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Vereinigung durch den Feind hindurch
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eBook297 Seiten4 Stunden

Vereinigung durch den Feind hindurch

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Über dieses E-Book

Roman über eine aristokratische Liebe in den Zeiten des wildgewordenen Industrialismus.
Rudolf Borchardt, geboren am 9. Juni 1877 in Königsberg, starb am 10. Januar 1945 in Trins/Tirol.
Sein schriftstellerischer Nachlaß wird seit 1989 im Deutschen Literaturarchiv in Marbach/Neckar gepflegt. Die 1954 in Bremen auf Initiative von Rudolf Alexander Schröder und Marie Luise Borchardt gegründete Rudolf-Borchardt-Gesellschaft hat seit 1983 ihren Sitz in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München.
SpracheDeutsch
HerausgeberReese Verlag
Erscheinungsdatum21. Juli 2016
ISBN9783959800655
Vereinigung durch den Feind hindurch

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    Buchvorschau

    Vereinigung durch den Feind hindurch - Rudolf Borchardt

    Inhaltsverzeichnis

    Titelseite

    Vereinigung durch den Feind hindurch

    Über den Autor

    Impressum

    Hinweise und Rechtliches

    E-Books im Reese Verlag (Auswahl):

    Rudolf Borchardt

    Vereinigung durch den Feind hindurch

    Roman

    Reese Verlag

    mediareese.de

    Vereinigung durch den Feind hindurch

    Daß der Mensch, der noch an einem festen Stern hält, sich auch von dem Heiligen, das die Erde zum Sitze von hoffenden Wesen macht, nur um ein ganz Geringes zu entfernen vermag, und selbst Verzweiflung und Trotz und unsinnige Zeit ihn endlich nur in einem winzigen Kreise um den langmütigen Arm der Rettung herumführen, dafür sind die Vorgänge ein denkwürdiges Beispiel, durch die dem ehemaligen Rittmeister von x-ten Jägern zu Pferde, Georg von Harbricht, am Ende einer vierjährigen schuldigen Verbindung mit der Tochter des Generals Grafen von Meyenwörth, dennoch keine der hoffnungslosen Stimmungen erspart geblieben ist, mit denen seine tugendhafteren Väter ihrerzeit den schweren Werbegang zu einem spröden Herzen und unnahbaren Mädchenstolze je angetreten haben mochten.

