen, vom Schicksal gebeutelten und in die USA verschlagenen skandinavischen Emigranten erbauen. Damit keimte dieses nordische Utopia an der kalifornischen Küste, unmittelbar neben einem riesigen Indianerreservat. Jeder echte Norrlander hatte Hedlunds Mythos schon mit der Muttermilch aufgesogen und verbreitete ihn stolz von Generation zu Generation.

    Zwar hält sich die Legende beachtlich dicht an die tatsächlichen Begebenheiten, jedoch ist die wahre Geschichte nicht ganz so romantisch. Der Betrug des Maklers hatte zwar stattgefunden, in Wirklichkeit jedoch war Hedlunds anschließende »Vision« eher geschäftlicher als humanitärer Natur gewesen. Als Baumfäller mit jahrelanger Erfahrung sah er sofort das Potential dieser Gegend: das raue, an Skandinavien erinnernde Küstenklima, die günstige Lage und die immensen Wälder, jene scheinbar nie versiegende Rohstoffquelle, die bescheidenen Wohlstand und Arbeit für viele Menschen versprach.

    Hedlund sollte Recht behalten. In kürzester Zeit folgten seinem Ruf zahllose weitere skandinavische Kolonisten und bauten sich hier eine neue, sichere Existenz auf.

    So gedieh im Laufe der Jahre jener Mikrokosmos, der mit RYDELL OMNISTRIES nicht nur einen Weltkonzern, sondern auch eine komplett autarke Kultur und Infrastruktur aufweisen kann. Die hymnischen, heimatverklärenden Bücher und Lyrikbände des in Ottenby geborenen und lebenden Schriftstellers Carl-Åke Hammar gehören im Landkreis zur Allgemeinbildung. Skulpturen und Gemälde von Lasse Landsvogd aus dem Fiskhamn-Viertel zieren Behörden, öffentliche Plätze und betuchte Privathaushalte. Songs der Norrestader Band Vägvisning werden auf den zwei schwedischsprachigen sowie dem norwegischen Radiosender des Landkreises fast pausenlos in den Äther geschickt. Sechs Zeitungen in den Landessprachen verbreiten täglich ihre gedruckten Nachrichten. Und für flimmernde Zerstreuung und Belehrung sorgen zwei lokale Fernsehprogramme, die durchweg skandinavischsprachige Programme ausstrahlen, auf denen die Filme manchmal jedoch anders enden, als es Ortsfremde in Erinnerung haben mögen.

    Obwohl die goldenen Zeiten der Enklave längst vorbei sind, gibt es in Norrland County heute immer noch achtzigtausend Einwohner. Davon ist die überwiegende Mehrheit schwedischer Herkunft. Den Rest teilen Norweger, Dänen, Finnen und eine Handvoll unverdrossener Nichtskandinavier unter sich auf. Die verschiedenen Akzente in ihren Stimmen hegen und pflegen die Norrlander mehr als nur stolz, fast schon trotzig, um sich nicht nur optisch, sondern auch akustisch vom Umland abzusondern.

    Norrestad, die größte Stadt und Verwaltungssitz des Landkreises, ist das Epizentrum der Gegend. Allerdings ist die an eine tropfenförmige Bucht (die Hedlundvik) hingesprenkelte Stadt auf den ersten Blick auch von verblüffend zwiespältigem Eindruck. Sie besitzt wunderbar schmale Sträßchen mit Kopfsteinpflaster, ein paar echte Sehenswürdigkeiten (etwa die Träbro, eine hölzerne Hängebrücke) und versprüht direkt an der Küste den typisch rauen Charme ehemaliger Fischereistädte. Andererseits ist ausgerechnet ihre City ein Inbegriff von Langeweile und Farblosigkeit, der einen ernüchtert und aller Magie beraubt zurückließ. Dabei ist die schmucklose Funktionalität des Ortskerns einfach nur ein gegenständlicher Ausdruck der stoischen und praktischen Seite seiner Bewohner.

    Ebenso wirkt die Decke aus bleischwerem Küstennebel, die oftmals des Nachts über Norrestad kroch, für Außenstehende auf den ersten Blick trist und melancholisch. Tatsächlich ist sie jedoch eine Manifestation von Verschlossenheit und Stille, die den Einheimischen alles andere als unwillkommen ist. Denn bei aller oberflächlichen Freundlichkeit spürt man dennoch stets, dass man hier als krasser Außenseiter (als so genannter Jenseitiger, irgendeiner von »jenseits der Landkreisgrenze«) in einer insularen, hermetisch abgeschlossenen Gesellschaft voll Misstrauen, unverständlicher Bräuche und Traditionen gelandet ist. Diese Segregation geht so weit, dass die Norrlander im Laufe der Zeit sogar eine eigene Sprache hervorgebracht haben: »Norrspråk«, eine obskure Verquickung englischer und hauptsächlich schwedischer Bruchstücke, die nur an diesem einen Ort gepflegt wird.

