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Der Geist der Farbe: Roman
Der Geist der Farbe: Roman
Der Geist der Farbe: Roman
eBook332 Seiten4 Stunden

Der Geist der Farbe: Roman

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Über dieses E-Book

Phillippe, ein in die Jahre gekommener, berühmter und kranker Photograph, ist das Kraftfeld von Peter Patzaks Roman. Seine Passion des Bildermachens – in den Zwischenwelten verschiedenster Landstriche und Wüsten, wie auch Kunstnester und Metropolen angesiedelt – nimmt der Autor zum Anlass, die Mystifikationen der modernen Künstlerfigur mit einer Portion Selbstironie ebenso ernsthaft wie spielerisch zu variieren.

Es handelt sich um eine aktualisierte Auflage! (14. Februar 2016)
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum24. Apr. 2015
ISBN9783990417942
Der Geist der Farbe: Roman

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    Buchvorschau

    Der Geist der Farbe - Peter Patzak

    Peter Patzak

    Der Geist der Farbe

    (Roman)

    Copyright © 2015 Der Drehbuchverlag, Wien

    2. Auflage, 14. Februar 2016

    Alle Rechte vorbehalten

    eBook: Der Geist der Farbe (Roman)

    ISBN: 978-3-99041-794-2

    Inhaltsverzeichnis

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    Der Autor

    1

    Einst im Winter. Phillippe berührte das junge Gesicht des jungen Herrn, als würden die Fingerkuppen sein Sehen schärfen: ein Durchsetzergesicht, eine Visionsstirne, Pionieraugen, Sehnsuchtslippen, Geschäftskinn - und dennoch Luftschlossbauer.

       „Wir müssen noch etwas warten", sagte Phillippe leise und blickte in den klaren Himmel. Kobaltblau, weiß gehöht. Die Wintersonne näherte sich dem Nebel, der scharf begrenzt über der Stadt lag.

       „Vielleicht vierzig Minuten Vorbereitung, dann dauert es nur einen Augenblick."

       Mit einem runden Pinsel begann Phillippe Wasser auf das Gesicht zu stupfen, welches in wenigen Sekunden zu einer dünnen Optik gefroren war.

       „Kalt, kalt, kalt", sagte er leise. Als würde er sich bei dem jungen Herrn für sein Tun entschuldigen. Immer wieder kontrollierte er den Sonnenstand, ohne sein Gegenüber aus seinen Augen zu verlieren. Wieder Wasser auf die Stirne, in die Augenhöhlen. Tropfen, die von der Eiseskälte, in ihrem Lauf über die Wangen, gestoppt wurden, erstarrten.

       „Eislasur, Kristallmalerei, Gefrierpunktchirurgie, Bildhauerei mit lebenden Steinen."

       Da und dort verschwanden die Gesichtskonturen des jungen Herrn. An manchen Stellen, besonders bei den Lippen, wollte das Wasser nicht erstarren, als würde sein Atem die Verwandlung nicht gestatten. Aber die Visionsstirne und das Geschäftskinn waren bald in einer Wundersamkeit von Millionen Eispunkten verborgen. Phillippe hauchte auf die gewölbte Schicht über den Augen des Pioniers. Eisblumen. Dann trat er zurück, die Blicke kreuzten sich auf halbem Weg. „Es ist Zeit."

       Die Sonne war im Nebel versunken, begrenzte sich zur perfekten Scheibe. Ein nicht nachvollziehbares Lasurrot. Eine Farbe, die es nicht gibt, weil sie aus zehntelsekündiger Veränderung besteht. Eine Farbe aus winzigsten Zeitteilen gemischt.

       „Keine Versuche, keine Varianten, keine Kompromisse. Nur einmal abdrücken."

       Phillippe stand dem jungen Herrn ohne vorgetäuschte Liebe gegenüber.

       „Keine Sicherheitsvorkehrung. Nicht einmal ein Gedanke an den Bildausschnitt. Wer trifft nicht wenigstens einmal, wenn er einen ganzen Film verschießt?"

       Dann, für diesen einen Augenblick, traf das Rot der Schleiersonne das gläserne Gesicht. Es drang in die unterschiedlichen Eisstärken ein, erfasste Kristalle und Tropfen, um endlich, für einen noch kürzeren Augenblick, wie ein glühender Eisstock auf der Stirne zu tanzen, sich zu drehen und als roter wuchernder Knopf in den Eisblumen vor den Augen des jungen Herrn zu spiegeln.