    Die Freiherren, später Grafen von Meyenwörth zu Wörth und Oberwörth, oberrheinische Reichsritterschaft, die seit den Bauernkriegen von verwüsteten Gütern und verbrannten Burgen in Hofdienst gedrängt worden, hatten im achtzehnten Jahrhundert als Minister und Kammerpräsidenten mehr als eines frevelhaften Kleinstaates den Schrecken leichtsinniger Maitressen und maskierter Kabalen gebildet, und sich im Audienzkabinett gähnenden und unsicheren Serenissimis mit gehaltener Trockenheit oktroyiert. Sie hatten ein Stammgesicht mit einer Familiennase, das in halbdunklen Durchgängen kleiner westdeutscher Sammlungen, unter dem Ausgemusterten, noch häufig aufstößt, das beste in Kassel, wo der kurhessische Minister Graf Ludwig Beat Meyenwörth, von Seyfferth mit dem rot und grün gewässerten Bande des Löwenordens im samtenen Staatskleid vortrefflich gemalt, den gebieterischen Bauernkopf des Hauses von einer Urkunde erhebt, mit gravitätischen Augensäcken, der übergroßen hängenden Fleischnase und dem ohne Lippen zu einem Faden gezogenen Munde des Mannes harter Geschäfte. Um die Jahrhundertwende in kaiserliche Kriegsdienste und von dort in einem Zweige — der andere blieb in Wien — nach Deutschland zurückgespalten, hatten sie neues Frauengut, neue Eigenschaften und Züge aufgenommen, zwischen denen die älteren nur in Einzelnen beharrlich vorschlugen. Sie waren, nach kurzer Prüfung und fester Abstoßung der Gedanken der neuen Zeit, grundsätzlich Militärs, ohne Ehrgeiz, mit mäßigen Retraiten und wenigen Fideikommissen, nachdem der einzige in die Diplomatie Vorgestoßene des Hauses, Graf Wilhelm Ludwig, als Gesandter am Hofe beider Sizilien der Cholera erlegen war. Aus seiner Leipziger Studienzeit, die, zum ersten Male seit einem Jahrhundert, den ehemals so rechtsberühmten Namen wieder immatrikuliert hatte, schrieb sich auch, um das nicht zu vergessen, die Familienbeziehung her, ohne die es zum hier erzählten schwerlich gekommen wäre, denn aus seiner Ehe mit der stolzesten Schönheit des hierin beträchtlichen Bourbonenhofes, der selbst von vollbärtigen Freiheitsbarden besungenen Gräfin Aloysia Aspermont-Mombelli, Tochter des kaiserlichen Geschäftsträgers beim Herzog von Lucca, war der spätere preußische General der Kavallerie Graf Wilhelm Ferdinand als einziges Kind hervorgegangen, der dann seinem wiederum einzigen Kinde die großmütterliche Schönheit und den veralteten Vornamen übertrug; und übertrug auch die Kinder- und Enkelstämme großväterlicher Freundschaften: der junge, strahlend fröhliche, durch seinen natürlichen Freimut bestrickende Reiteroffizier, an den Ysi Meyenwörth, kurz vor seinem Abmarsche zur Front, in jener Augustnacht des väterlichen Bodenseeschlößchens sich verloren hatte, war als altgeliebter Gast nach Rüdlingen gekommen, diesmal für immer vielleicht zu scheiden. Für immer jedenfalls von dem alten Husaren, mit dessen mächtigen grobschädligen Regentenhaupte und dem langfädigen dünnen Schnurrbarte über dem lippenlosen Munde das jahrhundertalte Gesicht des Schlages noch einmal aufgestanden war, um fortan zu verlöschen. Die ostpreußische Mutter, eine zarte kühle Träumerin, mit einem immer verlegen gebliebenen Zuge zu Künsten und Schriften, hatte die Geburt nicht lange überlebt, und hatte gefehlt, als blinde Erschütterung und blinder Drang, im Opferrausche der Todesweihe, für einander unwiderstehlich geworden waren.