    Der allgegenwärtige Nebel lässt scharfe Konturen verschwimmen und teilt; er deutet nur an, anstatt zu zeigen – genau wie es das auch die Gegend und ihre Menschen tun.

    Die Enklave präsentiert Fremden eine hübsche Fassade mit ihren sauberen Straßen, roten Holzhäusern, weißen Sprossenfenstern und blauen Dächern. Ihre Schandflecken und Abgründe jedoch verbirgt sie in wenig zugänglichen Vierteln am Stadtrand oder hinter Sichtblenden.

    Die Norrlander selbst verschleiern ihre Gefühle, Geheimnisse, Gerüchte und Rituale sogar noch sorgsamer, manche vor sich selbst, alle aber vor den Blicken Fremder oder Unbefugter (wobei im Grunde genommen beinahe jeder fremd und unbefugt war, der nicht zu den Eingeborenen zweifelsfrei Norrlander Abstammung gehörte). Das Mädchen verdrängt seinen Schmerz und versucht, ein normales Leben zu leben; der alte Mann, der aus seinem Rollstuhl heraus die Welt an sich vorbeifließen sieht, unterdrückt seinen qualvollen Hunger; der Junge flüchtet sich vor der tristen Realität in seine Fantasie; und der Polizist erstickt seine Frustration in Routine und Abstumpfung.

    Die Norrlander leben bewusst oder unbewusst allesamt in Einklang mit ihrer Enklave und ihren Prinzipien.

    Doch seit einiger Zeit befällt eine verdrießliche Unruhe die Menschen. Zunächst war es noch unmerklich, doch nun scheint es, als hätten sich der Pulsschlag und das Atmen des Landstriches klammheimlich beschleunigt. Die Atmosphäre wurde plötzlich von einer dunklen elektrischen Energie erfüllt, die an die Vorahnung eines aufziehenden Sturmes erinnerte.

    Und genau dies war auch der Fall: Tatsächlich zieht ein Sturm auf. Jedoch ist dieser Sturm kein Wetterphänomen. Er tobt schon seit Jahren in den Köpfen der Menschen.

    Sein Höhepunkt beginnt fast unsichtbar – mit einem Mündungsblitz im nebligen Wald.

    Wochen später endet alles im Feuer.

    Erster Teil

    Jagdzeit

    3. Dezember bis 28. Januar

    Darkness, darkness be my pillow

    Take my hand and let me sleep

    In the coolness of your shadow

    In the silence of your deep

    Darkness, darkness hide my yearning

    For the things I cannot see

    Keep my mind from constant turning

    To the things I cannot be

    Darkness, darkness be my blanket

    Cover me with this endless night

    Take away, oh, this pain of knowing

    Fill this emptiness with light

    (Darkness Darkness, Jesse Colin Young)

    1. Kapitel

    Die Nachricht, dass ein paar Forstarbeiter im Söderskog Redwood Park nahe Borenshult eine Leiche gefunden hatten, erreichte David Lieberman noch am Frühstückstisch. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand hatte er die unfassbar öde einzige englischsprachige Lokalzeitung Norrlands überflogen und dabei versucht, sich allmählich und ohne viel Widerstreben in diesen Tag hinein zu stehlen. Doch aus allmählich wurde an diesem Morgen, wie schon so oft, abrupt. Keine Stunde später stand er bereits im Inneren eines ungleichmäßigen Vielecks, gesponnen aus Absperrungsbändern.

    Geduldig wartete er ab, während zwei Hilfspolizisten den Tatort und seine Umgebung mit Kameras dokumentierten und sich dabei größte (wenn auch manchmal vergebliche) Mühe gaben, einander nicht in die Quere zu kommen. Er wirkte wie eine nachdenkliche Insel inmitten der lärmenden Betriebsamkeit, mit der die uniformierten Kollegen der Polisen Norrland (offiziell als Norrland County Sheriff Department bekannt, obwohl hier niemand diese Bezeichnung je benutzte) den ehrwürdigen Wald heimsuchten. Fast hätte man meinen können, all dies hier würde ihn gar nichts angehen und er wäre nur ein distanzierter Beobachter. Wenn es jedoch etwas gab, das David Lieberman nicht war, dann distanziert oder gar nur ein Beobachter. In Norrland war er das Rückgrat jeder Ermittlung.

    Als er seine feingliedrigen Hände in puderbestäubte Latexhandschuhe zwängte, war dies sein Startsignal. Augenblicklich schaltete er in seinen Kriminalistenmodus und begann zu funktionieren.