       Klick. Phillippe hatte den Auslöser seiner Kamera betätigt.

    Es wurde rasch dunkel und erst jetzt hörte Phillippe das Klappern seiner Zähne und den Lärm der Vermummten, die allerlei an Technik aus dem ehemaligem Flugzeughangar hinter ihm trugen und auf Lastwägen warfen.

       Das war das Ende des „Wienfilm"-Studios in Sievering.

       Phillippe ging die vereiste Auffahrt Richtung Straße, Richtung geschmiedetes Doppelflügeltor, welches jetzt aus den Angeln gerissen am Boden lag, um Schnee und Eis zu stabilisieren, um Diebe vor dem Fallen und Lastwägen vor dem Schleudern zu bewahren.

       „Winterabend, Abschied Nummer eins", dachte er.

       „Bring me the head of Alfredo Garcia, hatte Nicholas, der kanadische Filmträumer, zu ihm gesagt und dabei gelacht. „Wenn du ihn an seiner Wirkungsstätte fotografiert hast, ruf mich an, dann schlag ich ihn aus der Tafel und erpresse mit seinem Kopf Rede und Antwort von den Klassenbesten, die das Ende des Studios, nach monatelangen Eiertänzen, zu verantworten haben.

       Kein Hahn hat nach dem Verbleib des Steinkopfes gekräht. Wahrscheinlich hat es auch niemand bemerkt. Das junge Gesicht des jungen Herrn wurde nach dem Tod von Nicholas mit all den anderen Filmkuriositäten aus seiner Wohnung entsorgt. Phillippes Foto war auf den tausend Einladungskarten zum letzten Geburtstag Nicholas’ abgebildet.

       „Ein Wiener Fest zur Erinnerung an Graf Sascha Kolowrat", stand darunter.

       Nur wenige Gäste waren der Einladung gefolgt, und so spielte die Oldie-Band, auf die Lieder von Dalia Lavi spezialisiert, vor dem nahezu leeren, spärlich beleuchteten Plüschsaal aus einer anderen Epoche.

    „...brechen und bauen, weinen und lachen, klagen und tanzen, Steine zerstreuen und Steine sammeln, suchen und verlieren, behalten und wegwerfen, alles hat seine Zeit..."

    Phillippe wusste nicht mehr, wem die Zeilen gehörten, die er von einer alten Weihnachtskarte kannte. Er hatte das Taxi für zwanzig Uhr bestellt. Es waren schon zwanzig Minuten vergangen.

       Als der Mond hinter dem Schornstein neben dem Studio verschwand, gesellte sich ein anderer Wartender zu Phillippe. Ein Bilwiß. Ein Dieb mit offenem Rucksack, aus dem Teile eines Projektors ragten. Ein vom Teufel Gerittener, der jedes vorbeifahrende Auto aufzuhalten versuchte.

       Es schien ihm heute besonders schlecht gegangen zu sein, und mit jedem Fluch wurde seine Einbildung stärker, dass jeder Vorbeifahrende und Schutzsuchende sein persönlicher Chauffeur in die blasse Zukunft sein müsse.

       Phillippes Taxi kam, der Dieb mit dem Rucksack beanspruchte es für sich. Erklärungen funktionierten nicht, die Entschlossenheit eines gekränkten Kobolds ist unerschütterlich. Der Schornstein gab den Mond wieder frei, er war jetzt größer und weißer als zuvor.

       „Bei Homer waren weder der Himmel noch das Meer blau. Der Himmel war ehern, das Meer schwarz, weiß, grau oder dunkel. Niemals blau. Es gab diese Farbe in unserem Sinn damals nicht. Wie sehr hat das Blau die Eigenschaft der Dunkelheit übernommen", dachte Phillippe.

       Gelbe Scheinwerferkegel, die eine Spur nach Paris legten, tauchten im langbrennweitigen, gestauten Bild des nächtlichen Verkehrs auf. Ein anderes Taxi blieb neben der Wienfilmtür stehen. „Richtung Bahnhof, Richtung Gürtel oder Richtung Zentrum."