    Als der junge Ernst Traugott Harbricht mit Ysis Großvater, von der gleichen Begeisterung für die Antike in Gottfried Hermanns Leipziger Homerkolleg zusammengeführt, die Jugendfreundschaft schloß, die als Bund lebenlang, und in geheimnisvoller Nachströmung über Lebensstufen hinaus, wirken sollte, waren die Harbrichts sich keines Wappenbriefes auch nur von ferne vermutend gewesen. Sie waren eine oberfränkische Sippschaft von Klostervögten, die mit dem neuen Glauben zu weltlichen Amtleuten gewechselt waren, und im Zuge der meißnischen Handelschaft über das Vogtland ins Altenburgische hinauf — kinderreiche, breitsässige, wangenrote Häuser voll schallenden Behagens und berühmten Mutterwitzes, bekannt auf allen Märkten und Messen der Landschaft weit und breit. Sie hatten wohl in jeder Generation einen Bienen züchtenden und Blumenstöcke pflegenden Gottesmann und ein paar abartende und träge jüngere Söhne in den Ehebetten reicher Bauerntöchter am Wege ihrer Wanderung abgesetzt; die echten Harbrichts hielten darum nur zäher am ererbten Geschäfte des Waltens fremder Sache und des behenden Schaltens mit Leuten. Bis auf den Vater jenes Leipziger Burschenschafters, hinter dem die pietistisch gewerbfleißige Mutter unermüdlich getrieben hatte, waren sie ohne andere Schulen als die des Lebens gewesen, und brachten den Wissenschaften einen noch unvergeistigt sinnlichen Triebgrund als reiche Mitgift des Volkes zu. Kein Wunder, daß der Sohn des großherzoglichen Rentmannes, zum ausgezeichneten sachsen-altenburgischen Beamten geworden und vom Herrn hervorgezogen, ein gewandter, sehr ansehnlicher und leichtscherzender Mann, sich auch den Frauen empfahl, und ein Fräulein der kleinen Landesritterschaft, die bis dahin, wohl zu Unrecht, eines weit sträflicheren Ehrgeizes verdächtigte Ernestine von Zwendtwitz, sich unter dem stillen Vorbehalte seiner versicherte, den äußerlichen Standesunterschied mit Hilfe ihrer Wohlaufgenommenheit bei Hofe dermaleinst auszugleichen. Bei den augenfälligen Verdiensten des jungen Kammerrates beim Domänenwesen, dem damals kurz nacheinander reiche Harbrichtsche Erbschaften angefallen waren, hatte sie dies schließlich ebenso erreicht, wie die Unterbringung des einzigen Sohnes in einem der hochmütigsten Garderegimenter und seine Verbindung mit einem der häßlichsten, übrigens gutmütigen Mädchen, die ohne Mitgift unter einem großen Namen Kursachsens saßen. Und mit dessen Nachkommen erst, als hätte das Glück solchen, die sich lieber auf sichere Rechnung stellen, nichts mehr zu schulden gemeint, erreichte der gewitterdunkle Unheilschatten, der schon damals, von grellen Blitzen nur verfinsterter, das ganze Land einzuhüllen sich anschickte, auch Namen und Geschlecht der alten Redwitzer Schaffner, und blieb zweideutig über ihnen stehen. Bei den Unternehmungen des Majors von Harbricht, eines sprunghaften Herrn von schwacher Gesundheit, war kein Segen, in seiner Ehe mit einer hübschen und naiven Österreicherin, einer halben Verwandten mutterseits, kein Friede, und als er vollends quittiert hatte, um es in Breslau, seiner letzten Garnison, der Spekulierwut dortiger großer Herrschaft in Kuxen, Bahnen und Anteilen gleichzutun, wurde es Unsegen. Es war keine ärmliche, aber gewiß keine schwere Leutnantszulage, die Georg Harbricht, kein Verschwender und kein Knauser, am Monatsersten mit einem lustigen Seufzer einstrich; und es war ein Entschluß für den leberleidenden Mann mit den gefärbten Koteletten in der Breslauer Vorstadtvilla gewesen, zwischen faulen Forderungen, Prozessen und Gläubigern die Tausender