Die Vertikale der Rolle: Eine Methode zur selbstständigen Erarbeitung der Rolle
Von Jurij Alschitz und Christine Schmalor
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Über dieses E-Book
Generationen von Schauspielern sind mit den Stanislawskij-Klassikern „Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst und an der Rolle“ groß geworden. Aber das Theater des 21sten Jahrhunderts braucht mit seinen eigenen Produktionsbedingungen neue Formen der eigenständigen Arbeit der Schauspieler. Jurij Alschitz hat in jahrelanger theaterpraktischer Forschung in den von ihm gegründeten europäischen Theaterzentren in Deutschland, Italien und Skandinavien die einzigartige Methodik „Vertikale der Rolle“ entwickelt, in verschiedenen Ländern für die Bühnenpraxis erprobt und erfolgreich angewendet. Jurij Alschitz vermittelt in seinem Buch Gedanken zur Ethik des Schauspielberufs, als einer Kunst, die den Schauspieler als Autor, Schöpfer und Zentrum der dramatischen Bühnenkunst sieht und der demzufolge das geeignete handwerkliche Können haben sollte, um diesem Anspruch auch gerecht zu werden. Ausführlich werden die Arbeitsschritte zur „Vertikale der Rolle“ erklärt; sie sind für Schauspieler direkt anwendbar, für Regisseure und Lehrer die Grundlage zur Anleitung dieser Methode.
Ein separates Kapitel beschreibt auf der Basis praktischer Übungen das tägliche Schauspieltraining.
Jurij Alschitz
Der Regisseur, Theaterlehrer und Wissenschaftler Dr. Jurij Alschitz erhielt seine erste Regieausbildung in Moskau bei Prof. J.N. Malkowskij, einem der letzten damals noch lebenden Schüler K.S. Stanislawskijs. Nach zahlreichen Inszenierungen entschied er sich zu weiteren Studien bei den großen Lehrern M. Budkewitsch und A.Wassiljew am GITIS, der Russischen Akademie für Theaterkunst, wo er später eine Lehrposition innehatte. 1987 hat Jurij Alschitz das Theater “Schule der Dramatischen Kunst - Anatolij Wassiljew“ mitbegründet und dort seine eigene Proben- und Trainingsmethode etabliert. Er entwickelte die Methoden der berühmten russischen Theatertradition weiter und schuf sein eigenes pädagogisches System, bei dem das Training im Zentrum für die Ausbildung und Probenarbeit steht. Seit über 20 Jahren leitet er Projekte und Seminare an Universitäten und Theaterschulen in Europa, Asien, Nord- und Südamerika. Er hat das Festival für Trainingsmethoden „Methodika“ ins Leben gerufen, entwickelte die GITIS Fortbildung „School after Theatre“, den ersten M.A. Studiengang zum Schauspiellehrer und gründete die European Association for Theatre Culture mit der er durch Forschung und Lehre neue Impulse für das Theater geben möchte. Das neueste Forschungsprojekt widmet sich weltweiten Trainingsmethoden: The World Theatre Training Library.
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Buchvorschau
Die Vertikale der Rolle - Jurij Alschitz
2003
Teil I
Die Vorbereitung des Schauspielers
„… es ist schön bei euch, Freunde, ich höre euch gern zu,
aber … in seinem Hotelzimmer sitzen und seine Rolle lernen –
wieviel schöner ist das!"
Arkadina, Die Möwe von Anton Tschechow
1. Ortswechsel – aus dem Theater heraustreten
Jeder Beruf hat seine Geheimnisse und die Schauspielkunst hat mehr als genug davon. Meine Mutter war Schauspielerin und ich habe sie oft heimlich an den verschiedensten Orten beobachtet während sie ihre Rollen einstudierte – im Hotelzimmer, auf einer Gartenbank oder im Zugabteil. Ich fand diesen Prozess immer viel interessanter als ihre Proben im Theater und sogar interessanter als die Theateraufführungen selbst. Das ist der Grund, warum ich sogar heute noch mit einer besonderen Ehrfurcht und Aufregung auf die magische Stunde warte, wenn der intime Kontakt zwischen Schauspieler und der gleich zu spielenden Figur zustande kommt, wenn man Zeuge bei der Entstehung des neuen Lebens einer Rolle sein darf, wenn der Schauspieler in den engen künstlerischen Kontakt mit seiner „Personnage" tritt. Es ist die heimliche, wahrhaft magische Stunde. Normalerweise wird in Künstlerkreisen über diesen Moment nicht so gern gesprochen, da er als privat angesehen wird. Der Schauspieler versucht in dieser Zeit allein zu bleiben, und man geht davon aus, dass er ungestört sein will, niemand ihm helfen kann und dass es sich um ein Geheimnis handelt, das dem Schauspieler allein gehört und dass niemand das Recht hat, hier einzudringen. Im Großen und Ganzen ist dieser geheimnisumwitterte Vorgang ein Mythos – allerdings ein wunderschöner.
Jeder Beruf hat seine speziellen Geheimnisse, vor allem aber hat er sein definitives Fachwissen. Welcher Schleier des Mysteriums auch immer den Schauspielberuf umhüllen mag und welche Legenden damit einhergehen mögen, letzten Endes ist es immer nur die professionelle Meisterschaft, die darüber entscheidet, ob ein Schauspieler wirklich an seinen Platz gehört. Diejenigen unter uns, deren Beruf die Erforschung theatraler Vorgänge und deren unbekannte Seiten ist, sollten dem Aspekt der Meisterschaft die größte Aufmerksamkeit schenken. Gerade die Vorbereitung und Erarbeitung der Rolle seitens der Schauspieler wird immer noch „mysteriöses" Gebiet in der Schauspielkunst betrachtet.
