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Mirabels Entscheidung: Roman
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eBook246 Seiten4 Stunden

Mirabels Entscheidung: Roman

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Über dieses E-Book

Der junge Javier Torzek steht gemeinsam mit seiner Mutter Mirabel im Januar 1979 im Hamburger Hafen. Beide werden mit einem alten Frachter nach Venezuela fahren. In ein Land, dem Mirabel vor zwanzig Jahren unfreiwillig den Rücken kehrte, um in Deutschland einen wichtigen Punkt im Familienplan zu erfüllen – sich einen wohlhabenden Mann zu angeln. Stattdessen heiratete sie den mittellosen Deutschlehrer und Journalisten Hanns Torzek.
Ihre chaotische Beziehung bildet den Mittelpunk von Manuel Karaseks Debütroman "Mirabels Entscheidung". Er beschreibt die Fremdheit und die soziale Unsicherheit, die diese Ehe prägen. Beide versuchen, auf unterschiedliche Weise das grundlegende Gefühl von Fremdheit abzulegen und ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Dabei werden die Gegensätze ihres Hintergrunds deutlich: Hier das wohlhabende, hochmoderne Industrieland, in dem Hanns Karriere machen wird. Dort eine junge lateinamerikanische Gesellschaft, die das unerwartete Geschenk ihres Erdölreichtums allmählich als Fluch begreift.
Manuel Karasek erzählt in diesem großen Familienporträt von kleinen Hoffnungen und großen Träumen, schildert das Leben zwischen zwei Kulturen und wirft die Frage auf, wo "Heimat" ist.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum20. Feb. 2017
ISBN9783957322548
Mirabels Entscheidung: Roman

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    Buchvorschau

    Mirabels Entscheidung - Manuel Karasek

    Manuel Karasek

    Mirabels Entscheidung

    Roman

    1

    Als Javier Torzek elf Jahre alt war, fuhr er zusammen mit seiner Mutter, der fast vierzigjährigen Mirabel Mendoza, auf einem Schiff nach Venezuela. Es war der Januar 1979, eine sibirische Wetter­lage hatte Europa regelrecht vereist. Im Hamburger Hafen sahen er und seine Mutter den Frachter Caracas anlegen. Sie hörten die Matrosen, die mit den letzten Handgriffen des Manövers auf Deck beschäftigt waren, die Kälte verfluchen.

    Das Schiff, das zwei Drittel seines Volumens für den Ex- und Import von Waren benötigte und das letzte Drittel an Platz für Menschen und Maschinen bereithielt, gehörte einem venezolanischen Unternehmen. Eine von Mirabels zahlreichen Schwestern – es handelte sich um Isabel – arbeitete in Caracas als Sekretärin für jene Firma, die über eine große Flotte verfügte. Angehörige von Mitarbeitern konnten kostengünstig eine der vielen Gäste­kabinen buchen.

    Schon einmal hatte Mirabel diese Möglichkeit genutzt, 1972, als die eheliche Harmonie zwischen ihr und Hanns wieder mal empfindlich gestört gewesen war. Mehrere Wochen lang waren Javier und seine Mutter über den Atlantik geschaukelt. Tatsächlich hatte er eine Erinnerung an dieses Erlebnis. Irgendjemand – vielleicht der Kapitän oder der erste Offizier – hatte ihn an eines der Bull­augen im Speisesaal gehoben, damit er das Spektakel eines wütend Wellen schlagenden Ozeans bestaunen durfte.

    Mirabel hatte Hanns Torzek 1958 kennengelernt. Das war lange her. Sie war damals achtzehn Jahre alt gewesen. Er hatte gerade ­seinen vierundzwanzigsten Geburtstag hinter sich gebracht, sein Studium abgeschlossen und einen Job in einer Sprachschule in Brilon ergattert, die wohlhabenden Ausländern Deutsch-Crashkurse anbot.