auszuscheiden, die dem mit Auszeichnung zur Kriegsakademie kommandierten Sohne den einzigen brennenden Wunsch wohl oder übel erfüllen mußten. Der Oberleutnant, Frontsoldat nur aus Pflicht, eine Adjutantennatur zwischen Schreibtischen und Plänen, war im Sattel jedenfalls ganz und gar Kavallerist, ritt schwierige Pferde und hinterhältige Strecken mit der kalten Ruhe, die immer bewundert wird, und pflegte das Material, das er ritt, ebenso wie das, worauf er setzte, schon dadurch zu klassieren. Als er der kleinen, gedrungenen Halbblut-Rappstute Ladylove, während der Bursche die noch dampfende herunterrieb, zum ersten Male als ihr rechtmäßiger Besitzer die Karotte fütterte und den typischen Hals ihrer Rasse klopfte, hatte er über dem wortlosen Glücke des Augenblickes sogar die Arbeit vergessen, auf die er Leben und Zukunft setzte, und zu der er nichts begehrte als die Stärkung des Morgenrittes auf dem hübschen Tiere. Ladylove hatte ihre Pflicht gut getan; es war nicht ihre Schuld gewesen, daß der Krieg ausgebrochen war, genau zwei Monate, nachdem ihr Herr auf Grund einer ungewöhnlichen Behandlung der kriegswissenschaftlichen Aufgabe »Vereinigung durch den Feind hindurch« als Rittmeister zum Großen Generalstabe kommandiert, soeben das bescheidene Erbe übersah, das aus der Verworrenheit des väterlichen Nachlasses mit Mühe hatte herausliquidiert werden können. Die Papiere, mit einem Rucke ins Kuvert zurück gefegt, waren dem greisenschwachen Justizrat wieder zugeschwenkt worden, der wirklich schon unter der alten Exzellenz von Harbricht gearbeitet, und in der Beratung des Enkels seiner Schule jedenfalls keinen Ruhm gemacht hatte. Wer mochte jetzt darüber nachdenken? Schreiben war Reiten und Schlagen geworden, unter ungeheurem Druck, wie Wasser zu Dampf und Kraft. Das schmale Manuskript, das in den Nebenstunden der Generalstabsarbeit und im Sattel auf Ladylove zum Buche hatte ausgedacht werden sollen, vorschriftsmäßig in blau Pappe gezweckt, mit weißem Aufschriftschild, war mit dem Neuen Testament, einem verkürzten Clausewitz und Harbrichts Lieblingsbuche, Tom Jones, in den hölzernen Offizierskoffer gewandert, und dann zwischen Belgien und Polen, Kurland und Venetien und Siebenbürgen und Kleinasien, in Stabsquartieren und Hütten, Ruhelagern, Offizierslazaretten und Gefechtständen oft genug mit bitterer Verwunderung an der Wirklichkeit von vier Jahren strategischer Lähmung und Improvisation gemessen worden. Wann würde je wieder ein Strahl des Rechts auf den Feldherrn und den Soldaten fallen — in einem Zeitalter maschinierter Drosselung des Krieges durch Mordindustrie —, den jene Seiten vorsahen? Klang es nicht wie Verhöhnung, wenn es hier hieß wie hieß es hier? »Zwei Armeen in konzentrischem Vormarsche auf die Hauptstellung des Feindes« — es war wohl die Rede von Kreuzzügen? — »werden ihrer idealen Aufgabe, in erfolgversprechender Lage ihre Vereinigung zur Schlacht vor dem Feinde zu vollziehen« — es mußten wohl wirklich die Kreuzzüge sein —, »praktisch kaum je genügen können. Ein tatkräftig gedachter Feind wird den operativen Nachteil ihrer Trennung auszunutzen versuchen, indem er sich auf einen nach dem anderen wirft und sie einzeln vor der Vereinigung schlägt. Die angefallene oder auf den Feind stoßende Armee hat die anscheinende taktische Aufgabe, den Feind zu schlagen, gegen das unbedingte Festhalten am operativen Grundgedanken zurückzustellen, und unter Schonung ihrer Kräfte und Erhaltung ihrer operativen Freiheit den Gegner zu fesseln, während die zweite Armee, die gegen sie vorgeschobenen Sicherungen