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Kunst und Handwerk des Schauspielers: William Esper lehrt die  Meisner-Technik
Kunst und Handwerk des Schauspielers: William Esper lehrt die  Meisner-Technik
Kunst und Handwerk des Schauspielers: William Esper lehrt die  Meisner-Technik
eBook367 Seiten5 Stunden

Kunst und Handwerk des Schauspielers: William Esper lehrt die Meisner-Technik

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Über dieses E-Book

"Absolut inspirierend und eine brillante Beschreibung der Meisner-Technik." Mary Steenburgen

Sanford Meisner (1905–1997) gehört zu den weltweit einflussreichsten Schauspiellehrern. William Esper erklärt die Grundlagen seiner legendären Methode, führt diese weiter und entwickelt ein aufeinander aufbauendes Übungssystem, um eine wahrhaftige und überzeugende Darstellung sowohl auf der Bühne als auch bei Film und Fernsehen zu erreichen. 
Wie jede Kunst verlangt auch das Schauspiel, dass der Künstler seine Persönlichkeit einbringt, sich "im Moment" öffnet und seinen Instinkten folgt. Dies schafft die Meisner-Technik wie keine andere Schauspielmethode.

"Ich habe mein Leben damit verbracht, mit Schauspielern zu arbeiten. Dazu braucht man nur einige wesentliche Werkzeuge: geduldig sein, konkret sein, prägnant sein, ermutigen, vorschlagen, loben, zuhören. Zum ersten Mal habe ich diese Werkzeuge durch Bill Esper kennengelernt." David Mamet

William Esper hat 17 Jahre als Schauspieler und Schauspiellehrer mit Sanford Meisner zusammengearbeitet. 1965 gründete er das William Esper Studio in New York, das mehrfach zu den "25 Best Drama Schools" in den USA gewählt wurde. 

Damon DiMarco studierte bei William Esper und arbeitet als Autor und Schauspieler.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum17. Apr. 2021
ISBN9783895815546
Kunst und Handwerk des Schauspielers: William Esper lehrt die  Meisner-Technik

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    Buchvorschau

    Kunst und Handwerk des Schauspielers - William Esper

    Sizilianer.

    1

    Beginne neu: Leere deine Tasse

    Wie kommt es, dass Kinder so intelligent und Männer so dumm sind? Es muss wohl an der Ausbildung liegen.

    ALEXANDRE DUMAS (DER ÄLTERE)

    Sechzehn Schüler warten auf Bill, acht Männer und acht Frauen. Diese Schauspieler wurden sehr sorgfältig aufgrund ihres Talentes, ihres Potentials und ihrer Zielstrebigkeit ausgewählt. Sie kommen von überall her: aus den Vereinigten Staaten und aus anderen Teilen der Welt. Einige von ihnen haben eindrucksvolle Lebensläufe; andere haben bisher nur in kleineren Theatern gespielt. Viele von ihnen sind schon von unterschiedlichsten Lehrern unterrichtet worden, die alle verschiedene Herangehensweisen an das Handwerk des Schauspiels vertreten. Jeder dieser Schauspieler scheint talentiert zu sein. In den Aufnahmegesprächen zeigte sich allerdings, dass jeder seine speziellen Probleme und Blockaden hat, die ihn daran hindern, sein Talent voll auszuschöpfen.

    Alle lächeln nervös, aber aufrichtig. Hier und dort stellen sie sich einander vor. Wir warten.

    Die Wände des fensterlosen Studios sind in neutralem Grau gehalten, und es gibt nur eine Tür. Die Klasse sitzt auf Stühlen, die auf einem niedrigen Podest im hinteren Teil des Raums stehen, und sieht über einen freien Bereich hinweg auf diese Tür. Das Podest bildet die Zuschauerebene für die Schüler. Espers Tisch befindet sich seitlich – auch mit Blick auf die Spielfläche.

    Auf dem nackten Boden gibt es nur zwei Matratzen auf niedrigen Bettgestellen, das eine an der linken, das andere an der rechten Wand. Ein Wandregal enthält eine Reihe von Requisiten: Schnapsflaschen, Vasen, Bücher, Küchenutensilien, Weihnachtsbeleuchtung, Kaffeetassen, eine Schreibmaschine wahrscheinlich aus den Vierzigern – alles für den allgemeinen Gebrauch.

