In den Spiegeln - Teil 5: Imaginäre Freunde
Von Ales Pickar
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Rezensionen für In den Spiegeln - Teil 5
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Buchvorschau
In den Spiegeln - Teil 5 - Ales Pickar
Inhaltsverzeichnis
5.1 Der 9. August 1969
5.2 Im Garten Arepos
5.3 Umbilicus urbis
5.4 Artemis Pergano
5.5 Der Gefangene
Intermezzo (Brief von Locartes an den Herausgeber)
5.6 Andrew
5.7 Die letzte Therapiesitzung
5.8 Der Schattenlauf
5.10 Exorzismus
Aleš Pickar
In den Spiegeln
Teil 5
Imaginäre Freunde
Aleš Pickar
In den Spiegeln
Teil 5
Imaginäre Freunde
Eintrittspforte in das Spiegeluniversum:
http://angelodaemonia.net
© Ales Pickar 2012
Lektorat: Andrea Huber
© Titelillustration: beautiful sexy girl holding gun
von T. Tulic @ fotolia
Layout & Umschlaggestaltung: Anna macht Urlaub (www.annamachturlaub.de)
ISBN: 9783981515480 (epub) / 9783981515497 (PDF)
„Die ganze Welt ist mir ein Königreich; all ist mein,
vom Sternbild der Fische hinab zum Kopf des Stiers."
– Abū 'l-Qāsim Firdausī: „Schāhnāme" (977 – 1010)
5.1 Der 9. August 1969
»Setz dich, Locartes«, sagte Gabriel sanft. Seine Augen folgten neugierig jeder meiner Bewegungen.
»Ich denke nicht«, erwiderte ich. »Nicht bevor du mich überzeugt hast, dass es sich lohnt, sich hinzusetzen. Sonst bin ich hier genauso schnell wieder raus, wie ich gekommen bin.«
Ich sah mich um. Es war dunkel und still, geradezu besinnlich und schummerig. Eine zentrale Beleuchtung gab es nicht, sodass ein Großteil des Saals in der Dämmerung verborgen war. Nur kleine Tischlampen strahlten ihre unmittelbare Umgebung an. Ich sah geöffnete Notebooks, Bilder von Überwachungskameras, Frequenzscanner und allerlei Programme, die ich nicht kannte. Die Festplatten surrten sachte vor sich hin, begleitet von vereinzelten leisen Signalgeräuschen.
»Verständlich«, stimmte mir Gabriel zu und nickte nachdenklich. »Stell mir eine Frage.«
»Bin ich Locartes?«
»Du weißt, dass du Locartes bist. Stell mir eine bessere Frage.«
»Warum ist jeder an mir so interessiert?«
»9. August 1969.«
Da die Antwort für mich keinen Sinn ergab, schwieg ich trotzig, so als wollte ich das Ausgesprochene nicht als eine gültige Äußerung anerkennen.
»Wir waren eigentlich gute Freunde, du und ich...«
»Ich bezweifle, dass es möglich ist, mit einem Engel befreundet zu sein.«
Er nickte kurz.
»Du hast recht. Aber du warst das Interessanteste, das die Menschheit anzubieten hatte, und ich galt als der Exzentrischste meiner Art. Wir haben beide das Beste daraus gemacht.«
»Was hat es mit dem Datum auf sich?«
»Setz dich«, drängte Gabriel und deutete auf einen der Stühle.
Es fiel mir leicht, seinem Vorschlag zu folgen. Ich steckte in Klaus Grünwalds geplagtem Körper und die Erschöpfung dieses Tages war mir längst in die Beine gefahren. Ich ließ mich mit unwürdigem Ächzen auf den Stuhl fallen und blickte Gabriel wortlos an.
Der Erzengel nahm mir gegenüber Platz, öffnete die Knöpfe seines Anzugjacketts und schlug die Beine übereinander.
»Aus deinen Fragen entnehme ich, dass all deine Erinnerung verloren ist und dass das wenige, das du über deine Situation weißt, Ergebnis eigener Recherchen ist.«
Ich nickte leicht.
»Erlaube mir doch zuerst eine Frage. Eine Frage, deren Antwort hilfreich bei meinen anschließenden Ausführungen ist. Wenn du keine Erinnerung an deine wahre Identität hast, woher weißt du dann, dass du Locartes bist?«
Ich runzelte kurz die Stirn.