Die Erfahrungen aus meiner Arbeit im Theater und als Lehrer führten mich zu einer sehr einfachen Einsicht: ein Schauspieler wird nur dann Meisterschaft erlangen und zum wahren Autor der Rolle werden, wenn er fähig ist, allein zu arbeiten, ohne jede Form von Vermittlung oder Einflussnahme. Als wahrer Autor wird er dann selbst die Verantwortung für den Fortgang seiner Arbeit übernehmen, und kein anderer kann dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Wenn ich mit Schauspielern arbeite, baue ich mein Verhältnis zu ihnen von diesem, wie ich meine einzig vielversprechenden, Standpunkt aus auf. Leider gibt es bis in unsere Tage hinein ungeschriebene Gesetze, wie Proben zu halten seien. Danach meint der Regisseur verpflichtet zu sein, die Rollen in allen Details den Schauspielern veranschaulichen und vorzeichnen zu müssen. Er beschreibt ihnen wie sie konstruiert sind und wie sie auf der Bühne gelebt werden sollen. Aus künstlerischer Perspektive korrumpiert genau das die Schauspieler, zerstört ihre Kreativität und transformiert die Schauspielkunst in ein rein instrumentelles Handwerk.
Jeder Schauspieler und jeder Regisseur weiß aus seiner Praxis, wie oft am Theater kostbare Zeit verschwendet wird. Manche Proben reduzieren sich auf das Auswendiglernen des Textes, manche auf den oberflächlichen Austausch flüchtiger Impressionen aus den Erinnerungen der eigenen Vita. Zu dieser Art von Proben kann ein Schauspieler problemlos unvorbereitet kommen und auch völlig leer – meistens ist das auch der Zustand, in dem er die Probe wieder verlässt. Niemand wird davon Notiz nehmen. Diese passive Zeitvergeudung zerstört kreative Energie und führt zu einer Sterilität des Denkens. Es ist schon erniedrigend genug, wenn die Teilnahme an einer Probe zur Verpflichtung wird, um so schlimmer aber, wenn die Partner, die zusammen spielen wollen, sich in unterschiedlichem Grade engagieren; der eine gut vorbereitet und der andere leer und gelangweilt erscheint. In Situationen wie diesen steigt mir der schale Geruch von Mottenkugeln in die Nase, ich fühle mich stündlich älter werden und spüre, wie dieses tote Theater alle zusammen in den Abgrund zieht. Ich habe wirklich Angst vor dieser Art von Arbeit und von Zeit zu Zeit spüre ich, wie alles in mir revoltiert. Wenn nun aber stattdessen alle, Schauspieler und Regisseur, ihren gesamten Vorrat an Ideen und Vorschlägen, an Träumen und Phantasien einbringen, wenn sie ihre Zweifel gemeinsam lösen, dann wird die Probe zu einem Ereignis, zu einem solch wichtigen Moment, dass freudig erwartet und sorgfältig vorbereitet wird.
In letzter Zeit können wir im Theater eine alarmierende Entwicklung sehen: die für die Proben vorgesehene Zeit wird Stück für Stück reduziert. Man muss für jeden zusätzlichen Tag kämpfen. Die limitierte Probenzeit setzt Schauspielern und Regisseuren in gleichem Maße Grenzen in ihrer kreativen Suche. Sie sind gezwungen, dem Ergebnis Vorrang vor dem Prozess einzuräumen. Jeder sieht ein, dass hier etwas grundsätzlich nicht gut für das Theater ist, lässt sich aber die Bedingungen diktieren und die Situation wird dadurch zunehmend schlechter. Es ist offensichtlich – wenn man dem wachsenden Druck standhalten will, muss man seine Methoden und Techniken ändern, sei es bei der Arbeit an der Rolle oder beim Produktionsprozess als Ganzem. Der Regisseur wird als Gewinner hervorgehen, der als erster den Schwerpunkt in seiner Arbeit mit den Schauspielern verschieben kann:
Meiner Ansicht nach sollte das Zentrum der Aufmerksamkeit verlegt werden und zwar in Richtung individueller Vorbereitung durch die Schauspieler selbst. Die „Hausaufgaben" des Schauspielers sollten in der gesamten Zeit der Vorbereitung mehr Raum einnehmen. Gleichzeitig müssen sie aber methodisch organisiert und mit geeigneten Übungen versehen werden. Ihre Anleitung muss professionellen Maßstäben genügen und aufhören, der Suche nach der schwarzen Katze im schwarzen Raum zu ähneln. Die Theaterproben sollten höchstens ein Drittel der Zeit einnehmen, die man insgesamt für Vorbereitung und Produktion veranschlagt hat. Ihre Qualität richtet sich nicht nach der Menge der verbrachten Zeit, sondern vielmehr nach ihrem Inhalt. Halten wir sie kurz und sporadisch ab. Das einzig Wichtige: sie sollten von allen Seiten gut vorbereitet und fruchtbringend sein. Ein hohes Niveau der unabhängigen Vorbereitung der Schauspieler macht die Probe zu einem wahrhaft kreativen Prozess, macht sie zu dem künstlerischen Ereignis, von dem wir alle – Schauspieler und Regisseure – immer träumen.
Die meisten Lehrbücher für Schauspiel, die ich kenne, vermeiden das Problem der Arbeit außerhalb des