    Die Tür zu Studio C schwingt auf und Bill kommt herein. Alle sind sofort ruhig. Bill geht zielstrebig an seinen Tisch und brummt ein »Hallo«, das die Klasse begeistert zurückgibt. Er setzt sich an den Tisch, öffnet das nagelneue Klassenbuch und liest einige Sekunden darin. Dann, anscheinend zufrieden, blickt er auf und fängt an.

    ***

    »Es war einmal ein Schüler, der unbedingt etwas über Zen wissen wollte. Also ging er zu dem Haus eines großen Zen-Meisters. In einem Moment untypischer Liebenswürdigkeit bat der Meister den Schüler einzutreten.

    Sie setzten sich, um Tee zu trinken. Der Meister fragte den Schüler: ›Warum bist du gekommen?‹ Der Schüler öffnete den Mund und plapperte los. Es ergoss sich ein Strom von Worten: Zeugnisse seiner großen Neugier, seiner Leidenschaft, seines Verständnisses und seiner Verwirrung in Bezug auf Zen. Er redete und redete. Der Meister schloss kurz die Augen und machte sich an die Arbeit, um Tee zu kochen. Er stellte Teetassen hin, zerrieb die Teeblätter und kochte Wasser, während der Schüler weitersprach.

    Der junge Mann schloss erst den Mund, als der Meister anfing, den Tee einzugießen. Der alte Mann füllte die Tasse des Schülers, bis der Tee über den Rand schwappte und kochend heiß über den ganzen Tisch floss. ›Um Himmels willen!‹, rief der Schüler. ›Was haben Sie getan?‹

    Der alte Mann hielt inne und sagte: ›Dein Geist ist wie diese Teetasse. Wie kann ich sie füllen, wenn sie schon voll ist? Wenn du Zen lernen willst, musst du mir eine leere Tasse bringen.‹«

    Bill sitzt da und beobachtet, wie die Klasse das aufnimmt.

    »Jetzt sagt mir«, fragt er. »Warum seid ihr hier?«

    Zuerst antwortet niemand. Dann sagt jemand aus der hintersten Reihe: »Um das Schauspielen zu lernen.«

    Bill denkt darüber nach. »Ja, aber was ist Schauspielen genau? Wenn du es lernen willst, ist es gut zu wissen, was es ist.«

    Keiner sagt etwas. Also sagt Bill: »Nehmen wir einmal an, ihr lauft in Manhattan herum und begegnet einem Marsmenschen. Einem waschechten Marsbewohner – einem Außerirdischen von einem anderen Planeten. Ihr wisst, dass er Marsianer ist, weil er ein kleines Männchen ist, mit grüner Haut und wackelnden Antennen auf dem Kopf.«

    Ich schaue mich um. Alle Augen sind weit aufgerissen.

    »Na klar, natürlich seid ihr ein bisschen neugierig, oder? Nehmen wir mal an, ihr unterhaltet euch mit diesem Typen. ›Wie ist das Leben so auf dem Mars?‹ – ›Oh, nicht schlecht. Und wie ist’s auf der Erde?‹ – etwa in der Art. Und irgendwann fragt der Marsianer: ›Und was machst du so? Ich meine, was ist dein Beruf?‹ Und du sagst ihm – stolz, wie ich hoffe: ›Ich bin Schauspieler.‹

    Der Marsianer fragt: ›Wirklich? Schauspieler? Was ist das? Wir haben keine Schauspieler auf dem Mars.‹ Wie würdet ihr ihm erklären, was genau ein Schauspieler macht?«

    Ein dünner, drahtiger junger Mann mit schwarzem Haar und ansteckendem Grinsen hebt die Hand. Dank der vorangegangenen Vorstellungsrunde weiß ich, dass er Trevor heißt. Bill zeigt auf ihn und Trevor sagt: »Schauspielen bedeutet, in einer Illusion zu leben.«

    Bill zieht eine Augenbraue hoch. »Hm. Da bist auf der richtigen Spur. Wenn du Illusion sagst, nehme ich an, du versuchst etwas über Vorstellungskraft zu sagen, nicht wahr?«

    Trevor denkt nach. Nickt.

    »Gut. Weil Vorstellungskraft sehr wichtig für Schauspieler ist und wir sie häufig einsetzen werden. Aber lassen wir das erst einmal und kommen später darauf zurück. Wer hat noch eine Idee?«

    Eine hübsche blonde Frau mit einem leichten britischen Akzent hebt die Hand. Sie stellt sich als Amber vor. Bill zeigt auf sie. »Also, was glaubst du? Was ist Schauspielen?«

    »Schauspielen ist eine Art von Unterhaltung«, sagt sie.

