Zeitbindung in Natur, Kultur und Geist
Von Wolfgang Schad
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Über dieses E-Book
der Kulturentwicklung und der Geistesgeschichte. Immer findet eine Integration der verschiedenen Zeitrichtungen statt, wo auch immer wir auf das Leben treffen.
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Buchvorschau
Zeitbindung in Natur, Kultur und Geist - Wolfgang Schad
Wolfgang Schad
Zeitbindung
in Natur, Kultur und Geist
Verlag Freies Geistesleben
Anthroposophie und Naturwissenschaft 2/7
Inhalt
Der naturwissenschaftliche Bereich
Die innerseelische Dimension
Die geistige Dimension
Die pädagogische Praxis
Die medizinische Praxis
Die Folgerungen für das Leben
Zur biologischen Zeitintegration
Zur psychischen Zeitintegration
Die Geistseite der Zeit
Literaturverzeichnis
Über den Autor
Impressum
Der naturwissenschaftliche Bereich
Charles Darwin plante nach seiner Weltreise (1831 – 1836), die ihn erst zum Naturwissenschaftler gemacht hatte (vorher hatte er etwas Medizin und viel anglikanische Theologie studiert), ein mehrbändiges Werk über die Abstammung der Organismen voneinander zu schreiben, und machte sich über zwanzig Jahre hin an die Arbeit. Da erhielt er 1858 unerwartete Post von einem jüngeren Abstammungsforscher, Alfred Russel Wallace, der ihm seinen Artikel zum Thema schickte. Mit Schrecken las er, dass Wallace ebenso wie er eine bevölkerungspolitische Studie von Thomas Robert Malthus aus dem Jahre 1798 auf die Natur angewandt hatte. War ihm damit der Ruhm der Erstveröffentlichung genommen? Seine Freunde rieten ihm, rasch seine Manuskripte zusammenzufassen und zu veröffentlichen. Im November 1859 war sein Hauptwerk da und fand reißenden Absatz, und bald gab es Übersetzungen in allen europäischen Sprachen, weil er statt der jahrtausendealten theologischen Erklärung der Naturentwicklung eine biologische anbot: Alle Organismen erzeugen mehr Nachkommen als notwendig. Also überleben nur die bestausgestatteten, und dadurch entwickeln sie sich von selbst immer höher.
Abb. 1: Die «Urfeder» = Archaeopteryx lithographica, 1860 gefunden in den lithographischen Kalkplatten des obersten Weißen Juras von Solnhofen/Fränkische Alb (aus: Roeck/Wagner 1973).
Ein knappes Jahr später stand im Sommer 1860 der Steinbrucharbeiter Michael Kohler in seinem Familiensteinbruch im fränkischen Solnhofen und klopfte Dachziegel aus den dünnen Plattenkalken des obersten Weißjura zurecht. Dabei kam beim Spalten einer solchen Kalkplatte eine echte Vogelfeder als Positiv und Negativ versteinert zum Vorschein. So frühe Vogelreste kannte man bis dahin noch nicht. Bald fanden sich vollständige Skelette. Reste von zwölf Exemplaren sind inzwischen bekannt. Dieser Urvogel hatte Handkrallen und eine lange Schwanzwirbelsäule wie eine Echse. Die Darwinianer, besonders Ernst Haeckel, jubelten: Das zu erwartende Zwischenglied zwischen Reptilien und Vögeln war gefunden, das missing link zum connecting link geworden. Seitdem steht der Archaeopteryx in allen Schulbüchern der Biologie als das Paradebeispiel für die Übergänge in der Evolution.
Man «sieht» meist, wofür man schon Begriffe hat. Das heißt auch oft: Man vermeint zu sehen, was man schon erwartet hat. Die Merkmalsanalyse – mit jedem neuen Fund vollständiger – ergab aber noch etwas viel Wichtigeres: Erst 1954 stellte der Engländer Gawin Rylands de Beer heraus, dass der weitaus größte Teil der Merkmale des Urvogels keineswegs übergänglich sind: Reine Reptilmerkmale überwiegen mit 29, an reinen Vogelmerkmalen finden sich 13, nur 9 sind intermediär, also Übergangsmerkmale; hinzu kommen noch 3 spezielle Merkmale, die kein Reptil und kein Vogel, sondern nur der Archaeopteryx ausgebildet hat. Von den Bearbeitern stellten jedoch nur sieben Autoren ihn zu den Reptilien, vierzig Autoren zu den Vögeln und neun Autoren zu einer eigenen Übergangsklasse. Was ist er denn nun? De facto ist er am wenigsten intermediär (Schad 1980). De Beer kam zu dem Ergebnis, dass der Archaeopteryx weder ein Reptil noch ein Vogel, noch eine Übergangsform ist, sondern alles drei zugleich. In ihm konnten konservative, intermediäre und progressive evolutive Stadien zugleich miteinander leben. De Beer konnte das, wie schon anfänglich Watson (1919), auch für andere «connecting links» nachweisen und sprach von evolutiven «Mosaikformen».
Diese Bezeichnung ist unglücklich. Sie unterstellt, dass der Organismus ein chaotisches Puzzle einer gerade noch überlebensfähigen Merkmalskombination sei. Am Archaeopteryx als ein Beispiel von vielen ist jedoch eine deutliche organologische Ordnung der Merkmalsverteilung ablesbar: Die Reptilienmerkmale häufen sich in den achsialen Organsystemen (Schädel, Gebiss, Rippenkorb, Wirbelsäule), die Vogelmerkmale in den peripheren Seitenorganen (Gliedmaßen, Hautanhänge = Federn); die wenigen Übergänglichkeiten befinden sich vornehmlich im Übergangsbereich der zentralen und peripheren Organsysteme (Handwurzel, Becken, Unterschenkel, Mittelfuß), (Näheres bei Schad 1992).
Abb. 2: Der vollständige Urvogelfund von 1877 aus den Steinbrüchen am Blumenberg bei Eichstätt (Foto: W. Schad).
Abb. 3: Die Merkmalsverteilung am Archaeopteryx. Blau: reptilartig, gelb: vogelartig, rot: übergänglich, grün: artspezifisch (nach einer Zeichnung von Sigrid K. James aus Feduccia 1980, koloriert von W. Schad).
Auch in der Pflanzenwelt lässt sich die Gleichzeitigkeit von Konservativismen, Intermediatmerkmalen und progressiven Organbildungen reichlich nachweisen. Man denke nur an den Ginkgobaum mit wie im höheren Pflanzenreich verholztem, hohem Stamm und noch wie im niederen Pflanzenreich tangartig-dichotom gegabelten Blättern – ein lebendes Fossil aus dem späten Erdaltertum (Unteres Perm).
Sehen wir uns nochmals bei