    Zunächst filterte er das Offensichtlichste aus der Flut von visuellen Eindrücken: Der Tote war weiß, zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt und etwa einsfünfundachtzig groß. Zusammengekrümmt und bleich lag der Mann auf dem bemoosten Waldboden. Strähnen von aschfarbenem Haar klebten feucht und schmutzig an seiner Stirn. Alles an ihm schrie geradezu: Ich bin ein Ortsfremder. Er war kein Tourist, sondern ein Geschäftsreisender, das war für Lieberman offensichtlich.

    Die kleine, sternförmige Einschusswunde im Oberbauch des Opfers hatte nur wenig geblutet. Eine Austrittswunde war bei der ersten Sondierung nicht auszumachen. Auch wenn erst die Autopsie Sicherheit bringen würde, war es nach Liebermans Erfahrung wahrscheinlich, dass die verwendete Waffe ein ziemlich kleines Kaliber hatte und die Schussverletzung ein innerliches Verbluten nach sich zog. Dafür sprach auch die schmerzgekrümmte Haltung, in der das Opfer schließlich gestorben war.

    Anschließend fuhr Lieberman mit den Fingern in Jacken- und Hosentaschen des Toten. Dort förderte er ein Streichholzbriefchen mit Werbung eines Chemiegroßhänders namens Dyson Chemical Marketing aus Kansas City zutage, eine sorgfältig zusammengefaltetes Papierserviette und eine Schlüsselkarte der Lövtred Lodge, eines Mittelklassehotels am Stadtrand. Ein paar Telefonnummern und Vornamen waren in Ermangelung eines Notizzettels auf die Serviette gekritzelt worden. Erste Puzzleteile, nicht mehr.

    David Lieberman wollte gerade wieder aufstehen, als ihm jemand auf die Schulter klopfte. Es war Chief Deputy Tom Kristensen, nach Polizeichef Eklund der zweitwichtigste Mann der uniformierten Polisen Norrland.

    »Hej, Inspektor. Landgren hat die Brieftasche des Toten gefunden.« Kristensen deutete auf das Unterholz etwa zwanzig Meter nördlich der beiden, wo jetzt eine kleine Fahne mit der Markierungsnummer '12' im Boden steckte. Mit seiner gedrungenen Ringkämpferstatur und dem strohblonden Bürstenhaarschnitt wirkte Kristensen zwar plump, tatsächlich war er aber ein ungemein agiler, sensibler und cleverer Polizist der guten Schule.

    Zudem war der Kristensen einer der wenigen echten Norrlander Polizisten, bei denen Lieberman nicht das Gefühl hatte, noch in hundert Jahren nur ein leidlich geduldeter Jenseitiger zu sein, ein Zivilbulle ohne Zugang zur Kaste der Uniformierten, dem jede Bindung zum Landkreis und seinen unverrückbaren Traditionen fehlte. Lieberman hatte sich stets abseits der Massen bewegt. Daher hatte er es auch nie drauf angelegt, auf Teufel komm raus integriert zu werden; zumal war es damals sein eigener Wunsch gewesen, an diesen sonderbaren Fleck versetzt zu werden. Folglich hatte er seinen Sonderstatus immer akzeptiert. Und dennoch konnte es auch in selbst gewählter Isolation ungemütlich und kühl werden.

    Lieberman entdeckte kein Bargeld, als er das Portemonnaie des Mordopfers untersuchte, nur noch ein paar einsam im Seitenfach klimpernde Cents. Die Einschübe für die Kreditkarten waren ebenfalls geplündert worden. Führerschein und Pass steckten noch in ihren Klarsichtfächern und lauteten auf den Namen Robert Elton. Der Tote hatte nun eine Identität.

    Lieberman ließ die Brieftasche (gestern noch ein höchst privater Gebrauchsgegenstand und jetzt ein kaltes, unpersönliches Beweisstück) in einen transparenten Plastikbeutel fallen und verschloss die Hülle sorgsam. Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob er sich wieder aus der Hocke.

    Das Tuckern eines nahenden Autos machte ihn misstrauisch. Ihm spukte der Gedanke an Reporter durch den Kopf. Doch am Steuer des rostigen Lieferwagens, der den schlecht befestigten Waldweg hinaufrumpelte, saß nur Björn Göransson, der trotz seiner gutmütigen Natur und tiefer Wurzeln in Ottenby wie ein trink- und waffenfreudiger Redneck aus dem Bibelgürtel im Süden der USA aussah.

    Björn Göransson gehörte Norrlands einzige Hundeschule. Er war zwar kein offizielles Mitglied der Polisen Norrland, seine Vierbeiner waren jedoch die schärfsten Spürnasen der Gegend, weswegen man ihn häufig bei Such- oder Rettungsaktionen zu Hilfe holte.