    Mirabel war von ihrer Familie zu einer ihrer Schwestern, Flora, die einen reichen Mann aus Deutschland geheiratet hatte, nach Bad Godesberg geschickt worden. Auf den ersten Blick wirkte der Trip nach Europa wie eine Studienreise. In Bonn hätte sie Klavierunterricht erhalten und nebenbei eine, wenn nicht sogar mehrere Fremdsprachen lernen sollen – außerdem stünde sie unter der Obhut ihrer Schwester Flora, die als besonnener und strategisch denkender Mensch galt. Doch ein zweiter Blick verriet, dass der Zweck ihrer Reise ein anderer war. Im Propellerflugzeug der Lufthansa saß im März 1958 ein hübsches Mädchen, das eine kurze, aber durchaus glanzvolle Karriere als Schönheitskönigin und Fernsehstarlet hinter sich hatte und einen gewaltigen Titel mit nach Europa schleppte: Sie war in Caracas zur Miss Amazonas gekürt worden. So kam eine Schönheitskönigin in das graue und puristische Nachkriegsdeutschland.

    Mirabels Familie war mittellos. Es war gerade drei Jahre her, da war ihr Vater, den sie sehr geliebt hatte, an den Folgen einer schweren Asthmaerkrankung gestorben. In den Zwanzigerjahren hatte Venezuela zwei Millionen Einwohner, die noch nicht begriffen, welch unglaubliche Menge Öl unter ihren Füßen sprudelte. Der aus Kolumbien stammende Mendoza hatte sich damals in Maracay als Schneider niedergelassen, weil die venezolanische Militärregierung ihren Sitz in diese staubtrockene Stadt verlegt hatte – und hier die Aussicht bestand, Geld zu verdienen. Hinter der Stadt begannen die Llanos, die weiten und heißen Ebenen Venezuelas.

    In der venezolanischen Geschichte hatten die Regierungen aus wechselnden militärischen Cliquen bestanden, ein Erbe der spanischen Kolonialherren, aber auch eine Folge der Befreiungskriege während der napoleonischen Epoche. Simón Bolívar war der Nationalheld und Übervater Venezuelas, für viele war er bedeutender als Jesus. Die Unabhängigkeit zahlreicher lateinamerikanischer Länder hatte Simón Bolívar jedoch mit Waffengewalt erzwungen – und von dem düsteren Zauber der Kriege und Gewalttaten kamen diese jungen Länder schließlich nicht mehr los: Sie blieben Diktaturen. Hinzu kam: Das dünn besiedelte Land war seit jeher ein Verbund von Machos mit katholischen Überzeugungen und einem ländlich geprägten Weltbild. In dieser Nation waren Frauen, wenn sie nicht aus begüterten Verhältnissen stammten, entweder Huren oder Ehefrauen.

    1926 heiratete Jorge Mendoza die schöne Blanca Cruz, deren Eltern – ohne einen Cent ihr Eigen nennen zu können – um 1890 von den kanarischen Inseln nach Venezuela emigriert waren. Blanca und ihre Schwestern verdienten ihr Geld als Schneiderinnen, zogen ihre Haupteinnahmen aber aus ihrem Dasein als Mätressen. Sie waren die Geliebten von Offizieren und wohlhabenden Bürgersprösslingen. Blanca verschwieg ihren Kindern später, wie sie als junge Frau gelebt hatte.

    Von 1927 bis 1940 setzte sie zwölf Kinder in die Welt – acht davon überlebten und wurden alt. Mirabel war das jüngste Kind. Währenddessen prosperierte Jorge Mendozas Schneiderei, die Familie wurde wohlhabend. Alles ging gut. Als jedoch der alte Mendoza erkrankte und daraufhin seine Geschäfte schlecht liefen, setzte eine ungünstige ökonomisch-soziale Kettenreaktion ein. Um seine Familie vor dem Ruin zu retten, setzte er alles auf eine Karte und verkaufte die Schneiderei. Der Erlös des hastigen Verkaufs jedoch sicherte der Familie gerade mal das moderate Überleben für ein Jahr, dann begann die Armut.

    Um 1948 gab es in Venezuela kein staatliches soziales Netz. Setzte der Verarmungsprozess ein, dann stürzte man ins Bodenlose. Inzwischen hatte die um das Dreifache gewachsene Bevölkerung begriffen, welche Möglichkeiten ihnen ihre Bodenschätze boten, doch sie hatte mit den Nebeneffekten nicht gerechnet. Im Nachbarland Kolumbien brach der Bürgerkrieg aus, welchem man den Namen »La Violencia« – »Die Gewalt« – verleihen würde. Immer mehr Kolumbianer strömten in das friedliche und reiche Venezuela.