»Ich hatte fast mein ganzes Leben lang lebendige, plastische Albträume. Eine Freundin...« Ich erinnerte mich plötzlich an Evelyn. Es war wie ein schmerzlicher Stich, der aus dem Nichts kam. Ich dachte daran, dass sie tot war, während unweit von hier jemand ihren Körper benutzte. Alle um mich waren ständig in Lebensgefahr. »Meine Freundin riet mir, diese Träume aufzuschreiben. Je mehr mir klar wurde, was ich da eigentlich aufschrieb, desto offensichtlicher schien es, dass diese Bilder kein Produkt meiner Fantasie waren. Sie waren dafür zu dokumentarisch. Zu wirklich. Zu...« Ich schwieg einen Moment, auf der Suche nach dem passenden Wort. »... Zu informativ. Ab einem gewissen Punkt wusste ich einfach, dass die Erinnerung eines Mannes namens Locartes in mir weiterlebt.«
»Ich habe 1999 versucht, diese Traumtagebücher in die Hände zu kriegen«, erklärte mir Gabriel, »aber das Oktagon war schneller.«
»Weshalb?«
»Dazu kommen wir später... Jetzt sollten wir einfach ganz von vorne beginnen.«
»Ich bitte darum«, erwiderte ich mit gespielter Kühle. In Wirklichkeit begann ich längst aufzutauen und konnte mich eines Gefühls von Sympathie gegenüber diesem jungen, lässigen Mann nicht erwehren. Doch das hier war ein Erzengel. Es bedeutete, dass er kein Mensch war. Dass er Jahrtausende an Erfahrung und Wissen besaß. Es mochte bedeuten, dass seine Auseinandersetzung mit mir mehr einem Jungen gleichkam, der einen Waldkäfer in eine leere Streichholzschachtel gesperrt hat und diese ab und zu öffnet, um mit dem Insekt zu spielen.
Doch ich hatte nicht vor, ein Käfer zu bleiben. Ich war nicht mehr blind. Ich wusste, dass der Engel nur deshalb vor mir saß, weil ich an seine Existenz glaubte. Ich wusste, er war über alle Maßen verletzlich in diesem zerbrechlichen menschlichen Körper, und dass das Besetzen neuer Avatare ihm in dieser unserer Zeit schwerer fiel, als es in der Antike oder im Mittelalter der Fall gewesen war. Ich war erwacht.
Außerdem nahm ich mich nicht als Locartes wahr. Ich war noch immer Jan-Marek. Die fehlenden Informationen fühlten sich für mich nicht wie Gedächtnislücken an.
Es war ein fremder Mantel, den ich mir da plötzlich umhängen sollte. Doch ich erkannte, dass mir der Name Locartes mehr Respekt in der angelodämonischen Welt verschaffen würde. Also war ich bereit, mitzumachen.
»Was ist das hier?«, fragte ich und streifte mit meinem Blick den dunklen Raum um uns.
»Ein Horchposten des Kerygma«, antwortete Gabriel. »Die Schatten kontrollieren Frankfurt, doch das bedeutet nicht, dass wir ihnen nicht auf die Finger schauen.«
»Was ist also der Anfang?«
»Der Anfang ist stets nur eine ungefähre Angabe. Ähnlich wie das Ende«, sagte Gabriel leise, als würde er gar nicht wirklich zu mir sprechen, sondern sich lediglich an etwas erinnern. »Einen eindeutigen Anfangspunkt gibt es nie. Der Anfang oder das Ende sind extrem ungenaue und eigentlich nutzlose Begriffe.«
Ich wusste nicht, wovon er redete. Ich schwieg und hoffte, dass er langsam eine verständlichere Sprache einschlagen würde.
»Du hast das alles bereits gehört und in Erfahrung gebracht, als die Ambrosia zu dir gesprochen hat. Alles hier dreht sich nur um zwei Fragen: Was ist die Welt und wie soll man mit ihr umgehen?«
Er beugte sich vor und seine Worte wurden intensiver und verbissener.
»Du stehst, wie so viele andere Vertreter deiner Gattung, an einem evolutionären Scheideweg: eine Mutation entfernt vom nächsten Etappenziel. Doch der planmäßige Evolutionssprung ist in Gefahr.«
Er lehnte sich zurück.
»Dieses Universum ist erfüllt mit Kälte, Hitze, intensiver Strahlung und unzähligen chemischen Reaktionen. Bei einem bestimmten Grad an Entropie, kombiniert mit einem bestimmten Grad an Komplexität, entsteht Leben. Manchmal. Es sind so viele Parameter, dass das Weltall das Entstehungsexperiment milliardenfach wiederholen muss, bis es nur einen Keimling dabei hervorbringt.«
Am anderen Ende des Raums erhob sich langsam ein unangenehmes Pfeifen. Ich blickte hin. Auf einem Tisch an der Wand befand sich eine kleine Herdplatte, auf der ein Teekessel stand.
Gabriel ging ohne besondere Eile hinüber und schaltete den Herd ab. Der Dampfstrahl kreischte noch einige Sekunden gleichbleibend weiter, bis er dann mit einem müden Seufzen erstarb.
»Earl Grey?«, fragte der Erzengel über die Schulter.