    Bill zuckt leicht zusammen: »Okay«, sagt er. »Aber das sind Freakshows auf Jahrmärkten, Krocketpartien und Wrestling auch. Genau betrachtet, ist Flohhüpfen auch eine Art von Unterhaltung. Ich hatte gehofft, wir könnten hier etwas Höheres anstreben. Ich möchte nicht unfreundlich sein, aber es sollte schon mehr sein als nur Unterhaltung. Viel mehr. Sonst wären wir alle Komiker, keine Künstler.«

    Vanessa, eine zierliche Afro-Amerikanerin, sagt: »Wisst ihr, was ich dem Marsbewohner sagen würde? Ich würde ihm sagen, dass Schauspielen das Darstellen einer Figur aus einer Geschichte ist.«

    Bill denkt nach. »Okay«, sagt er. »Aber lass mich das klarstellen. Die Geschichte, von der du sprichst, die findet doch auf der Bühne statt, oder? Also … ist sie echt?«

    Vanessa denkt einen Moment nach. Dann schüttelt sie den Kopf.

    »Nein, ist sie nicht«, sagt Bill. »Mit anderen Worten, es ist eine Arbeit der Vorstellungskraft. Und damit sind wir wieder bei der Vorstellungskraft.« Er blickt zu Trevor, der nickt. »Vielleicht halten wir fest, dass Schauspielen etwas mit der Vorstellungskraft zu tun haben muss

    Einige Schüler fangen an, sich Notizen zu machen. Bill fährt fort: »Hier im Studio gibt es eine Arbeitsdefinition für Schauspielen. Diese Definition stammt direkt von meinem eigenen Lehrer, Sanford Meisner, und ich persönlich halte sie – nach vierzig Jahren Unterricht – noch immer für richtig. Sandy sagte: ›Schauspielen ist wahrhaftiges Leben unter imaginären Gegebenheiten.‹³ Versteht ihr das?«

    Sechzehn Köpfe gehen auf und ab, während sich die Klasse über ihre Notizbücher beugt.

    Bill kratzt sich am Kinn und runzelt die Stirn. Dann fährt er fort: »Also gut. Dann lasst uns das ein bisschen untersuchen. Schauspielen ist wahrhaftiges Leben unter imaginären Gegebenheiten. Schön. Aber bevor wir weitergehen, lasst uns diese Definition zunächst einmal untersuchen. Mir scheint, es gibt zwei wichtige Dinge in dieser Definition, die berücksichtigt werden müssen. Welche sind das?«

    »Wahrhaftig zu leben«, sagt jemand in der ersten Reihe.

    »Richtig«, sagt Bill, »das ist ganz wichtig. Was noch?«

    »Das Imaginäre. Die Vorstellungskraft«, sagt eine weibliche Stimme hinter mir.

    »Gut«, sagt Bill. »Lasst uns versuchen, diese Dinge aufzuzeigen.«

    Bill blickt zur Studiotür, als erwarte er jemanden. Dann sagt er: »Wahrheit ist so wichtig für die Kunst – denn beurteilen wir die Dinge nicht danach, wie wir sie sehen? Denkt darüber nach. Ist einer von euch jemals aus einem Theater oder einem Film gekommen und hat gesagt, ›Oh, das hat mir wirklich gefallen! Das war so verlogen! Ich habe nicht einen Moment daran geglaubt!‹«

    Alle lachen. Auch Bill kichert: »Wahrheit ist die Essenz der Kunst. Ohne Wahrheit kann ein Kunstwerk den menschlichen Geist nicht berühren.« Jemand in der hinteren Reihe brummt zustimmend, und Bill fährt fort: »Schauen wir uns jetzt den zweiten Teil der Definition an, den imaginären Teil. Die Fantasie ist von zentraler Bedeutung für Schauspieler, da sich alles, was wir tun, in der Welt der Fantasie abspielt.