    Doch der Reichtum war nur für wenige da. Die gesellschaftlichen Strukturen waren auf eine kleine Bevölkerung ausgelegt, die patriarchalisch geprägt war und sich an einer Handelsform orientierte, wie das die Stadtstaaten Hamburg und Bremen im frühen 19. Jahrhundert getan hatten. Die riesigen Ölvorkommen aber schläferten die kaufmännische Energie der Bürger ein, weil man sich von den Quellen eine unbeschwerte, sorgenfreie Existenz versprach. Venezuela wurde zu einem reinen Import-Land, das fast jede Ware aus den USA und Europa bezog. Die Industrie, soweit vorhanden, verkümmerte, die einst blühende Landwirtschaft ebenfalls. Der Wandel von einer Handelsgesellschaft mit überblickbarem kaufmännischen Raum zu einem Industriestaat, der maschinell Massenprodukte herstellte und nun in den abstrakten, von Konkurrenz geprägten Weltmarkt eintrat, vollzog sich ungleichmäßig und nahm groteske Züge an.

    Die venezolanische Staatsidee lebte letztlich vom Mythos des starken Caudillos. Simón Bolívar, der lateinamerikanische Napoleon, hatte ein verheerendes geistiges Erbe hinterlassen. Noch immer versprachen sich die Venezolaner vom starken Mann an der Spitze des Staates, dass er wie ein gütiger Familienpatron alle Angelegenheiten regelte und die Kräfte des Schicksals kanalisierte. Kurzfristig hatte es um 1948 halbherzige demokratische Reformversuche gegeben. Doch wie in der übrigen Welt gab es auch in Venezuela linke, sozialistische Kräfte, die eine radikale Umstrukturierung der Gesellschaft forderten. Damit wuchsen die Ängste der Konservativen und Rechten. Unter General Pérez Jiménez putschte das Militär. Im Zuge seiner Alleinherrschaft nutzte der Staat die enormen Einnahmen aus dem Ölverkauf und verwandelte die in einem Tal liegende Hauptstadt Caracas, in deren Architektur größtenteils noch der provinzielle Charme der ehemaligen spanischen Kolonialverwaltung schlummerte, in eine von Abrisswut dominierte Baustelle. Die plötzliche und ausufernde Nutzung der Materialien Beton und Stahl war aber nicht allein dem Bauboom und der Aufbruchstimmung zuzuschreiben, sondern war auch eine improvisierende Maßnahme gegenüber einer nicht mehr kontrollierbaren Bevölkerungsexplosion. An den Hügeln der Stadt wuchsen die Slumgürtel.

    Als sich immer stärker ein depressiver Zug bei Jorge Mendoza bemerkbar machte, der sich aufgrund seiner starken Asthmaerkrankung kaum noch bewegen konnte – selbst kurze Spaziergänge führten zu Atemnot, und regelmäßig wiederkehrende Erstickungsanfälle machten deutlich, an welch dünnem Faden sein Leben hing –, nahm Blanca die Geschicke der Familie in die Hand. Sie entschied, in die Nähe ihrer Schwestern zu ziehen, die mittlerweile in Caracas in wohlhabenden Verhältnissen wohnten. Sie war sich sicher, dass sie ihr in der größten Not beistehen würden. Die älteren der Schwestern Mirabels – Flora, Elvira und Amalia – würden in Caracas leichter als in Maracay Arbeit finden. Es bekamen auch alle Arbeit, die allerdings nicht gut entlohnt wurde. Sie verdingten sich als Sekretärinnen oder arbeiteten im Verkauf. Die beiden Söhne – Jorge Manuel und Juan Daniel – verschonte man von dieser Maßnahme, weil sie Männer waren; und als solche sollten sie studieren. Ihr möglicher gesellschaftlicher Aufstieg war eine Investition in die Zukunft. So begann Jorge Manuel, ein Jahr jünger als Elvira, in Caracas ein Jurastudium.