umgehend oder überrennend, auf das Schlachtfeld marschiert. Die vor dem Feinde unmöglich gewordene Vereinigung vollzieht sich demnach erst durch den geschlagenen Feind hindurch als einheitliche strategische Handlung mit taktischen Mitteln, und gibt das siegreiche Heer zu neuer operativer Gliederung in die Hand der Führung zurück, um weiteren Widerstandsversuchen kriegsentscheidend zu begegnen und den Frieden herzustellen — —« Harbricht hatte es oft wiedergelesen, Text, Theorie, Marschentfernungen, Rechnungen, Analysen, Gegenentwürfe, Laon, Bar le Duc, Custozza, Königgrätz — und Tannenberg? Kronstadt? Entscheidungsschlachten, kriegsentscheidend, Frieden herstellen? Worte. — Übrigens war er gewesen, was man irgend hatte sein müssen, Bataillonskommandeur im Kampfgraben und Vormarsch, und peinlich gepflegter Adjutant und Ordonnanzoffizier bei Korps- und Armeeoberkommandos, Eskadronchef in Reiterheeren durch die litauischen Wälderweiten und Verbindungsund Nachrichtenoffizier, — hinter sich, als Märchenszenerie, die alte Wirklichkeit, Rüdlingen, Ysi Meyenwörth, seine drei Zimmer in der Hindersinstraße in Berlin, seine Reitpeitschen, eine aus Nilpferdhaut, auf dem goldenen Knopf ein Fragezeichen graviert, seine Pfeifen, seine Bücher, ihren weißseidenen Ballschuh mit Zigarren darin auf seinem Schreibtisch — dort bei sich, im viereckigen Holzkoffer, »Vereinigung durch den Feind hindurch«, ihre Briefe, — nicht viele, nicht lange, nicht ausgesprochene, nicht sehr viel mehr darin als auf ihren Karten auch stand, den Snapshot von einer Gruppe, — damit schlimmstenfalls ihr Bild bei ihm nicht gefunden werden könne — bei ihren italienischen Verwandten aufgenommen, drei fast gleich aussehende Amazonen mit drei gleichen graden Strohhüten auf drei gleich traurigen Mähren mit Heubäuchen — und endlich eine selbstgemachte Kodakaufnahme von Ladylove, ungesattelt nach links stehend, von Leschigk, dem Burschen, als Groom am Halfter gehalten, an seiner Stalljacke fehlte ein Knopf, man sah es mit der Lupe genau. Ysi war den ganzen Krieg hindurch unstet gewesen, bei Verwandten, nirgends lange. Seine Hoffnung, Urlaube ganz mit ihr zu verbringen, war immer wieder von unvorhersehbaren Konvenienzen durchkreuzt worden, — der gemeinsamen Stunden, halben Tage aufs höchste, zu denken hatte er sich im stillen verboten. Nicht einmal seine Gedanken sollten Mitwisser sein. Das Rüdlinger Wasserschlößchen blickte durch die dreimal sich entlaubenden und viermal laubrauschenden Wipfel seiner Ulmen aus blinden Fensterläden auf den verwaisten weiten Wasserspiegel, von dem aus kein vorüberschäumendes Schweizerschiff mehr für den Moment den buntverwitterten Bröckelstuck aufschimmern sah, Reste des gemalten Barockrahmens um die Sonnenuhr der sanft schwefelgelben Front. Die Berliner Etage in der Alsenstraße, einen Sprung von Harbrichts kleiner Suite, tat sich nur auf, wenn die Tochter dem Urlaube des Vaters entgegeneilte, und zum letzten Male, als er, von der rumänischen Ruhr mit dem Tode gezeichnet, im vierten Kriegsjahre die Treppen hinaufgetragen wurde, um unwillig zu sterben. Er hatte die Kriegsverlobung noch gewünscht, die Harbricht mit der Begründung verbeten hatte, man binde keine Mädchenzukunft an ein Versprechen mit fünf Prozent Einlösungswahrscheinlichkeit. Der Brief, in dem Ysi den Wunsch des Sterbenden weitergegeben hatte, ohne ihn zu unterstreichen, flog mit den Essenholern, die den Postsack von Retz in die Stellungen bringen sollten, durch einen Volltreffer ins Nichts und wurde nicht wiederholt. Dann war gekommen, was jeder weiß.