    Kurz darauf beobachtete Lieberman, wie Göransson und sein glatzköpfiger Cousin Rönn ihre Tiere – ein Labrador und zwei deutsche Schäferhunde – anleinten und dann Witterung aufnehmen ließen. Dabei wurde ihm klar, dass er und die Hunde einiges gemeinsam hatten. Für sie alle hatte die Jagd nun begonnen, und von ihrem Riecher hing so vieles ab. Nur dass am anderen Ende seiner Leine Polizeichef Eklund darauf wartete, in welche Richtung sich alles bewegen würde.

    2. Kapitel

    Als sich Lieberman knapp vierundzwanzig Stunden nach dem Fund von Robert Eltons Leiche auf die Morgenbesprechung vorbereitete, deutete nichts auf die Zäsur hin, die ihm und ganz Norrland in Kürze bevorstand. Noch bewegte sich die junge Ermittlung auf denselben, routinierten Bahnen wie stets.

    Eine volle Dokumentenmappe unter den Arm geklemmt, einen dampfenden Pappbecher mit Kaffeeersatz aus dem Automaten in der Hand, betrat David Lieberman den Konferenzraum des hässlichen Hauptquartiers der Polisen Norrland. Er war der erste in der fensterlosen Kammer, an deren Wände Fotos des Tatorts und seiner Umgebung, sowie des Mordopfers gepinnt worden waren. Den Mittelpunkt des Zimmers bildete ein langer, rechteckiger Metalltisch mit Glasplatte, dem der Bereich seinen sarkastischen Spitznamen »der Wintergarten« verdankte.

    Lieberman ließ sich längsseits an der Tafel nieder. Er wusste aus Erfahrung, dass die Sitze links und rechts von ihm unweigerlich frei bleiben würden, sofern nicht der Bezirkspathologe Gavin Tyce oder Chief Deputy Kristensen zu der Gruppe stießen. Normalerweise nutzte Lieberman diese Tatsache, um seinen Kram auf den leeren Stühlen abzuladen, heute jedoch würde er Gesellschaft haben.

    Der Gerichtsmediziner Gavin Tyce war die interessanteste und wahrhaftig herausragendste Gestalt jedes Norrlander Ermittlungsstabs. Er überragte selbst Polisassistent Claas Björk, das mit seinen einsneunzig größte Mitglied der Polizeitruppe, um fast einen Kopf. Doch im Gegensatz zu Björk war Tyce so grotesk dürr, dass seit Jahren ein Witz bei den Norrlander Polizisten die Runde machte: Wenn man den Leichenschänder Tyce so ansah, könnte man meinen, eine Hungersnot sei ausgebrochen; und wenn man die Walze Björk so ansah, war man überzeugt, er sei der Grund dafür. Sogar Lieberman fand, dass Tyce rein optisch einem jener vielgliedrigen und spindeldürren Insekten glich, die sich als Pflanzenzweige tarnen konnten. Aber dieser hutzelige Körper beherbergte ein grundsolides und ansprechendes Individuum. Nicht zuletzt weil die beiden zu einer in Norrestad und Umgebung höchst selten anzutreffenden ethnischen Minorität gehörten – Menschen, die weder einen skandinavischen Namen noch skandinavische Vorfahren aufweisen konnten – hatten Lieberman und der Pathologe inzwischen einen guten Draht zueinander entwickelt.

    »Guten Morgen«, sagte Tyce. Er musterte Lieberman von oben bis unten und hob die Augenbrauen. »Na ja, wobei ich das mit dem ‚gut’ mal so stehen lasse. Ich hab im Labor Präparate in Formaldehyd herumstehen, die wesentlich lebendiger aussehen als Sie, werter Polisinspektör

    David Lieberman wusste, dass Tyce Recht hatte. Er hatte dunkle Halbmonde unter den Augen, und sein ohnehin asketisches Gesicht wirkte wächsern und zermürbt. Er brummte eine Antwort, halb Zustimmung, halb Verwünschung, bevor er einen großen Schluck aus seinem Pappbecher nahm. Augenblicklich schüttelte es ihn, als habe er eine Aspirintablette ohne Wasser geschluckt.

    »O Scheiße!«, stieß er hervor. »Was kommt aus diesem Automaten? Erbrochenes?«

    »Huch!«, sagte Tyce und beugte sich neugierig über den Becher, um dessen Inhalt in Augenschein zu nehmen. »Aber wenigstens ist es kostenloses Erbrochenes mit Milch.«

    »Was haben wir doch für Glück«, sagte Lieberman.

    In diesem Moment zelebrierte Polizeichef Rasmus Eklund einen seiner Auftritte: eine sorgsam inszenierte und subtil vorgetragene Choreographie von Gesten, die Macht demonstrieren sollten, vom Aufhängen der teuren Lederjacke bis zum Zurechrücken und Abwischen des Stuhles vor dem Setzen.