    Wenn ihr euch ein Stück anseht – Hamlet zum Beispiel –, wisst ihr, dass der in Schwarz gekleidete Mann nicht wirklich der Prinz von Dänemark ist. Dass die Frau, die ihren Schwager heiratet, nicht wirklich die Königin ist. Tatsache ist, dass ihr nicht einmal in Dänemark seid. Ihr sitzt im zweiten Rang eines Broadway-Theaters in der Vierundfünfzigsten Straße, und das Ganze ist ein Lügengewebe, ein Fantasiegebilde von William Shakespeare. Wenn also alles Lüge ist, wie können wir sagen, dass es wahr ist?«

    Amber blickt auf. »Weil wir vergessen, dass es eine Lüge ist, wenn die Schauspieler gut sind.«

    Bill nickt. »Stimmt. Wenn die Schauspieler gut sind, beginnen wir auf das Bühnengeschehen so zu reagieren, als ob es real wäre, als ob wir einem tatsächlichen Ereignis zuschauten. Weißt du, warum das so ist?«

    Amber denkt nach und schüttelt dann den Kopf.

    »Weil nämlich, wenn die Schauspieler wirklich gut sind, das, was wir sehen, nicht vorgetäuscht ist. Es ist Wirklichkeit. Wisst ihr, warum? Hemingway sagte einmal: ›Alle guten Bücher haben eine Sache gemeinsam – sie sind wahrer, als wenn sie wirklich passiert wären.‹ Ist es nicht genau das, worüber wir hier gerade reden?«

    Alle schreiben mit. Bill fährt fort: »Kennt ihr den großen Harold Clurman? Er war ein angesehener Kritiker, Regisseur und Lehrer, der maßgeblich an der Gründung des Group Theatre beteiligt war – das vielleicht wichtigste Theater, das wir in diesem Land je hatten. Eines seiner Bücher war eine Sammlung seiner Theaterkritiken mit dem Titel Lies Like Truth (Lügen wie Wahrheit). Ich liebe diesen Titel, weil er die Essenz des Theaters in drei einfachen Worten ausdrückt. Lügen wie Wahrheit. Das ist das Wesen allen guten Schauspielens: Illusion, die real ist. Fantasie, die wahr gemacht wird.«

    Eine ältere Frau, Joyce, meldet sich. Mir fällt wieder ein, was Bill mir von ihr erzählt hat. Sie war einige Jahre recht erfolgreich in einem regional theater, bevor sie eine Pause einlegte, um eine Familie zu gründen: »Du meinst also, dass Schauspieler Lügner sind?«

    Die Klasse lacht. Bill wendet sich ihr zu und lächelt: »Das ist in der Tat genau das, was ich sage.«

    Die Klasse hört auf zu lachen.

    »Ja, Schauspieler sind wunderbare Lügner. Sie bringen einen dazu, alles zu glauben, oder? Sie können einen davon überzeugen, dass sie gerade eine Million Dollar gewonnen haben oder dass ihre Mutter heute früh gestorben ist. Sie sprechen mit einem Akzent und lassen einen glauben, sie seien Deutsche, wenn sie in Wirklichkeit Australier sind. Sie sind wunderbare Lügner – aber der Unterschied ist: Ihre Lügen gründen immer auf Wahrheit und immer – immer! – dienen ihre Lügen der Kunst.«

    Die Klasse schweigt. Nach einem längeren Moment fährt Bill fort.

    »Ihr wisst, dass ich immer Gespräche mit den Schülern führe, bevor sie mit dem Unterricht bei mir beginnen. Oft frage ich: ›Hast du vorher schon einmal gespielt?‹ Manchmal sagt einer: ›Na ja, nein! Ich habe noch nie gespielt – weder in einem Theaterstück noch im Fernsehen oder in einem Film. Aber ich spiele ständig! Im Leben!‹ In Wirklichkeit meint er, dass er viel lügt. Dazu sage ich: ›Unsinn! Das ist nicht Schauspielen.‹ Weil Schauspielen nicht unter echten Lebensbedingungen stattfindet; es spielt sich innerhalb der Grenzen von imaginären Gegebenheiten ab.«

    Bill macht eine nachdenkliche Pause: »Versteht ihr den Unterschied?«, fragt er.

    Die Klasse nickt.

    »Also, wir haben diese wunderbare Arbeitsdefinition für Schauspielen: Schauspielen ist wahrhaftiges Leben unter imaginären Gegebenheiten. Aber es gibt da ein Problem, oder nicht? Ihr seht das Problem, oder?«

    Die Klasse starrt Bill mit ausdruckslosen Gesichtern an.

    »Nun, es ist eine recht allgemeine Definition, oder nicht?«

    Niemand antwortet.