    Als die monatelange Nacht der Starre langsam sich anschickte, zu verziehen, und der Totenwinter als entseelte Wirklichkeit auf die allgemeine Ruine niederblickte, war die papierne Kaufsumme für Rüdlingen, die ein breitspuriger und bald darauf fallierter Konstanzer Holztäuscher nach langem geringschätzenden Abdingen achselzuckend hingeworfen hatte, an Verbrauchsschulden, den unfruchtbarsten von allen, und den Ausweisen zusammengefallener Rechnung am Zerlaufen, und die fast Dreiundzwanzigjährige saß, außer sich vor gefesseltem Zorn, mit schlagenden Adern und flammenden Augen in einem ihrer Maße spottenden Hinterzimmer in Wiesbaden, fiebernd, sie wußte nicht, ob vom Froste, der durch die Bauunternehmerwände ins kaum Geheizte schnitt, oder von der Glut zerreißenden Dranges nach Taten der Vergeltung, — wie in einer schnellen Laufes fortgetragenen und hart abgesetzten Schüssel mit Wasser die empört über den Rand schlagende Welle, die nichts und die sich selber nicht faßt. Aus den Fenstern der freundlichen Rentnersvilla ihrer mütterlichen Jungferntanten, die sie mit Grauen bereits zu Familienpension und Mittagstisch für unmanierliche Verdiener werden fühlte, blickte sie über einen Hintergarten mit den windgequälten Stämmchen junger Obstbäume hinweg auf die Dachpappe eines Warenschuppens und die Schornsteine zweier entfernter Fabriken, und der Blick, den sie einzog, fiel auf den Stickrahmen, den ihr die Nothilfe eines Damenbundes zur Verwertung von Arbeit solcher und ähnlicher Hände zugeschoben hatte. Die Möbel der Berliner Etage, die sie sich geweigert hatte für die frechen Zumutungen der Aufkäufer hinzugeben, kosteten in Unterstellung bei Freundlichen nur die Sicherung gegen den Raub, der gemein geworden war wie Ratten, und täglich fast unter aller Augen Häuser plünderte und Grüfte und Dome erbrach. — Vor Harbrichts Augen, der sie, in einem kurzen Briefe, von Rüdlingen aufbrechen, in Karlsruhe, München, Oberösterreich, Graz, auf einem bayrischen und einem Harzgute hatte auftauchen, im Gasthaus einer fränkischen Kleinstadt zwischen zwei Zügen einem vielgenannten Prinzen und gleich darauf dem nächsten Freunde des Vaters, dem Generalobersten von T., hatte begegnen sehen, stand ihre nach Tat und Ausbruch ringende ungeheure Entwürdigung wie ein vernichtender Vorwurf.

