Ein verschütteter Weg: Erinnerungen und Erkenntnisse eines Musikers
Von Juan Levy
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Über dieses E-Book
Es umfasst Kontinente, bewegende Ereignisse und beglückende Begegnungen mit außergewöhnlichen Künstlern. Manchmal fast unmerklich lösen sich psychische Probleme auf und ebnen einen Raum für unerwartete Denkvorgänge und lebendiges Musizieren.
Ein Buch für Musikinteressierte und vielleicht auch für Musiker, die nicht aufhören, über ihr Metier zu staunen.
Juan Levy
Juan Levy emigrierte 1936 mit seinen Eltern von Deutschland nach Guatemala und konnte so der Katastrophe des Nationalsozialismus entkommen. Er studierte Musik in den USA und lehrte später an der Mainzer Johannes-Gutenberg Universität. Er dirigierte Sinfonieorchester in Guatemala und Mexiko und gründete 1984 seinen eigenen Klangkörper - das Pro Arte Ensemble Mainz.
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Buchvorschau
Ein verschütteter Weg - Juan Levy
Bilder
Absturz in Guatemala
26. August 1955.
Es war 20:45 Uhr. In einer halben Stunde sollte mein Klaviervortrag beginnen. Meine Eltern hatten den mittelgroßen Saal des Amerikanischen Clubs in Guatemala gemietet, und das Konzert sollte eine Art Generalprobe für mein Abschlussexamen an meiner nordamerikanischen Hochschule, dem Oberlin Conservatory in Ohio, werden. „Eine gute Idee, dachte ich damals: „Vor Abschluss des Musikstudiums noch einmal alle Eventualitäten durchspielen.
Es wäre auch eine gute Idee gewesen, hätte sich nicht über Monate fast unmerklich eine entsetzliche Unlust an der Musik eingeschlichen. Jetzt war das Latente zum Ausbruch gekommen. Mein Gefühl beim Musizieren war erlahmt, der noch vorstellbare Ausdruck der Musik war nicht mehr erreichbar.
Ich erlebte eine Blockade meiner emotionalen Musikvorstellungen und kannte die Gründe für diesen Zustand nicht. Damals schien sie mir irreversibel.
In einem kleinen Zimmer neben dem Haupteingang des Amerikanischen Clubs wartete ich auf den Augenblick meines Auftritts und sah durch den Spalt der leicht geöffneten Tür, wie die Besucher meines Konzertes einige Marmortreppen hinaufstiegen, eine hohe dunkle Eingangstür öffneten, um hinter ihr im großen Saal Sitzplätze zu finden.
„Sie gehen dort hinein um dich zu hören" dachte ich, und mir graute bei dem Gedanken daran. Wie sollte ich diese Menschen mit einer Musik unterhalten, dessen Inhalte mir nicht mehr zur Verfügung standen!
Schließlich wurde es 21.15 Uhr und ich betrat den dicht gefüllten Saal.
Als ich am Klavier stand und mich verbeugte, dachte ich: „Da sind gewiss um die zweihundert Menschen! Was mache ich bloß?"
Am Instrument sitzend ergriff mich der Wunsch zu fliehen. Herunter vom Podium, die Tür öffnen, ins Freie laufen, weit weg – weit weg. Nie wiederkommen!
Aber ich griff in die Tasten und spielte die lange eingeübten Musikabläufe.
Die äußeren Formen des Vortrags waren noch einigermaßen stimmig. Aber das Innere war hohl. Ich wusste es und so etwas bleibt, auch einem Laienpublikum, nicht verborgen.
Am Ende der Tortur verschwand ich so schnell ich konnte und verkroch mich unauffindbar irgendwo, und am nächsten Tag stand in der Zeitung zu lesen: „Für so ein Klavierspiel muss man nicht vier Jahre lang im Ausland studiert haben. So viel oder so wenig können wir in Guatemala auch."
„Recht hat der Rezensent", dachte ich und vergrub mich, um nicht gesehen zu werden.
Ein paar Wochen später absolvierte ich mein Konzertexamen in Oberlin. Die Schwächen waren erwartungsgemäß die gleichen geblieben. Lang ausgearbeitete Formen der Musik konnten manuell noch auf einem guten Niveau dargestellt werden, ohne aber von innen her ausgefüllt zu sein. Es waren tote, unbelebte Formen.
Ich fühlte mich dabei so elend, dass ich mir verbat, das ganze Ausmaß meiner Katastrophe wahrzunehmen. Ich funktionierte weiter, obwohl im Hintergrund meines Kopfes die Bilder meiner hochkarätigen Eurhythmielehrerin Inda Howland und meines verehrten Klavierlehrers Jack Radunsky präsent waren. Ich wusste, sie hörten mir zu. Ich schämte mich vor beiden, aber ich hoffte, sie würden mein Desaster verkraften. Es waren ja ausgereifte Persönlichkeiten. Vielleicht wussten sie, wie das Leben spielen kann.
Am Tag nach meinem Auftritt nahm ich mein Gepäck und bestieg den Bus, der mich zum nahe liegenden Flughafen in Cleveland fahren würde, und verschwand unbeachtet und wie auf Zehenspitzen von dem Ort, an dem ich länger als vier Jahre meines Lebens verbracht hatte. Wie heißt es noch in Gustav Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen"?:
„Hat mir niemand Adé gesagt. Adé ... Adé ...".
Schon während der Busfahrt, und später am Flughafen, erinnerte ich mich wieder an die letzten zehn Jahre meines Lebens. Ich sah mich erneut mit fünfzehn, mein Körper und mein ganzes Wesen erfüllt von seiner ersten großen Liebe, und deshalb mutiert, von einem desinteressierten Kind zu einem fleißigen, begabten Schüler, und plötzlich war sie da: Die fantastische, atemberaubende Welt der großen Musik. Auf Schallplatten entdeckte ich die ganze Ekstase und verzauberte Natur Beethovens 6. Sinfonie. Ich wurde in diese herrliche Welt katapultiert und fühlte mich in die Höhen der Unendlichkeit getragen. Auch Tschaikowsky erschütterte mich zutiefst. In der „Pathétique" erlebte ich erhabenste Erinnerungen und zerschmetternde Stürze in desaströse Abgründe. Am Schluss: das Ende des Lebens, der nachlassende Atem. Das Nichts.
Damals, mit fünfzehn Jahren, spürte ich mich selbst wie nie zuvor. Die mich erschütternde Musik hatten zwar andere geschrieben, aber jetzt war sie mein Leben. Musik: Der Spiegel meiner Seele.
Angefangen hatte meine Beziehung zu ihr als ich kaum fünf Jahre alt war. Das Klavierspielen hatte ich mir selbst beigebracht (ohne Notenlesen, versteht sich) und ich spielte weiter Klavier bis in die Pubertät hinein, um am Ende dieser Zeit alle Examina am Guatemala-Konservatorium sehr gut abzulegen.
Der Weg zu einer beruflichen Weiterbildung in den USA war frei und ich wählte das Oberlin Conservatory, weil mir davon