    Der Umzug führte dazu, dass das wacklige Gleichgewicht in der Familie ins Kippen geriet. Flora und Amalia, die als Siebzehn-, Achtzehnjährige von den Eingriffen am stärksten betroffen waren, hielten die Krankheit des Vaters für nicht so gravierend. Sie warfen ihm Verantwortungslosigkeit vor und unterstellten ihm zu schauspielern. Die Situation wurde zusätzlich dadurch verschärft, dass die Mendozas in eine Parterrewohnung ziehen mussten, die sich in einem erbärmlichen Zustand befand. Die Wände faulten, ­Ratten und Kakerlaken liefen herum. Abgesehen von Jorge Manuel, der in einem Studentenwohnheim hauste, mussten sich neun Leute, die bisher unter angenehmen Bedingungen gelebt hatten, mit sechzig Quadratmetern begnügen. Die Wohnung lag zwar zentral, das Haus war jedoch heruntergekommen. Caracas war eine in hysterischem Tempo wachsende Metropole, in der der Wohnraum knapp, begehrt und teuer war.

    Für die jüngeren Kinder – Mirabel, Isabel, Lidia und Juan Daniel – bedeutete der Umzug von Maracay nach Caracas, dass sie ihre gewohnten sozialen Verhältnisse verlassen und sich in einem neuen Umfeld ihren Platz erkämpfen mussten. Außerdem verstörte sie der hilflose Zustand des Vaters, der soziale Abstieg, den sie überhaupt nicht verstanden, und der rigorose Zug Blancas bei der Verwaltung der Familienverhältnisse. Blanca, die nichts gelernt hatte außer dem Schneiderhandwerk, baute sich mit Zeit und Geduld einen Kundenstamm in der Nachbarschaft auf. So arbeiteten mehr oder weniger alle, um das Überleben zu sichern, während Jorge Mendoza tatenlos auf dem Sofa saß. Der Anblick wirkte grotesk. Der Altersunterschied zwischen Blanca und Jorge Mendoza betrug zwanzig Jahre. Der alte Mann, durch die Krankheit gezeichnet und verändert, sah fast wie jemand aus, der nicht zu dieser Familie gehörte. War er noch vor ein paar Jahren ein kräftig gebauter, schnauzbärtiger Kleinunternehmer gewesen, so hatten die veränderten Umstände einen dünnen, gebrechlichen, grauen Mann aus ihm gemacht.

    Einst hatte der Underdog aus Kolumbien mit viel Fleiß und Geduld aus einer kleinen Schneiderei ein florierendes Geschäft gemacht. Seinen Aufstieg verdankte er dem Umstand, dass ein Teil der Nomenklatura der Regierung Gómez ihn zu seinem Schneider erklärt hatte. Dass ihm seine mestizischen Wurzeln keine Nachteile bescherten, lag daran, dass Venezuela damals in den Augen der lateinamerikanischen Nachbarn als rückständiges, noch bäuerlich geprägtes Land galt. Die wenigen Einwanderer, die Venezuela als neue Heimat wählten, waren durchaus willkommen. Und da Jorge Mendoza zudem kein Interesse an politischen Mitspracherechten zeigte, blieb er von ethnischen Benachteiligungen verschont.

    Mit dreiundvierzig Jahren hatte er um die fünfundzwanzigjährige Blanca geworben. Er begriff das als seine letzte Chance, eine bürgerliche Existenz aufzubauen. Und da die Schneiderei gut lief und er Blanca, die als Teilzeitangestellte in seinem Betrieb arbeitete, schon etwas besser kannte, lag es nahe, die Verbindung zu vertiefen. Beide schlossen im Grunde ein gutes Geschäft ab: Blanca wollte nicht als Hure enden, Jorge Mendoza fürchtete sich vor dem Junggesellendasein im fortgeschrittenen Alter.

    Vom Charakter her waren sie jedoch sehr unterschiedlich: Blanca neigte zu einer Art kalkulierter Bitternis. In gewisser Weise rechnete sie den anderen immer gerne vor, wie viel Unrecht ihr die Welt angetan hatte. Wenn ihr etwas gegen den Strich ging, konnte sie schweigsam sein wie ein Stein. Sie hatte kaum eine Schulbildung genossen. Sie konnte zwar lesen und rechnen, doch Bildung war in ihren Augen etwas für die Reichen. Blanca mochte banale Liebesgeschichten. Dass diese so sehr von ihren eigenen Erfahrungen abwichen, machte die Storys ungeheuer wertvoll. In ihnen war Verlass auf die Emotionen, sie waren nicht so unbeständig und wankelmütig wie die Realität. Jorge Mendoza dagegen war ein Intellektueller. In Maracay hatte er einen Kreis von Freunden, mit denen er sich über Philosophie und Literatur unterhielt. Er schätzte Schopenhauer und Nietzsche – ihr individualistisches, non-theoretisches, anarchisches Denken, in dem er seine Zeit und die aktuellen Umstände wiedererkannte. Staaten wie Kolumbien und Venezuela hatten einen Entwicklungsstand erreicht wie die deutschsprachigen Länder um 1820. Natürlich gab es in einer Stadt wie Maracay mit ihren 50.000 Einwohnern schon motorisierte Gefährte, aber die Infrastruktur war von Pferden abhängig. Auch herrschte eine Mentalität vor, die es gestattete, Parallelen zur europäischen, vorindustriellen Phase zu ziehen.