    »Ich zeige euch, was ich meine.« Bill zeigt auf einen der jungen Männer in der ersten Reihe. »Wie heißt du?«

    Der junge Mann hat dichtes schwarzes Haar und einen offenen Gesichtsausdruck, der gleichzeitig alarmierend direkt und verletzlich ist. Er sagt: »Ich heiße Dom.«

    »Okay, Dom«, sagt Bill. »Wie lautet unsere Definition für Schauspielen nochmal?«

    Dom wiederholt: »Wahrhaftiges Leben unter imaginären Gegebenheiten.«

    Bill lächelt. »Könntest du mir bitte einen Gefallen tun?«

    Dom ist vorsichtig. »Klar.«

    »Könntest du bitte nach vorne kommen und für alle ›wahrhaftig leben‹? Natürlich nur als Beispiel.«

    Dom rührt sich nicht.

    Bill beugt sich vor. »Gibt es ein Problem?«

    »Ich kann … Ich meine … Ich …«

    »Was ist los?«

    »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«

    »Warum nicht?«

    Verwirrung breitet sich auf Doms Gesicht aus. »… ›leben‹ …?«

    Bill runzelt die Stirn. »Weißt du nicht, was ›leben‹ bedeutet?«

    Dom müht sich mit der Frage für einen Moment ab, schüttelt aber schließlich den Kopf.

    »Okay«, sagt Bill. »Das ist das Problem, über das ich gesprochen habe. Wir müssen das genau definieren, bevor wir weitermachen. Was bedeutet ›leben‹?«

    Ein kurzer Blick in die Klasse zeigt mir, dass jeder versteht, worauf Bill hinauswill.

    Bill sagt: »Dom, ich stelle dir jetzt mal eine Frage. Hast du heute gelebt? Du warst am Leben, nicht wahr? Heute Morgen, meine ich.«

    Dom denkt nach und nickt sehr langsam.

    Bill lächelt Dom an und fährt fort: »Okay. Gut zu wissen. Also, Dom, als du am Leben warst heute Morgen, was hast du gemacht?«

    »Heute Morgen?«

    »Bevor du hierhergekommen bist, ja.«

    Dom denkt einen Moment lang nach. »Ich bin aufgestanden. Ich habe Frühstück gemacht. Ich habe es gegessen.«

    Bill macht einen zufriedenen Eindruck. »Aha«, sagt er – als wollte er sagen, sprich weiter.

    Dom blickt an die Decke, denkt nach: »Ich habe ein paar Anrufe gemacht. Ähm … dann habe ich die Zeitung geholt und die Jobanzeigen durchgesehen. Dann habe ich meine Telefonrechnung bezahlt, bin zur U-Bahnstation, habe eine Fahrkarte gekauft und bin hierhergekommen.«

    Bill nickt zufrieden: »Gut. Also. Du hast diese ganzen Dinge gemacht, nicht wahr? Und vielleicht machst du morgen noch ein paar Dinge mehr. Vielleicht sehr viel mehr. Richtig?«

    Dom zuckt mit den Schultern. »Muss ich. Ich brauche einen Job.«

    Die Klasse lacht.

    Bill lächelt: »Das kann ich verstehen. Aber hör zu. Vielleicht hast du die Frage, was ›leben‹ ist, schon beantwortet.«

    Dom starrt ihn erwartungsvoll an.

    »Du hast gesagt, dass du all diese Dinge getan hast und morgen noch ein paar Dinge mehr tun wirst. Also, vielleicht kann ›leben‹ definiert werden durch das, was du tust

    Dom denkt nach und nickt. Das leuchtet ihm ein.

    Bill schaut wieder die Klasse an: »Hört zu, das ist sehr wichtig. Wir ersetzen das Wort ›leben‹ mit ›handeln‹. Jetzt haben wir also: Schauspielen heißt handeln wirklich tun – wahrhaftig unter imaginären Gegebenheiten.

    Dieses Prinzip – die Realität des Handelns – ist das Fundament aller Schauspielkunst und der Grundpfeiler von Sanford Meisners ganzer Arbeit.⁴ Der Fokus unserer Arbeit wird also sein zu lernen, wirklich zu handeln oder etwas wirklich zu tun. Das ist unser erster Schritt auf dem Weg zur Schauspielkunst.«

    Ein spindeldürrer Mann mit blonden Locken und einer hämischen Stimme ruft dazwischen. Es ist Kenny.