       Die Fenster waren beschlagen, vermittelten Phillippe eine spezielle Form der Wahrnehmung. „Zwingt das Unscharfe, das Getrübte den Blick in einen besonderen Ausschnitt, wird der dort genauer oder fantasiereicher?"

       Phillippe überlegte, ein Spähloch in die beschlagene Scheibe zu wischen, ließ es dann aber.

       „Denn Begrenzung hat nichts mit optischer Verschmutzung zu tun."

       Eine weibliche Stimme vom Fahrersitz: „Wo immer sie hin wollen, es wird dauern. Stoßzeit und dazu noch Glatteis."

       Phillippe beugte sich nach vorne, das Gesicht einer Nomadin. Die langen dunklen Haare glatt zurückgekämmt, durch ein Gummiband im Nacken zusammengehalten, verlorenes Profil, hohe Backenknochen, sprechende Nase, Mundwinkel nach oben, Kinn leicht gerötet, Jacke undefinierbar. Schwarzer Seidenschal fiel auf. Geruch unauffällig, angenehm. Am Beifahrersitz ein durchsichtiger Plastiksack mit roten Tomaten.

     „Mozzarella mit Tomaten?", fragte Phillippe.

       „Eventuell ein Abendmahl. Bin seit dreizehn Stunden hier eingesperrt", antwortete sie.

       Dann schwankte das Auto über eine Bodenwelle. Einsatzfahrzeuge der Polizei. Das sich spiegelnde Blaulicht blitzte noch ein- zweimal in den kleinen Perlen in den kleinen Ohren der Taxifahrerin auf.

       Phillippe nahm den Film aus der Kamera. „Im Labor einwerfen oder selbst ausarbeiten? fragte er sich. „Einwerfen. Nichts braucht an diesem festgehaltenem Moment manipuliert werden. Am besten den Film Nicholas übergeben. Ich erinnere mich an die Baustellen seines Sylvesterumzugs.

       Die Taxifahrerin brauste wie ein Pfeil dahin. Phillippe überlegte sich das erste Ziel der Fahrt.

       „Welcher Pfeil fliegt für alle Zeiten? Der, der sein Ziel getroffen hat oder jener, der das Ziel verfehlt hat? An den, der sein Ziel verfehlt hat, erinnert man sich ewig."

       „Sie fahren zu schnell, haben Sie vor zu sterben?", fragte Phillippe.

       „Sie nicht?"

       Sprechende Nase, Mundwinkel nach oben.

       „Mozzarella mit Tomaten, wiederholte Phillippe, „zum Frühstück im Morgengrauen? Wer wartet auf Sie?

       „Auf wen warten Sie?"

       Die Nachtarbeiterin nahm ihren schwarzen Schal ab. „Soll ich die Heizung abschalten? Aber ohne Heizung keine Sicht."

       „Es ist mir egal, an beidem bin ich im Moment nicht besonders interessiert."

       „Woran denken Sie?", fragte sie Phillippe über den Rückspiegel.

       „An Rot, in Pulverform, als Erdfarbe, als Badezusatz. Rot als Farbe der Wut und der Liebe. - Sie haben mich eben auf eine Idee gebracht. Können sie umdrehen und mich zu dieser Bar bringen?"

       Phillippe zeigte auf ein Lokal auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

       „Darf ich Sie bitten, ein wenig zu warten? Die Tomaten werden nicht alt und die Zeche wird bezahlt."

    „Tralala, Phillippe, mach ein Foto von mir, es wird dich berühmt machen."

       „Nicht heute", sagte Phillippe.

       Der Autor hing mit seiner glühenden Zigarre, in der Luft fuchtelnd, so an der Bar, dass es für alle anderen und für ihn ein Geheimnis war, warum er nicht vorne oder hinten aufschlug.

       „Alles, was wir tun, ist nutzlos, aber unheimlich gemein. Dadüdl Dadüdl."

       „Eine Begrüßung?", überlegte Phillippe.

       „Ich schreibe an zehn Drehbüchern für zehn Sender."

       Ein Blick über den Brillenrand gab diesem Satz Bedeutung.