    Es war ganz ausgeschlossen, dass Jorge Mendoza seine Frau an den geistigen Debatten beteiligt hätte. Es gab strikte, klar hierarchische Verhältnisse. Blanca war zusammen mit den Hausmädchen für die Ordnung im Haus zuständig und bestimmte über die Erziehung der Kinder – mit der Einschränkung, dass Jorge Mendoza bei entscheidenden Fragen eine Art Vetorecht geltend machen konnte, das etwaige Unklarheiten in den Herrschaftsverhältnissen beseitigte: Er verfügte über das letzte Wort.

    Blanca und ihr Mann redeten selten vertraut miteinander und beratschlagten sich nie in wichtigen Fragen. Blanca spürte, dass ihr Mann auf sie herabsah. In ihrem Jawort dürfte ein Hauch von Hilflosigkeit mitgeschwungen haben. Mit fünfundzwanzig Jahren war für Blanca, die ein hübsches Gesicht mit einem sinnlichen, vollen Mund und großen, ausdrucksvollen Augen hatte, der Zug schon fast abgefahren. Das wusste auch Jorge Mendoza, der zwar dem Konstrukt der Ehe misstraute, aber eine instinktive Furcht vor der Einsamkeit hatte. Sex war für einen ledigen Mann in seiner gesellschaftlichen Position ein kostspieliges Vergnügen. Zudem beinhaltete Jorge Mendozas Eheprojekt, dass eine große Zahl an Kindern ihm günstige Perspektiven eröffnen sollte. Die Übernahme des Geschäfts durch eines der Kinder oder die Heirat mit einem vielversprechenden Kandidaten sollte einerseits gewährleisten, auch im Alter nicht der Armut zu verfallen, andererseits brachte man kinderreichen Familien Achtung entgegen. Und dieser Respekt war ihm wichtig – für sein Geschäft und seine Eitelkeit. Das alles galt so lange, bis der Modernisierungsschub einsetzte und die kleinstädtischen Gesetze aufhob. Die Gewinne aus dem Öl, die Wellen an Einwanderern (selbst aus Europa – bedingt durch Kriege und Wirtschaftskrisen – strömten die Massen herbei), das veränderte Selbstverständnis bei der Planung der Existenz, all das erodierte die Grundlagen kinderreicher Familien. Ihr Kinderreichtum wurde zu einer Zeitbombe.

    Auch Jorge Mendozas Geschäft ging nicht allein wegen seiner Krankheit zugrunde. Blanca hätte mit ihrem Know-how die Geschäftsleitung übernehmen können. Es hätte nicht mal scheele ­Blicke gegeben, man hätte in einer so prekären Situation Verständnis gehabt, dass die Frau die Rolle ihres Mannes übernahm. Aber da war es schon zu spät. Die ab Ende der Dreißigerjahre zunehmend importierten, preiswerten Waren brachen Jorge Mendoza das Genick. Und den Gnadenschuss erteilten ihm schließlich Einwanderer aus Italien und Frankreich, die den Wettbewerbsvorteil neuer Moden und exquisiter Stoffe aus Europa mitbrachten.

    Auf einer anderen Ebene war es ebenfalls unmöglich, dem Schicksal eine andere Richtung zu geben. Weil sie von ihrem Gatten nicht ernst genommen wurde, hatte sich Blanca die Rolle der »einfachen Frau« angeeignet. Von vornherein war sie dem Vorurteil ausgesetzt gewesen, nicht intelligent zu sein. Selbst ihre Kinder waren davon überzeugt, ihre Mutter wäre dumm. Blanca nahm diese Rolle an, sie machte es sich in ihr bequem.