    Eklunds Vorgänger, Polismästere Kenneth Petterson, hatte nur durch seine Präsenz Vertrauen und Respekt erweckt. Als Polizeichef hatte er wie ein Handschuh zu den eigentümlichen, aber redlichen und hart arbeitenden Leuten hier oben gepasst. Groß und vierschrötig, mit dem Herz am rechten Fleck und einer ländlichen, grundehrlichen Art, die ihn immer genau das sagen ließ, was er dachte, war »Kenny« für die Menschen von der Straße zugleich Großvater, Vater und großer Bruder gewesen. Nicht zuletzt war eine Einladung von Petterson der Grund gewesen, wieso sich Lieberman ausgerechnet für diesen nicht gerade alltäglichen Ort entschieden hatte, um nach dem Desaster in Florida neu anzufangen.

    Eklund, achtunddreißig und seit knapp drei Jahren (nach offizieller Bezeichnung) Sheriff von Norrland County, war das komplette Gegenteil von Kenneth Petterson. Polischef Eklund war ein mittelgroßer, schlanker Mann mit grauen Augen. Stets perfekt durchgestylt auftretend, wirkte der strategisch günstig in den Dunstkreis der traditionsreichen Norrlander Industriefamilie Rydell eingeheiratete Eklund selten wie ein echter Polizist. Viel eher glich er einer Mischung aus charismatischem Fernsehevangelist und neoliberalem Lobbyisten. Ging es darum, Wähler zu mobilisieren, konnte Eklund eine persönliche Sogwirkung und einen Charme an den Tag legen, der fast schon hypnotisch war. Dann verwandelte er jedes schlichte Rednerpodest in eine große Bühne.

    Doch ihn darauf zu reduzieren und zu unterschätzen war ein Fehler. Denn Eklund hatte durchaus Talent für Polizeiarbeit, wenn auch hauptsächlich für die politische und repräsentative Seite des Jobs. Dies war seine Welt. Die praktische Hälfte – die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung, der Kontakt mit den Bürgern - war für ihn nur eine Sprosse auf seiner Karriereleiter, wenn auch eine wichtige, die seinem Lebenslauf später ein großes Maß an Glaubwürdigkeit und Tiefe verleihen würde, sobald es um höhere Aufgaben ging. Und genau das war es, was für diesen ambitionierten, von seinem beträchtlichen Ehrgeiz voran gepeitschten Karrieristen zählte: höhere Aufgaben. David Lieberman zweifelte nicht daran, dass es Eklund eines Tages weit bringen würde, wenn er sich nicht irgendwann überschätzte und an einem zu großen Bissen Machtkuchen verschluckte.

    »Guten Morgen, die Herren«, sagte Eklund mit seiner sonoren, geölten Radiosprecherstimme. »Wie ich sehe, sind wir komplett und können beginnen. Also, Inspektor Lieberman, was haben Sie uns zu erzählen?«

    Lieberman nickte und stellte seinen kostenlosen Becher Erbrochenes mit Milch auf den Tisch zurück. In diesem Moment wurde ihm zwangsweise mit frustrierender Deutlichkeit eines klar: Wie sehr hatte er sich doch während seiner Entscheidung, sein altes Revier zu verlassen, etwas vorgemacht. Immerhin war es nicht zuletzt genau diese unausweichliche, allgegenwärtige Gewalt gewesen, wegen der er sich aus Los Angeles hatte wegversetzen lassen, um in irgendeiner entfernten Stadt, wo er nicht mit jeder Straßenecke Erinnerungen verband, neu anzufangen. Doch inzwischen wusste er, dass er auf das älteste Klischee im Buch für dienstmüde Polizisten hereingefallen war, so wie Tausende vor und nach ihm. Auch in der scheinbar friedlichsten Umgebung blieb ein Mord einfach ein Mord. Und die Verbrechen in Norrland County unterschieden sich für den Polizeidetektiv nur in ihrer geringeren Zahl von jenen, die er vor Jahren in der Stadt der Engel bearbeitet hatte. Sonst blieb alles beim Alten, wenn die Tretmühle erst in Gang gekommen war.