       „Die Geschichte ist die gleiche, beim Sender 1 ist der Kommissar die Hauptfigur, beim Sender 2 die Assistentin, die bald Kommissarin sein wird, beim Sender 3 der Assistent der Assistentin, der ein Doppelleben fährt, beim Sender 4 der Täter, beim Sender 5 das Opfer, beim Sender 6 der Zeuge, beim Sender 7 der zufällige Beobachter, beim Sender 8 der Hund des zufälligen Beobachters, beim Sender 9 muss ich aufpassen, weil der zuständige Redakteur einmal beim Sender 1 war. Da ist die Heldin die Frau des Kommissars. Beim Sender 10 kann ich etwas mutiger werden, die Helden sind die jugendliche Gang, die aus den Kindern des Kommissars, der Assistentin, des Täters, des Opfers und der Zeugen besteht. Nicht blöd, was?"

       „Drehbücher gedeihen und bleiben nicht ohne Folgen", dachte Phillippe.

       „Bist du in Begleitung hier oder alleine?", fragte der Autor.

       Phillippe griff nach einem Glas Wasser.

       „Allein. In Begleitung. Sich über etwas im Klaren sein. Obenauf sein. Kein Pappenstiel sein. Quitt sein. Am Ruder sein. Ein Schlachtfest sein. Deine Kragenweite sein. Zum Mäusemelken", dachte Phillippe.

       „Eigentlich bin ich in Begleitung, sagte er. „Sie wartet im Taxi.

       „Warum zeigst du sie mir nicht?", fragte der Autor.

       Phillippe blickte auf die Uhr oberhalb der Bar. „Ich suche Nicholas, den Kanadier."

       „Nicholas? Ist er nicht irgendwo in Italien ermordet worden?"

       „Das war ein anderer."

       „Ich bin kurz vor dem totalen Durchbruch. Im Übrigen, sieht dein trainiertes Auge, dass ich ein Toupet trage?"

       Der Autor legte seine Hand auf Phillippes Schulter.

       „Was gibt es Klareres als Bierbrauen und Aristokratie, Berge und Doktoren, Hotels am See, sowie all die Pfarrer, Anwälte und Tierzüchter? Mein nächster Hit: Die Hebammen-Serie. Ich habe die amerikanischen Spitäler studiert. Hebammen, das sind Hände am Kopf des Winzlings, der das Licht der Welt erblickt."

       „Und die Totengräber?", fragte Phillippe.

       „Kein guter Witz, entgegnete der Autor und wirres Zeug quoll aus ihm wie aus einem steuerungsgestörten Roboter: „Der Angeklagte verzog keine Miene, als die Zeugin in Tränen ausbrach. Er büßte kaum Haltung ein. Doch sein Soldatenherz blutete. 08/15. ... Eine Flasche gratis und franco, und du schweigst darüber für immer. Die Fernsehserie zwischen Licht und Dunkel der Welt. Morgen fange ich an zu schreiben. Das wird Way of Life. Augenstimuli für die Jungen. Horror, Action, Happy End. Fit for Fun.

       „Nichts wie weg."

       „Bleib hier. Wie siehst du das?"

       Der Autor stürzte sich auf Phillippe.

       „Ich hab ein schiefes Wertesystem, murmelte Phillippe. „Aus der Tonne des Diogenes. Soll ich dem Narren zuliebe, meine Sichtweise in Gefahr bringen?, dachte er.

       „Winterabend, Abschied Nummer zwei."

    Tür auf, Tür zu. Die Tomaten waren immer noch prall, das Parfüm der Taxifahrerin war jetzt etwas auffälliger. Es war noch kälter geworden.

       „Zweihundert Schilling, sagte sie. „Geben Sie auf?

       „Das ist erst meine zweite Verabschiedung", antwortete Phillippe. Das ist die Fahrt, an die ich mich halten möchte, dachte er.

       „Wie Sie wollen..."

       Am Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen hob eine junge Frau mit einem Spaten ein kleines Grab aus.

       Aus einem Lokal wurde eine Prosciutto-Kiste gebracht und neben ihr abgestellt. Sie öffnete den Deckel und hob einen kleinen toten Hund hoch, küsste ihn, legte ihn zurück und versenkte die Kiste in der Grube. Mit dem Fuß beförderte sie die Erde in das Loch zurück, stampfte ein paar Mal energisch auf die darüber gebeeteten, gefrorenen Grasnarben und ließ ein indisches Seidentuch fallen. Sie schniefte deutlich hörbar und ging in das Lokal.