    »Aber woher wissen wir, wann wir wirklich etwas tun statt … Du weißt schon.«

    Bill legt den Kopf schief: »Statt etwas nicht zu tun? Statt etwas vorzutäuschen?«

    »Ja.«

    »Sag mal, wie viele Buchstaben haben dein Vor- und Nachname zusammen?«

    »Was?«

    »Ich habe gefragt, wie viele Buchstaben dein Name hat.«

    Kenny sagt: »Weiß ich nicht.«

    »Zähle sie für mich.«

    Kenny sieht geflissentlich über Bill hinweg. Dann runzelt er die Stirn und fängt an, sich zu konzentrieren. Er formt die Buchstaben seines Namens mit dem Mund, während er mit den Fingern zählt. Schließlich sagt er: »Elf.«

    Bill nickt: »Also hast du die Buchstaben wirklich gezählt? Oder hast du vorgetäuscht, sie zu zählen?«

    Kenny überlegt: »Ich … Oh. Alles klar. Ich verstehe. Das ist der Unterschied.«

    »Genau«, sagt Bill, »das ist der Unterschied. Jetzt möchte ich, dass ihr alle etwas versucht. Versucht euch an den Tag vor genau zwei Wochen zu erinnern. Ich möchte, dass ihr euch an diesen Tag erinnert … und erinnert euch an alles, was ihr gegessen habt.«

    Sofort schweigt die Klasse. Nach einem kurzen Moment fragt Bill: »Wie viele von euch können sich erinnern?«

    Ein paar Schüler heben die Hand. Die meisten jedoch nicht.

    »Dann lasst mich Folgendes fragen: Auch wenn ihr euch nicht erinnern könnt, habt ihr wirklich versucht, euch zu erinnern? Oder habt ihr nur so getan?«

    Alle murmeln: »Versucht. Wirklich versucht.«

    »Dann ist es das, was wir wollen. Das ist die Realität des Handelns. Jetzt wollen wir etwas anderes hinzufügen. Von dort, wo ihr gerade sitzt, möchte ich, dass ihr alle einen Moment lang zuhört. Aber ihr müsst wirklich zuhören, denn der Klang, den ihr hören sollt, ist sehr weit weg. Ich möchte, dass ihr auf den Chor der Engel hört, die über euren Köpfen singen. Versucht zu hören, welches Lied sie singen.«

    Wieder gespanntes Schweigen in der Klasse. Einige Augenblicke später fragt Bill: »Wer hat die Engel gehört?«

    Keine Hand geht nach oben, also sagt Bill: »Das ist gut. Denn wenn ihr das getan hättet, müsste ich euch einige ziemlich starke Medikamente verordnen.«

    Die Klasse lacht.

    »Aber worauf ich hinauswill: Ist es wichtig, ob ihr sie gehört habt oder nicht?«

    Ein schlaksiger Afro-Amerikaner mit Schmollmund meint: »Nein. Es ist nur wichtig, dass wir tatsächlich versucht haben zuzuhören.«

    Bill nickt: »Genau. Wie heißt du?«

    »Quid.«

    »Quid, sehr gut. Würdest du mir einen Gefallen tun?«

    Quid nickt.

    »Es gab gestern Abend einen Unfall hier im Studio. Sehr bedauerlich. Ich glaube, da sind noch ein paar Blutflecken auf dem Bettlaken da drüben. Schau mal nach, ob du sie siehst.«

    Quid blinzelt nervös bei dieser merkwürdigen Aufforderung, steht aber leichtfüßig von seinem Platz auf und geht zu dem Bett, auf das Bill gezeigt hat. Er untersucht schnell das Bettlaken und findet nichts. Dann schaut er genauer und sucht das Laken Zentimeter für Zentimeter ab. Immer noch nichts. Während wir zuschauen, zieht er das Bettgestell von der Wand und untersucht das Laken aus einem anderen Blickwinkel. Nichts. Dann zieht er das Laken von der Matratze ab und dreht es um, um die andere Seite zu prüfen; wieder sucht er den Stoff Zentimeter für Zentimeter ab. Er ist mittendrin in seiner Suche, als Bill schließlich fragt: »Findest du nichts?«

    Quid schreckt aus seiner Konzentration hoch: »Was? Nein.«

    Bill wendet sich wieder an die Klasse: »Natürlich nicht, denn die Blutflecken sind imaginär. Aber ist das wirklich wichtig?« Alle schütteln den Kopf: »Warum nicht?«