    Routiniert las er alle über das Mordopfer zusammengetragenen Daten aus seinem Dossier ab: Robert J. Elton aus Fresno, geschieden, ein Sohn. Als freier Außendienstmitarbeiter bei einem Großhandelsbetrieb für Edelgase hatte er in Norrland Verhandlungen mit der Chemiesparte von RYDELL OMNISTRIES geführt. Er nächtigte in der Lövtred Lodge. Ein Abteilungsleiter von RYDELL OMNISTRIES’ Chemiesdivision, mit dem sich Elton zu einem informellen Abendessen in einem Steakhaus in der Strömgatan getroffen hatte, war - bislang - die letzte Person, die Elton gesehen hatte. Aber Landgren und Björk waren noch draußen, um nach weiteren Zeugen zu suchen. Elton verließ das Restaurant um halb elf und war nicht mehr im Hotel angekommen, also hatte er seine Mörder zwischen halb elf und halb zwölf getroffen. Ungefähr um ein Uhr Morgens wurden ihm die Verletzungen zugefügt. Der Tod trat etwa drei Stunden später ein.

    »Gestohlen wurden sein Wagen, ein Ford Taurus, Baujahr '97, metallic-grün, seine Kreditkarten - Amex, Visa und Mastercard - und eine bislang noch unbekannte Summe an Bargeld«, fuhr Liebermann fort. »Die Kartennummern wurden gekennzeichnet. Sobald jemand damit einzukaufen versucht, bekommen wir natürlich Nachricht. Ernest Lassberg wird unser Lufttaxi, wenn sich im weiteren Umkreis etwas tut.«

    »Gut.« Eklund nickte. »Die Nachrichtensperre steht noch?«

    »Bislang wie eine eins«, sagte Lieberman.

    »Und die Arbeiter, die die Leiche gefunden haben? Sind die zuverlässig? Oder könnte das ein Problem werden?«

    Lieberman rang sich zu einem betont ruhigen Kopfschütteln durch. Er wusste nicht, ob es an seiner unruhigen Nacht oder aber an der Stimmung lag, die immer ein wenig angespannter und ehrgeiziger wurde, sobald Eklund einen Raum betrat. Doch im Moment fühlte er sich, als würde sich das Laufrad, in dem er steckte, ein wenig zu schnell und unrund drehen.

    »Die verstehen, warum noch nichts von dem Mord der Presse bekannt gemacht worden ist«, sagte Lieberman. Sein schwarzes Haar glänzte im kalten Licht der Neonröhren an der Decke, ein ungekämmter Tupfer der Finsternis neben Tyces Rotschopf und den mannigfaltigen Blondtönen um ihn herum. »Die halten dicht.«

    Eklund tippte mit einem Bleistift gegen seine blitzsauberen, verkronten Vorderzähne. »Schön, haben wir irgendwelche konkreten Spuren am Tatort?«

    Lieberman gab den aktuellen Stand wieder: Inzwischen hatte man den Tatort mit Lester Göranssons Spürhunden in einem Umkreis von zwei Meilen durchkämmt. Die weitere Umgebung schien sauber zu sein. Aber was sie hatten, waren ein paar fast unversehrte Schuh- und Reifenspuren direkt von der Leichenfundstelle. Demnach waren mit Sicherheit zwei Täter beteiligt, der größere und schwerere trug am Tatort Stiefel mit stark profilierter Sohle, wahrscheinlich alte Springerstiefel, Größe 46. Sein Komplize trug Turnschuhe Größe 43, ziemlich abgelaufen. Der Reifenabdruck gehörte zu einem Bridgestone, wie sie auf den Ford des Opfers montiert waren. Dazu kamen noch Fingerabdruckfragmente auf der Brieftasche des Toten, die jedoch von mieser Qualität waren, zu verwischt und undeutlich, um sie direkt in den Computer zu jagen. Die Beweisstücke waren noch gestern Abend zum zuständigen FBI-Labor in Sacramento abgegangen, wo man die nötigen Apparate und Hilfsmittel hatte, um die Qualität der Abdrücke zu verbessern.

    »Das Opfer hatte keine Drogen und nur eine geringe Menge Alkohol im Blut«, begann Tyce anschließend. »Seine letzte Mahlzeit vor dem Tod war das Abendessen: ein Pfeffersteak, Kartoffelspalten, Salat, ein Light Beer dazu. Er hatte diverse Verletzungen, also Abschürfungen, Quetschungen, Hämatome und oberflächliche Schnitte, typische Nahkampfspuren. Laut den freien Histaminwerten erlitt er diese Verletzungen unmittelbar vor dem Tod, was wohl bedeutet, dass er zuerst ohne direkten physischen Zwang mit seinen Mördern gegangen ist. Vielleicht wurde er mit einer Waffe bedroht. Dann kam es da oben in dem Wald zu einem Kampf und dabei wurde er angeschossen. Die nahe Schussdistanz und der schiefe Eintrittswinkel der Kugel machen es ziemlich wahrscheinlich, dass der Schuss im Kampfgetümmel abgegeben wurde. Laut des ballistischen Berichts handelt es sich um ein Projektil 6.35mm, abgeschossen aus einer Waffe mit sehr kurzem Lauf, einer typischen Taschenpistole. Die Kugel hat wenig oberflächliche, aber schwere interne Verletzungen verursacht, an denen er innerlich verblutet ist. Kein schönes Ende, wirklich nicht. Armer Kerl.«

    Liebermans Erfahrung hatte ihn also nicht getäuscht. Für ein paar Momente herrschte unangenehme Stille im Konferenzsaal. Dann klopfte es unerwartet an der Türe, und Kristensen erschien.