       „Halt, sagte Phillippe zu seiner Chauffeurin, „ich möchte kondolieren.

       Im Lokal. Phillippe neben der jungen Frau. „Angela?" Sie hatte eine geschminkte Narbe im Gesicht, ein Blick, der ohne Dioptrien nur noch aus Traurigkeit bestand.

       „Homer, sagte sie, „zwölf Jahre alt. Vor kurzem unter meinem Tisch gestorben. Geistesspaltung.

       Sie sprühte sich Parfüm auf den Hals.

       „Warum verwenden alle Frauen heute Nacht das gleiche Parfüm?", fragte sich Phillippe.

       „Winterabend, Abschied Nummer drei."

       „Du stehst auf meiner Tanzkarte und du warst mein Liebhaber. Ich bin vor einigen Tagen aus Indien zurückgekommen, wo du mich vor einigen Jahren versteckt hast. Also bleib bei mir", zerrte die Frau mit der geschminkten Narbe.

       „Nichts wie weg. Wie lobt doch Homer bei Aeneas dessen Kunst zu fliehen."

    „Der Fisch beginnt am Kopf zu stinken, tönte es von der Theke. „Oi, Oi, Oi, Phillippe, mach ein Foto von mir.

       „Nicht heute", sagte Phillippe.

       Der Produzent, umstellt von mehr Anwälten als gebraucht wurden, zog Phillippe an sich, drängte ihm einen Grappa auf und beschleunigte seine Worte bis zum enthusiastischen Gekreische.

       „Ich kenne einen Autor, der schreibt zehn Drehbücher gleichzeitig, für zehn Sender. Egal, in welchen Sender du hineinknallst. Alles Familie, lauter Verwandte, verstehst du? Mega-Verflechtung. Das Opfer, der Mörder, der Kommissar, alles Gäste, die vorbeischauen. Ein virtuelles Lagerfeuer. Einstieg garantiert, weil: wie besetzt? Nichts Virtuoses, nichts Gekonntes, nichts Herausragendes. Wir müssen die Wirklichkeit unterlaufen. Unser Zehnmalzehn-Held darf nicht klüger, nicht schlauer und vor allem nicht interessanter sein als unsere Zuschauer, die mit gestärktem Selbstbewusstsein aus der Fernsehgeschichte aussteigen und in ihre eigene Geschichte einsteigen wollen. Traumfabrik am Kopf stehend. Minderwertigkeitstherapie für Konsumenten, Sozialarbeit für das Publikum."

       „Zynisch?", fragte Phillippe.

       Am „Klar doch" verschluckte sich der Produzent.

       Nach einem Hustenanfall setzte er seinen Wortschwall fort: „Die Kolonialisierten wünschen sich nichts so sehr, als wie der Kolonialherr auszusehen und auch so zu agieren. Damit bin ich erfolgreich, schon blinkt das weiße Haus am weißen Strand an der blauen Meeresbucht."

       „An der schwarzen, weißen, grauen oder dunklen Meeresbucht", dachte Phillippe und versuchte das Lokal zu verlassen. Ein beglaubigter Idiot, aus dem Kreis des Produzenten, hielt ihn fest.

       „Bleib hier. Wir rutschen ins neue Jahr."

       „Ich suche Nicholas, ich will ihm den Kopf von Alfredo Garcia übergeben."

       „Lebt der noch? Ewig nicht gesehen, wie auch dich nicht. Wie geht es dir? Geht es dir gut?"

       Über die so schlecht gespielte Besorgnis musste Phillippe lachen. Und die Blaupausen um den Produzenten lachten über Phillippes Lachen.

    „Nicht mein Strand, nicht mein Haus, nicht meine Saison. Winternacht. Abschied Nummer vier."

    Endlich fiel die Lokaltür hinter Phillippe zu. Die Taxifahrerin wartete.

       „Danke, Wagenlenkerin. Was brauche ich, wenn ich vom gespendeten Grappa blind werde? Wenn verlorene Sehkraft, Wissen, Denkkraft, Fühlen erhellt. Jemanden, der die Straße beschreibt. Den Wagen richtig lenkt", dachte Phillippe.

       Autotür auf, Autotür zu. Sie rauchte.