    Adam hat die stämmige Figur eines professionellen Holzfällers. Ich habe sogar jemanden in Bills Büro sagen hören, dass er im College Football gespielt hat. Er scheint skandinavischer Herkunft zu sein, doch sein Nachname ist italienisch. In Wirklichkeit ist er Sizilianer. »Es ist nicht wichtig, dass da Blutflecken sind«, sagt Adam. »Sondern, dass er wirklich nach ihnen gesucht hat.«

    »Das ist richtig«, sagt Bill. »Ich sage es noch einmal! Die Realität des Tuns ist die einzige und wichtigste Regel für wahrhaftiges Handeln. Es ist der Schlüssel, der es euch ermöglicht, die Tür zur imaginären Welt zu öffnen, sie zu betreten und dort wahrhaftig zu leben.

    Wir wollen noch einmal auf die vorhin erwähnte Hamlet-Inszenierung zurückkommen. Kennt jeder das Stück?«

    Ja, erklingt es unisono.

    »Gut. Schauspieler sollten Hamlet kennen. Also sagt mir, worum geht es in dem Stück?«

    Ein Afro-Amerikaner mit der Statur eines Zero Mostel, einem bleistiftdünnen Schnurrbart und einem sanften Südstaaten-Tonfall meldet sich.

    Er heißt Reg. Er sagt: »Es geht um Leidenschaft, Schmerz und Rachsucht.«

    Bill zuckt mit den Schultern: »Du hast mir eine Liste von Emotionen gegeben, aber ich möchte, dass du damit sehr vorsichtig bist. Viele Leute denken, dass Emotionen – Gefühle darstellen – die Eckpfeiler guter Schauspielkunst seien. Robert (Bobby) Lewis pflegte zu sagen: ›Wenn Schauspielen Weinen bedeutete, wäre meine Tante Tessie eine großartige Schauspielerin.‹«

    Die Klasse lacht.

    »Versuchen wir es noch einmal. Ihr kennt die Geschichte von Hamlet. Also lasst uns das Stück wie Schauspieler betrachten. Da gibt es diesen Prinzen in Dänemark. Was tut er in dem Stück?«

    Kenny ruft: »Er sieht den Geist seines Vaters und hört das Geheimnis, das der Geist ihm mitteilt.«

    »Richtig«, sagt Bill. »Was noch?«

    Amber: »Er gibt vor, wahnsinnig zu sein.«

    Kenny: »Er trennt sich von Ophelia.«

    Reg: »Er stellt die Schauspieler ein, schreibt eigens ein Stück für sie und schult sie, es genau so zu spielen, wie er es möchte.«

    »Sehr gut«, sagt Bill. »Weiter.«

    Mimi, Fernsehstar einer Sitcom aus den Achtzigern: »Er denkt über Selbstmord nach. ›Sein oder Nichtsein!‹«

    Trevor: »Er tötet Polonius.«

    Kenny: »Oh! Und er legt die beiden anderen Typen rein, Rosenkranz und Güldenstern.«

    »Das ist richtig«, sagt Bill. »Und so weiter und so fort. Also, Hamlet tut all diese Dinge. Deshalb muss der Schauspieler, der den Hamlet spielt, auch diese Dinge tun. Er muss wirklich unter den imaginären Gegebenheiten des Stücks handeln. Und wenn der Schauspieler all diese Dinge tut – wirklich handelt –, was passiert dann?«

    »Er wird zu Hamlet«, sagt Dom leise.

    »Noch nicht«, sagt Bill. »Aber es ist ein verdammt guter Anfang.«

    ***

    Das Gespräch geht weiter. Sehr bald wird allen klar, dass, wenn Schauspielen mit der Realität des Handelns beginnt, sie alle ihr Leben lang bereits gehandelt haben.

    Sie haben sich wirklich jeden Morgen ihre Schuhe zugebunden. Sie haben sich wirklich eine Tasse Kaffee gemacht. Wirklich ihre Rechnungen bezahlt. Wirklich Sex gehabt. Wirklich Filme angeschaut. Sich wirklich gefragt, wohin sie ihr Leben führen wird. Wirklich gearbeitet, um zu überleben. Wirklich das Bett gemacht, Wäsche gewaschen, und sie sind wirklich mit dem Hund spazieren gegangen.