    Blanca war jedoch alles andere als dumm, und schließlich war ihre Rechnung aufgegangen. Innerhalb von vier Jahren hatte sich die Familie aus dem Gröbsten herausgearbeitet, war in eine bessere Wohnung gezogen und die drei ältesten Töchter hatten sich interessante Partien geangelt.

    Am interessantesten war Floras Fang. Flora war eine attraktive, junge Frau mit feinen Gesichtszügen. Im Gegensatz zu ihren Schwestern hielt sie ihr volles Haar kurz und pflegte das Erscheinungsbild der gut erzogenen Tochter. Ihr Modebewusstsein aber, aus dem das Verlangen nach Geld sprach, signalisierte die unverbindliche sexuelle Bereitschaft eines leichten Mädchens. Gerade Floras ambivalente Züge machten ihren Erfolg bei der Partnerschaftssuche aus. Im Rahmen ihrer Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin hatte sie einen Aufenthalt in London ermöglicht bekommen und dort Jürgen Kran kennengelernt. Er war der Sohn einer reichen Familie, die ihr Geld mit erfolgreichen Bekleidungsgeschäften in Köln und Bonn gemacht hatte.

    Der Sex war aufregend, in seinem Umfeld kam sie gut an, und bald würde er Vater werden. Sie mochte diesen jungen, hellblonden Mann, der leutselig und laut war. Wäre da nicht die seltsam klingende deutsche Sprache gewesen, hätte Jürgen Kran locker als Venezolaner durchgehen können. Überhaupt fühlte sich Flora endlich glücklich. Die Berührung mit dem Jetset verdeutlichten ihr unmissverständlich, dass Geldsorgen die Grundstimmung trübten und berufliche Tätigkeiten, welche die Not einem aufzwang und die man ohne Überzeugung ausführte, verletzbar machten.

    Jürgen Krans Vater war über die Verbindung nicht sonderlich glücklich. In seinen Augen war sein Sohn ein Lebemann, der zu Großspurigkeit neigte – und eine lateinamerikanische Frau an dessen Seite bewertete er als ein nicht kalkulierbares Risiko. Jürgens Mutter dagegen schloss Flora schnell ins Herz. Ihre Familiensituation rührte sie. Frau Kran unterstützte die Mendozas, und Floras Schwangerschaft beflügelte sie.

    Floras Achtung vor den Deutschen wuchs. Sie bewunderte vor allem deren Effizienz. Der Vater von Jürgen vermittelte ihr das Bild von Leuten, die ihre Ideen ruhig, entschlossen und geduldig durchsetzten. Selbstverständlich blieb der Vergleich mit dem eigenen Vater nicht aus – zumal die berufliche Ausgangssituation beider nahezu identisch gewesen war. Zwar warf Flora ihrem Vater nicht mehr vor, er hätte seine körperliche Hinfälligkeit simuliert, doch der melancholische Zug und die Erfolglosigkeit erschreckten sie nach wie vor, als wäre Erfolglosigkeit seine eigentliche Krankheit.

    Amalia hatte eine Zeit lang in einem Plattengeschäft gearbeitet, weil das jedoch nicht genügend abwarf, eine Zusatzstelle als Hilfssekretärin bei einer der größten Tageszeitungen des Landes, El Universal, angenommen. Zunächst ähnelte ihr Tätigkeitsbereich der einer Hospitantin, die für die Redakteure Kaffee holen ging, aber allmählich verdrängte diese Beschäftigung die langweilige Verkäuferinnenexistenz, vor allem weil sie sich Fertigkeiten wie Schreibmaschinenschreiben und Stenografie aneignete. Sie lernte den Feuilletonredakteur Roberto Luizonas kennen. Er war zwar zwölf Jahre älter als sie, allerdings ein schlanker und sich elegant bewegender, jugendlicher Mann. Seine ruhige Art entsprach nicht der Mehrheit venezolanischer Männer. Amalia hatte ihre Erfahrungen mit dem künstlich aufgepumpten Selbstbewusstsein junger Männer gemacht. Auch wenn Roberto einen offenen Sportwagen besaß und sich manchmal lässig gebärdete,

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