       „Ich habe Hunger, sagte Phillippe. „Mozzarella mit Tomaten, sagte sie.

    Sie gingen eine Holztreppe hinauf. Tür auf, Tür zu, Klick, eine Papierkrause an der Decke, als Mittelpunkt eine hundert Watt helle Lampe. Tapeten in verschiedenen Rottönen. Wieder eine Tür, hinter der die Taxifahrerin Badewasser einließ. Ein Fenster in den Hinterhof, in der Wohnung gegenüber wurde gefeiert. Ein junger Mann streckte einen Arm in Asbest ins Freie, ein Feuerzeug wurde nachgereicht: Rakete um Rakete wurde so in den Himmel geschossen. Nur das laufende Wasser und das Krachen der Raketen war zu hören. Phillippe sah sich um. Kein Radio, kein Fernsehapparat.

       „Es ist vollkommen egal, ob ich fernsehe oder nicht, nichts verändert mein Leben, wenn ich es tue, aber auch nichts verändert mein Leben, wenn ich es nicht tue. Alle Empfehlungs-Quartette werden mir am nächsten Tag sowieso ins Taxi nachgeliefert. Auf die meisten Kosmetika bin ich allergisch, der Elektrosmog macht mich nervös. Was entgeht mir? Nichts entgeht mir, das Öl für den Mozzarella ist dort, wo die restlichen Lebensmittel sind."

       „Wo sind die restlichen Lebensmittel?", fragte Phillippe durch die angelehnte Badezimmertür.

       „Am Küchenregal, dort wo das Aspirin liegt." Im Hinterhof ertönten laute Schreie und Lärm. Der Raketenschütze dürfte sich trotz Handschutz verbrannt haben. Ein Blick vorbei an der Häuserfront.

       „Feuer!" Ein Holzschuppen stand in Flammen.

       „Raketeneinschlag, Scherbenhaufen", lächelte Phillippe.

       Hinter der Badezimmertür ging ihr Zwitschern weiter: „Glaubst du an Wunder? An die große Beteiligung am Geschehen? An den Bildschirm als ganze Welt? Wie auch immer, ausschnittsweise miterlebt. Geht dir das Erstaunen glatt über die Lippen? Bist du immer noch enttäuscht von dem, was deinen Eltern tun? Glaubst du, wer die Gegenwart auf diese Weise erlebt, kann gelassen in die Zukunft schauen?"

       Eine Feuerwehrsirene näherte sich, sie hörte sich wirklicher an als alles, was Phillippe in der letzten Zeit gehört hatte.

       „Was machst du ... ich meine beruflich?", fragte sie ihn.

       Die rote Unterwäsche der Taxifahrerin lag auf dem Boden vor der Badezimmertür.

       „Bilder, Fotos. Meine allererste Bilderfolge war ein Lesezeichen, erzählte Phillippe gegen die Tür. „Papier in Papier. Die obere Schicht durchsichtig. Wenn man an einer kleinen Quaste zog, schlüpfte die Abdeckung nach unten und die abgebildete Frau stand in roter Unterwäsche da. Blickte einem in die Augen. Und lächelte mit weit nach oben gezogenen Mundwinkeln. Gerötetes Kinn. Am Schulweg wurde diese Bilderfolge beim Durchqueren einer Gartenlandschaft: hinter einem Stein versteckt. Am Weg zurück wieder in die Schultasche verfrachtet. Die Bilder hielten Monate. Die Entdeckung des Sujets durch Freunde machte sie zum Star. Frau im Kostüm, Frau in roter Unterwäsche. Fünf Minuten, fünf Stunden, fünf Wochen und nie eine Lösung. Kostüm, Unterwäsche. Unterwäsche, Kostüm. Welche Geschichten? Welche Fragen? Erst keine Antworten, dann Fantasie und viele Antworten. Der Beginn der krummen Wege.

       „Wo bist du?", fragte sie hinter der Badezimmertür.

       Phillippe überlegte kurz, die Wohnung zu verlassen.

       „Heute Nachmittag hat mir jemand mit zwei kleinen Perlenohrenclips eine Fahrt bezahlt. Wir fuhren stundenlang im Kreis. Als ich irgendwann angehalten habe, bat er mich, mich nackt auszuziehen. Er blieb noch eine Stunde lang stumm sitzen, dann entschuldigte er sich für die verlorene Zeit."