    Von ihm, wenn er sie auch anderes als das kürzeste und kahlste hätte wissen lassen mögen — daß er am Leben, und daß er in Berlin war, und nicht unter den Verzweifelten gewesen, die den Brand mit stroherner Beschwichtigung erst zum Himmel schlagen machten —, hätte sie nicht viel anderes erfahren können, als daß er sich alle Woche mit einem neuen Behelfe fristete und auch für sich selber nicht an die Sturmhaufen von Kriegsknechten dachte, die gerade überall der bleckenden Hundswut entgegentraten. Als er ihr später diese Abkehr mit dem einfachen Satze begründete, er wisse sich nicht die für solche Aktionen notwendigen menschlichen Eigenschaften, war sie anfänglich über dem Lesen gegen ihn aufgefahren; aber es hatte ihrer frauenhaften Art, mit dem kleinsten Instinkt gegen den größten Grundsatz zu gehen, bald darauf genügt, zufällig, gewisse mit den Freikorps verbundene Namen nennen zu hören, um sofort auf das heftigste zu wünschen, daß Georg nicht doch noch anderen Sinnes werde, und ihm dies in einem rasenden Tone des Leidensdranges in seine Arme mitzuteilen, der den ehrlichen Menschen, am Schreibtische in seiner Berliner Auskunftei den Brief durchfliegend, die Farbe hatte wechseln lassen. Er war untergekommen. Ein kleiner sächsischer Husar, den Dolman gegen ein unwinterlich modefarbenes Mäntelchen vertauscht, dem er in der eisgepeitschten Kleiststraße gerade begegnet war, als die Eierkisten den Boden zeigten, aus denen er mit einem Sozius von den Gardeulanen vierzehn Tage lang in einem Stubenlädchen des Kurfürstendammes vielbegehrte Omeletten gebacken hatte — der kleine Rentzsch also, mit dem er auf Reitschule, beim Stab in Schaulen, und bei einem berühmt gewordenen Krach zusammengewesen war, hatte ihn, kurz unter den Arm gefaßt, in jenes, namens der Diskretion der Indiskretion geweihte Institut verbracht, das darauf hielt, so widerstrebende Gegensätze von Gentlemen balancieren zu lassen. Wie lang es ihn halten würde? war Glücksache, überall verflochten sich Abbau und Aufbau bis zur Unentwirrbarkeit. Einstweilen hatte er wieder eine Art Einkommen und eine Wohnung in einer verhärmten Pension des schmutzstarrenden alten Westens, wo abgehungerte Beamtinnen, farblos, gedunsen und gähnend, ihre Leere mit undeutlichen Speisen täuschten und das einfallende Licht aus den Stoffen der Dächer zu sein schien, und des hoffnungslosen Himmels über den Dächern — Schiefer. Georg besaß, außer seinen magazinierten Habseligkeiten und den illusorischen Ansprüchen an den Staat, die rund Zweimalhunderttausend Mark, die der inzwischen verblichene Justizrat so weit in Kriegsanleihe angelegt hatte, wie sie nicht Werte darstellten, an denen Major von Harbricht eine Art Sammlerinteresse gehabt haben mußte, denn es waren fast nur solche, die schwerlich außer ihm jemand besessen hatte; die übrigen, russische Bahnen und Nobel, waren ebenso interessant wie dividendenfern, und der befragte kleine wieseläugige Bankier mit den frischen Farben, dem knatternden Optimismus und der Perle im Schlips, hatte ihm die Notwendigkeit unverzüglicher Abstoßüng zu dringend vorgestellt, um einen noch halbwegs Prüfenden zur Hergabe zu bewegen. Daneben standen die Passiven der väterlichen Spekulation — Schulden auf Jahre hinaus. Wohl, er hatte Verwandte. Ein Ökonomierat Harbricht hatte, als sein Name einmal in den Zeitungen genannt worden war, ihm ins Feld geschrieben — es saßen Harbrichts in sächsischen Ämtern —, wer hatte keine Verwandten? Wo mochten sie jetzt wie alle betteln, sich schicken, sich hetzen7 Man hatte längst aufgehört, einander zu schreiben. Der Mensch war, durch die splitternden und tückischen Verhaue seiner sinnlos gewordenen Kapitalstädte hindurch, wie das Tier durch den Dschungel, auf der Fährte seines Hungers. Ladylove hatte Pabiansky gekauft, gleich nach dem Ende, als man sich noch eilte, Privatschulden zu bezahlen, — der rosige polnische Graf mit der Deutschfreundlichkeit, so bekannt aus den Berliner Kriegssalons, der seine indolente Eleganz und die undurchdringliche Maske des politischen Babys jetzt ebenso gleichmütig durch den Aufruhr wie früher durch die Tees spazieren führte, und Harbricht nie begegnete, ohne ihn um die Gefälligkeit zu bitten, das viel zu wenig bewegte Tier doch gelegentlich zu reiten. Georg lächelte und dankte, mit Hinweis auf seine Bürostunden — am Sonntag arbeite er für sich. »Ah, gewiß Ihre alten « Nein, nicht die alten Studien, der Graf beliebe zu scherzen; bis es wieder einmal eine Armee gäbe, studiere er Psychologie. Pabiansky verstand und hoffte, es werde bald Frühling werden; Harbricht war mit entgegenkommender Verlängerung auf den Sommer, gleicher Hoffnung. Die alte Photographie von Ladylove stand, in einen Kalikostreifen gezogen, auf dem häßlichen kleinen Drechselschreibtisch mit den falschen Furnieren in der Motzstraße, neben dem Konvolut in blau Pappe, und neben Ysis großem Bilde in silbernem Rahmen, jetzt über vier Jahre alt, nach dem einzigen Hofballe, den sie als Debütantin mitgemacht hatte, in großer Courtoilette aufgenommen. Sie hatte ihm damals lachend erzählt, in welchen, von Höflichkeit kaum beherrschten, Grimm sie den zeremoniösen Hofphotographen durch ihre Weigerung versetzt hätte, sich in die bestrickende Komtessenpose schamumflossener Vornehmheit hineindirigieren zu lassen. Sie stand frei und strahlend da, in ganzer Figur, den Fächer zwischen den nicht ganz hängenden Händen, die energischen Lippen in den Winkeln bestimmt angezogen, und hob die herrlichen Augen mit solcher Kraft des Blickes, daß es schien, als höben sie den Kopf selber mit, wie den jenes Ahnen auf dem Kasseler Porträt. Das kleine Stirnband um die trotzigen Haare — man sah die Helle des Blonds deutlich — verringerte die Wirkung, statt sie zu heben. Wenn keine wirkliche Krone, hatte Harbricht oft gedacht —, besser nur dieser Blick.