    »Boss, wichtige Neuigkeiten!«, sagte er. »Der Wagen des Opfers wurde gesichtet.«

    »Wo?« Eklund setzte sich ruckartig auf.

    »In Sacramento, vor einer Fressbude. Das Lokal ist umstellt.«

    Zackig stieß sich Eklund aus dem Sessel hoch. Im Vorbeigehen riss er seine edle Lederjacke vom Kleiderhaken an der Türe.

    »Alles klar, Tommy«, sagte er. »Rufen Sie Ernest Lassberg an und sagen Sie ihm, er soll seine Kiste anwerfen. Lieberman, Sie begleiten mich!«

    Der bullige Volvo V70 XC des Polizeichefs bremste abrupt auf dem Vorfeld des Haupthangars aus Wellblech, wo Ernest Lassbergs blau-gelb lackierte Piper Warrior bereits auf die Fluggäste wartete.

    Lassberg war Berufspilot, Vollprofi und einer der ruhigsten und ausgeglichensten Männer, den Lieberman je getroffen hatte, ein Charakterzug, der in Lassbergs Job nur von Vorteil sein konnte. Zu Lassbergs kleinem, aber erfolgreichem Kurierflugdienst namens Norrland Air Service gehörten ein Bell Jet Ranger Hubschrauber und zwei Flugzeuge, jene Piper Warrior, in der Lieberman und der Polizeichef nun Platz nahmen, sowie eine klassische, perfekt in Schuss gehaltene zweimotorige Cessna 402b für Fracht- oder Charterflüge auf längeren Strecken.

    Nur wenige Minuten später ließ das Flugzeug die Piste in der Nähe von Ottenby auch schon hinter sich und steuerte ins Landesinnere. Vor dem Start hatte Lassberg geschätzt, dass sie für die Strecke von etwas mehr als dreihundertfünfzig Kilometer nach Sacramento um die anderthalb Stunden reine Flugzeit benötigen würden, mögliche Warteschleifen vor der Landung nicht mitgerechnet. Lieberman war dies viel zu lange. Er scharrte mit den Hufen, war ungeduldig, gespannt und unruhig. Er wollte so schnell wie möglich nach Sacramento.

    Sobald der Zugriff erfolgt war und sich die Verdächtigen im Polizeigewahrsam befanden, würden Kopien der Fingerabdrücke beider Verdächtiger online zum Zentralregister der kalifornischen Staatspolizei und an die Labors des FBI geschickt, um die Identifizierung der undeutlichen Prints von der Brieftasche aus Norrland mit den neuen Vergleichsmustern zu erleichtern. Den Abdrücken folgte eine Kette von Routineprotokollen, Berichten und Meldungen an verschiedene Dienststellen und Departments, sowie Listen der Dinge, die bei den Gangstern gefunden wurden und die sie möglicherweise mit anderen unaufgeklärten Einbrüchen oder Überfällen in Verbindung bringen konnten. Und dann würde es nicht lange dauern, bis das übliche Gerangel um Zuständigkeit und Priorität ausbrach. Jedes Präsidium, jede Staatspolizei-Einheit würde geltend machen, dass ihr Fall der wichtigste war und der schnellsten Klärung bedurfte. Je größer und wichtiger die Stadt war, je mehr Einfluss der Bezirksstaatsanwalt hatte, desto eher würde dieser Behauptung wahrscheinlich geglaubt und nachgegeben werden.

    Zwei endlose Stunden später rollte die Piper auf einem kleinen Flugfeld außerhalb von Sacramento aus. Am Ende der Rollbahn parkte bereits ein ziviler Polizeiwagen, der Lieberman und den Polischef zügig in die Stadt brachte. Das Präsidium des Sacramento Police Departments lag an der Ecke Freeport Boulevard und 35te Avenue. Hier wurden die Polizisten aus Norrland County von einem glatzköpfigen, schnurrbärtigen Detective Sergeant namens Jerry Bronski (»Aber nennt mich einfach Trigger, das tun alle!«) in Empfang genommen.

    Während er Lieberman und Eklund im Laufschritt durch das Gebäude führte, unterrichtete Bronski seine Kollegen über das, was in der Zwischenzeit geschehen war.