       „Zeit verlieren, heißt nicht: verlorene Zeit."

       „Als er draußen war, wurde ich das Zentrum des Guckkastens. Kein Bedürfnisse, den Fahrgast wieder zu sehen, aber ein Verbot an das Vergessen. Andere Fahrgäste haben auch dafür bezahlt, mich so da sitzend zu sehen. Nickelodeon, mehr noch: ich war mein eigener Spiegel."

       Im Hinterhof wurde wieder gelacht.

       „Wer lebt hier? Was sind das für Leute?", fragte Phillippe.

       „Alle aus einem Käfig entsprungen, antwortete sie. „Haben sich zwischen den Gitterstäben der Information davongemacht.

       Phillippe entdeckte, vor dem Regal stehend, viele Teller mit Tomaten, in jedem Zustand. Manche noch frisch, andere gealtert, einige vom Schimmel zerfressen.

       „Warum will sie ausgerechnet an Tomaten Vergänglichkeit studieren? Abgestelltes Leben oder still gestelltes Leben?"

       Die Tür zum Badezimmer öffnete sich und die Taxilenkerin trat nackt in den roten Raum. Sie stand da wie eine Kadettin bei der Musterung. Phillippe sah die Schnitte an ihrem Körper.

       „Für wie alt hältst du mich?"

       „Sag es mir, wenn du willst, dass ich es wissen soll."

       „Ich bin vierunddreißig und habe noch kein Kind."

       „Irgendwo gibt es ein Lokal, wo man um vier Uhr nachmittags frühstücken kann und um drei Uhr früh zu Abend isst. Fahren wir dort hin. Nicholas' Lieblingslokal."

       „Fotografier mich", forderte die Kadettin mit leiser Stimme.

       „Nicht heute", antwortete Phillippe genauso leise und blickte auf ihre artigen Zehen.

       „Zehn kleine Kadettenkinder."

    Phillippe am Beifahrersitz: „Nicholas war durchaus erfolgreich und machte durchaus erfolgreiche Filme, aber die kleinste alltägliche Erschütterung konnte er nicht beantworten. 'Was mache ich jetzt', hatte er mich gefragt. ,Ich lebe anders, als ich leben möchte, und ich liebe anders als ich lieben will'. - 'Du stellst mir diese Frage als Geschichtenerfinder und Schreiber und weißt keine Antwort auf deine eigene Situation?' - 'Keine Ahnung', hatte er geantwortet, 'ich variiere die Problematik aus einer vorhandenen Dramaturgie. Meine Trennung, meine Scheidung sind ein Ergebnis dessen, was ich von der Leinwand kenne. Und was ich von der Leinwand kenne, kennen auch andere von der Leinwand.'"

       Die Taxilenkerin schwieg.

       Lautes Hundegebell ertönte am rechten beschlagenen Seitenfenster. Parallel zum Taxi fuhr ein Geländewagen. Eine Dogge bellte aus dem geöffneten hinteren Seitenfenster, konnte gar nicht präsenter sein, obwohl nur ab und zu ihr Augenlicht von Phillippe erkannt wurde.

       „Warum muss immer alles beantwortet werden? Sind nicht die Sterne über der Wüste ganz einfach größer, weil sie einem größer erscheinen? Ist die Frage nach dem Murks nicht ganz einfach zu beantworten? Wie schaut der Griff nach dem Schopf des Münchhausen aus? Ist das erlernbar, wie das Anlegen einer Schwimmweste? - Er wollte den Kopf von Alfredo Garcia. Ich habe ihn in der Manteltasche."

       Die Taxilenkerin stellte den Motor ab und zog die Handbremse.

       „Ist es das Lokal, das du mit vier und drei gemeint hast?"

    Es war brechend voll. Ein Männergesicht, das in der Zukunft Damien Hirst die Idee aufdrängen sollte, es in Formaldehyd einzulegen, bewegte sich auf Phillippe zu. - „Du bist in den Jahren, die du weg warst, um mindestens zehn Zentimeter geschrumpft, Diavoletto. - Meckerndes Lachen. - „Aber einen Meter weitergekommen. - Wieder meckerndes Lachen.

       Ein Buch erschien vor Phillippes Nase. Laut

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