    Als die Besetzung Wiesbadens kam, floh sie mit fast nichts in Händen nach Bayern zu Freunden, verbrachte den Sommer von Schloß zu Schloß reisend und ließ durch Georg die wenigen Wertgegenstände des Berliner Haushaltes veräußern. Der Freund bot sofort umsichtig den ganzen Kreis der Bekannten auf, die gerade über stückweisen Selbstausverkauf in halbverschämten Kunsthandel zu gleiten im Begriffe waren, saß mit peinlichen Ausländern mandelförmigen Augenschnittes und öliger Haut in den verwahrlosten Prunkcafés der City und erzählte ihnen so lange die bedauerlichsten Kasinogeschichten der sogenannten »Nachsaison«, bis er hundert Dollars mehr für den schwarzen Perser oder das alte Sèvres erhandelt hatte. Er mußte selbst darüber lachen, wie nah der heiße Wunsch, ihr zu dienen, ihn den Fähigkeiten und Lagen der vogtländischen Väter gebracht hatte, von deren Marktleistungen die Sage noch zu seinem Vater gedrungen war. Er forschte die Wünsche unentschiedener Käufer aus, trieb auf und tauschte gegen die Meyenwörthschen Stücke, um vorteilhafter indirekt als direkt zu verkaufen, kannte die Agenten der Türken, die Mittelsmänner der überall Juwelen aufkaufenden Holländer, bewertete Inserate bald untrüglich, ging durch Auktionen, um die Taxen kennenzulernen, und hatte sich im Fluge so eingearbeitet, daß er einen nicht unansehnlichen Dollarscheck überweisen konnte. Unter all dem geschäftigen Treiben, bei hellem Lachen und Spaßen nach außen, hatte er zwar ein schweres Herz verborgen. Ysis Briefe waren seltener und undeutlicher geworden, er war über ihre Pläne und nächsten Vornahmen kaum mehr unterrichtet, während er selber mit beharrlicher Regelmäßigkeit schrieb, ihr das Düstere unter Possen versteckte, Drolliges und Beziehungsvolles aufstöberte und erfand, um sie zu unterhalten. Er hatte seine Betroffenheit zuerst scherzend merken lassen, dann angedeutet und schließlich in einem männlichen und bestimmten Satze ausgedrückt, auf den geantwortet werden mußte. Er wußte echten Takt von seiner konventionellen Schablone zu unterscheiden: sie konnte sein Leben haben, aber er fühlte sich. Als die Antwort kam, telegraphierte er mit Rückantwort einem nach München verschlagenen Kameraden, der ihm vor geraumer Zeit eine damals nichts bessernde Stellung angeboten hatte, nahm die noch freigemeldete in gleicher Nacht telegraphisch an, löste sich tags darauf durch einen bescheidenen Becherklang von den Mit-Verlegenheits-Rechercheuren, die den charmantesten aller Kameraden trübselig scheiden sahen, und saß zwei Stunden später mit seinem Handkoffer auf der Holzbank des Münchner Nachtschnellzuges, angestellter Vertreter einer Straßenbaugesellschaft für einen weiten Radius um München. Der Brief in seiner Tasche, nach dem seine Hand immer wieder mechanisch greifen wollte, um sich immer wieder halbwegs — denn er wußte ihn nun auswendig — eines Besseren zu besinnen, hatte folgendermaßen gelautet.

    »Schloß X-hofen, den 1. März 1920.

    Lieber Bester!

    Du hast recht — ich auch —, nämlich faits accomplis oder nichts, also weder Du noch ich, sondern Wir —, hörst Du das gern, wie ich weiß, so laß gut sein. Ich bin das eitle Sitzen bei all diesen, auch den vortrefflichsten, Schnurr-Pucklich-Pucklichs satt und —, ich weiß untrüglich, daß es aus ist; mit diesem Geschmack auf der Zunge, in der allgemeinen Situation, die keiner fühlen will, und meiner eigenen, mich täglich totstellen — oder lebendig stellen —, Du verstehst — die ignoble Routine von mich-anziehen, ausziehen, umziehen, mitessen, Geschwätz hören —, ich weiß nicht was ich Tollstes lieber täte, und tue doch nur etwas ganz Alltägliches. — Das Gesellschaftliche (platt, so daß man zu seiner Erduldung streng erzogen werden mußte, war es ja immer) nun auch noch ramponiert die Verschwörerei zu imbezill und subaltern auch nur für

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