    »Okay, wir hatten den Diner umstellt«, sagte er. »Unsere Jungs haben zugegriffen, als die beiden den Fressschuppen verlassen haben. Einer der beiden hat sich sofort ergeben, der andere hat die Nerven verloren, als unsere Jungs ankamen, er fuchtelte mit einer Kanone herum und ballerte in die Luft. Die Antwort bekam er von einem unserer Scharfschützen, und das war keine freundliche. Er ist auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Hatte wohl keine Chance. Sein halbes Gehirn war feinsäuberlich über den Wagen verteilt.«

    Lieberman stieß den Atem zischend durch die Vorderzähne aus. »Sein Komplize wird gerade verhört?«, fragte er.

    »So ist es – das sehen wir uns jetzt an«, sagte Bronski und stieß die Türe zum dunklen Nebenraum des Verhörzimmers auf. »Hereinspaziert, Kollegen.«

    Lieberman trat so nahe an die Beobachtungsscheibe heran, dass das einseitig durchsichtige Glas von seinem Atem beschlug. Mit einem dumpfen Pulsieren im Magen sah er zum ersten Mal jenen Mann, der den unaufhaltsamen Strudel der Ereignisse in Gang gebracht hatte, was in diesem Moment allerdings noch niemand ahnen konnte.

    Mit seinem Dreitagebart, den zotteligen, ungekämmten Haaren und ungewöhnlich hellen, misstrauischen Augen war Stig Hansen durchaus attraktiv, wenn auch auf eine verschlagene Art und Weise. Im Moment trug er ausgeblichene Jeans, ein rotkariertes Holzfällerhemd und weiße Sneakers. Seine ganze Körpersprache zeigte Schock und dass er mit dem Rücken zur Wand stand, was er durch Trotz und cooles Gehabe zu kaschieren versuchte.

    Lieberman schlug das Dossier auf, das Bronski ihm überreicht hatte. Die polizeilichen Datenbanken hatten folgendes über Stig Martin Hansen ausgespuckt: Geboren am ersten Juni 1966 in Norrestad. Sieh an, dachte Lieberman, ein heimisches Nachtschattengewächs. Schulabbrecher. Trat mit achtzehn Jahren freiwillig der US Army bei, wo er jedoch nur vier Monate Dienst tat, bis bei einer Routineuntersuchung ein während der Musterung offenbar übersehener Herzfehler entdeckt wurde. Er musste die Armee verlassen und geriet in ein typisches, langsames Abrutschen in die Schwerkriminalität. Er begann mit Einbrüchen und Hehlerei, wobei es ihn immer wieder in seine alte Heimat Norrland zurückzog. Einmal saß er für sechs Monate in Crescent City, weil er nach einem kleineren Ding von zwei Komplizen verpfiffen worden war; ansonsten hatte er immer Glück gehabt. Kleinkaliber wie Hansen hatten erfahrungsgemäß eine Weile lang Glück, bevor dieses Glück eben irgendwann aufgebraucht war. Die unweigerliche Bruchlandung war dafür umso härter.

    »Hat er schon einen Anwalt verlangt?«, fragte Eklund.

    »Nee, bislang wollte er noch keinen«, meinte Bronski und verschränkte die Arme. »Um genau zu sein hat er außer seinem Namen fast gar nichts gesagt. Aber das dauert wahrscheinlich nicht mehr lange. Viele von denen lassen zuerst den starken Max raushängen. Die glauben, sie kommen mit dieser coolen Unschuldsmasche durch, aber irgendwann heulen sie doch nach einem Rechtsverdreher.«

    Stumm nickend schloss Lieberman Hansens Akte wieder und widmete sich dem Verhör im Nebenraum.

    Die beiden Kollegen aus Sacramento arbeiteten bieder, und sie benutzten die ältesten Tricks aus dem Buch. Sie konfrontierten ihn damit, dass ihn sein schwer verletzter Kumpel noch verpfiffen hätte (ein Bluff), appellierten an sein Gewissen (ein Fehlgriff) und schilderten ihm seine drohende Zeit in der Todeszelle und der Hinrichtungskammer in Stereo und Technicolor (ein peinliches Klischee). Vorsintflutlich, urteilte Lieberman über die Verhörmethoden der Kollegen. Zeitverschwendung. Dieses ganze Gesums brachte nur standardisierte Antworten und verbissenen Trotz als Reaktion auf altherkömmliche Fragestellungen. Er hatte genug gesehen und wandte sich ab.

    »Kann ich mit Hansen sprechen, wenn Ihre Jungs fertig sind?«, fragte er.

    »Tun Sie sich keinen Zwang an, Kumpel«, sagte Bronski mit einer einladenden Handbewegung. »Vielleicht tut diesem Vogel eine kleine Luftveränderung ganz gut. Beeilen Sie sich, bevor die Staatspolizei und

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