    Von dem Moment an, in dem wir den Mutterleib verlassen, verpflichten wir uns alle zu Handlungen. Wir handeln. Schauspieler handeln.⁵ Ja, es ist noch weit entfernt von Hamlet, vor allem weil keine dieser Handlungen unter imaginären Gegebenheiten ausgeführt wurde. Aber es waren nichtsdestotrotz Handlungen und daher – wie Bill gesagt hat – ein verdammt guter Anfang.

    ***

    Bill erläutert seine Ansichten über das Schauspielen als Kunst: »Diese Arbeit hat ein Credo, ein Glaubensbekenntnis, wenn ihr so wollt. Ich glaube, dass Schauspielen in den besten Händen eine kreative Kunst wird, und dass wahre Spitzenleistung in der Praxis nur durch die Gesamtbeherrschung des technischen Handwerks erreicht werden kann. Das braucht leider Zeit, und Amerika ist ein Ort der Hast und Eile. In Amerika glauben wir, dass wir etwas dadurch gewinnen, wie schnell sich alles um uns bewegt. Jeden Tag, schneller und schneller. Aber was übersehen wir dabei?

    In Japan gibt es eine wunderbare, uralte Form des Puppentheaters, das Bunraku. Diese Puppen kann man nicht mit europäischen Marionetten vergleichen. Bunraku-Puppen sind lebensgroße Nachbildungen von Menschen. Jede Puppe wird von drei Puppenspielern geführt, die – anders als europäische Puppenspieler – auf der Bühne für die Zuschauer zu sehen sind.

    Eine Bunraku-Aufführung zu erleben ist eine unheimliche Erfahrung. Diese Puppen sind so lebensecht! Sie bewegen sich wie Menschen; sie haben sogar einen Gesichtsausdruck. Hinter ihnen stehen die schwarz gekleideten Puppenspieler – deutlich sichtbar. Sie bewegen sich um die Puppe wie griechische Schicksalsgöttinnen. Ein Puppenspieler bewegt Beine und Füße. Ein anderer bewegt Torso und Arme der Puppe. Der dritte kontrolliert den Kopf. Mit all diesen Händen am gleichen Instrument ist es leicht vorstellbar, dass es eine Menge Missverständnisse, Verwirrung und Disharmonie gibt. Aber weit gefehlt! Die Bewegungen der Bunraku-Künstler sind so synchron, dass man sofort vergisst, dass man einer Puppe zusieht. Bunraku verwandelt die hölzerne Puppe in weiches, lebendiges menschliches Fleisch. Eine unglaubliche Kunst.

    Das erzähle ich euch, weil ihr wissen sollt – um Bunraku-Puppenspieler zu werden, müsst ihr zwanzig Jahre in die Lehre gehen!

    Das Erste, was ein junger Lehrling lernt, ist, wie die Füße der Puppe bewegt werden. Dann – nach acht oder neun Jahren – geht er zu Torso, Armen und Händen über. Endlich, nach sehr, sehr langer Zeit, lernt er, den Kopf und das Gesicht der Puppe zu kontrollieren. Zu diesem Zeitpunkt ist er mit jeder Angewohnheit und Bewegung der Puppe bestens vertraut.«

    Bill hält inne und richtet seinen Blick auf die Klasse: »Zwanzig Jahre, um eine Kunst zu lernen. Mein Gott! In unserem Land gehen wir davon aus, dass jemand in zwanzig Jahren vier bis fünf Mal den Beruf gewechselt hat. Wo liegt unser Fokus? Natürlich sind wir eine vergängliche Kultur. Aber nichts, was sich zu lernen lohnt, geht schnell. Das hat Sandy gesagt, und ich habe mich immer daran gehalten: Es dauert zwanzig Jahre, um ein Meister des Schauspiels zu werden.

    Bevor wir mit dem Unterricht anfangen, muss ich euch diese Frage stellen: Seid ihr hierhergekommen, um Schauspielen zu lernen? Oder seid ihr mit dem Hirngespinst des kommerziellen Erfolgs hergekommen? Ich frage deshalb, weil ich euch warnen muss – denn, was ich hier unterrichte, ist ein Handwerk, das euch hoffentlich ermöglicht, Kunst zu schaffen. Es stimmt, viele meiner Schüler und Schülerinnen haben sich im Schauspielgeschäft ziemlich gut geschlagen. Und wenn ihr kommerziellen Erfolg habt, gut. Dann könnt ihr euch glücklich schätzen. Aber das ist nicht der Grund, warum wir schauspielen! Der einzig wahre Grund, sich einer Kunst zu widmen, ist, dass sie eure Leidenschaft

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