»Warum nicht«, sagte ich und versuchte mich entspannt zu geben.
»Man muss natürlich diesen Blickwinkel nicht einnehmen«, fuhr er von der Kochecke aus fort. »Für das Resultat ist es ohne Belang, ob man stattdessen von Zufall, Wahrscheinlichkeit und Bifurkation spricht. Dann werfe man eben eine Milliarde Münzen in die Luft. Eine oder zwei davon werden schon auf der Kante landen. Kandis? Zitrone? Milch?«
»Nichts«, antwortete ich und beobachtete seine Silhouette vor dem grünlichen Schein einer alten Leuchtstoffröhre. »Wenn ich meinen Ambrosia-Trip richtig verstehe, sind die Engel die Wächter dieses Prozesses.«
»An dieser Stelle würde ein Dämon oder einer deiner Lux-Aeterna-Freunde argumentieren, dass wir selbsternannte, fehlgeleitete Wächter sind. Aber es ist wahr. Wir, die sich von euch ›Engel‹ nennen lassen, haben früh erkannt, dass die Schöpfung und das Biotop der Schöpfung untrennbar miteinander verbunden sind. Will man das eine schützen, muss man das andere bewahren.«
»Die himmlischen Ökologen«, murmelte ich vor mich, während er herüberkam und eine zierliche Tasse aus chinesischem Porzellanvor mich stellte.
»Ein sehr guter Tee, Locartes«, sagte er leise. »Ich bekomme ihn von einem britischen Botschafter.«
Ich inhalierte den Duft von Bergamotte.
»Himmlische Ökologen?«, fuhr Gabriel humorlos fort. Sein Gehör war offensichtlich exzellent. »Vielleicht. Unser Mandat beinhaltet auch den Schutz des Menschen, doch diesen können wir nicht über den Schutz des Biotops stellen. Hier gibt es ohnehin keinen Widerspruch. Das Heil der Menschheit ist ohne ein intaktes Biotop nicht denkbar. Und ihr seid nicht die einzigen Mandanten in diesem Universum.«
Ich sah ihn zweifelnd an.
»Was heißt eigentlich ›unser Mandat‹?«
»Es gibt unterschiedliche Hierarchien und interstellare Gremien...«
»Du bist ein Außerirdischer?«
Er machte kurz ein Gesicht, als hätte er eine bittere Mandel erwischt, und lachte dann auf.
»Nein, Locartes, ich bin kein Außerirdischer. Ich bin genau das, was du denkst, dass ich bin: ein angelus. Aber das Universum ist so beschaffen, wie es beschaffen ist. Daran kann auch ich nichts ändern. Ich habe weder die Gestirne noch den Mond erschaffen, noch bin ich auf einem Planeten geboren. Die Engel sind eine Manifestation des Glaubens...«
»...oder eben ein sicheres Symptom für Holophrenie.«
Er erstarrte und blickte mich streng an.
»Ich bin kein Symptom, Locartes.«
»Was ihr also hier tut, findet woanders auch noch statt?«
»Ja. Und woanders geschieht es meistens mit mehr Erfolg.«
»So schlimm, hm?«
Er hatte sich inzwischen wieder hingesetzt und löffelte nun einige Kandiszuckerkristalle in seine Tasse.
»Ihr Menschen«, sagte er langsam, »tut euch etwas schwer, die Dinge in der richtigen Perspektive zu sehen. Euer Wertesystem ist gänzlich verzerrt. Ihr stellt Dinge in den Mittelpunkt eurer Zivilisation, die dort nicht hingehören. Aber es ist nicht eure Schuld. Die Inferni waren auf Terra erfolgreicher als woanders.«
»Interessante Unterhaltung«, äußerte ich mich und schlürfte von dem Tee. »Aber mir ist noch immer unklar, was all das mit mir zu tun hat.«
»Adam Kadmon hatte einen Sohn«, sagte Gabriel. Es klang beinahe etwas hastig. »Sein Name war Claudio Lichtmann. Nur wenige erinnern sich noch an diesen Namen. Aber einige kennen ihn unter dem Pseudonym ›Damian Stagnatti‹.«
Ich spürte Gänsehaut auf meinen Unterarmen, und ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinab.
»Stagnatti ist der Grund für die ›Große Bereinigung‹. So nennt man es zumindest in Kerygma-Kreisen. Sie machten sich in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs auf, Archive zu durchforsten und Hinweise zu vernichten, sodass Damian Stagnatti aus dem Gedächtnis der Menschheit getilgt wurde.«
»Was hat er getan?«
»Es ist befremdlich, das ausgerechnet dir zu erzählen«, bemerkte Gabriel. »Dir, von allen Menschen. Schließlich hast du dieses Programm geleitet. Uns hat Stagnatti anfangs nicht interessiert.