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Zeitalter der Urwesen: Mondlicht im Schatten
Zeitalter der Urwesen: Mondlicht im Schatten
Zeitalter der Urwesen: Mondlicht im Schatten
eBook452 Seiten6 Stunden

Zeitalter der Urwesen: Mondlicht im Schatten

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Über dieses E-Book

Als die Fotografin Irene Stevens einen Angriff schrecklicher Kreaturen auf einige Menschen beobachtet und ihre Schwester auch noch von diesen Wesen entführt wird, verändert sich ihr Leben schlagartig. Bevor sie Hilfe holen kann, zwingt der mysteriöse Conrad Lorenz sie, ihn zu begleiten. Auf der Suche nach ihrer Schwester gerät Irene selbst ins Visier der dunklen Mächte und erkennt, dass der Schlüssel zur Rettung ihrer Schwester in den düsteren Geheimnissen ihres verlorenen Gedächtnisses liegt. Plötzlich ist Conrad die einzige Hilfe, auf die sie sich verlassen kann.
Ein packender Strudel aus Geheimnissen, Leidenschaft und Rache beginnt.
SpracheDeutsch
HerausgeberEisermann Verlag
Erscheinungsdatum1. Juni 2016
ISBN9783946172260
Zeitalter der Urwesen: Mondlicht im Schatten

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    Buchvorschau

    Zeitalter der Urwesen - Nelly Mason

    978-3-946172-26-0

    Die meisten sagen, dass jeder gleich sei. Es ist egal, aus welchem Land er kommt, ob er schwarz oder weiß, arm oder reich ist oder welcher Religion er angehört. Er hat die gleichen Rechte wie alle anderen auch.

    Er bleibt immer ein Mensch.

    Aber es gibt Menschen, die anders sind. Ganz anders und viel gefährlicher.

    Sie gehören zu den uralten Rassen, die neben den neuen existieren und sich frei unter ihnen bewegen. Doch sie bleiben immer verborgen.

    Dir wird niemals auffallen, dass sie da sind.

    Du wirst sie niemals bemerken.

    Denn sie sind die Schatten der Nacht – die vollkommene Finsternis.

    Sie sind Wesen, die unendlich lang leben können und übermenschliche Kräfte besitzen.

    Sie sind Wesen, die in der Dunkelheit lauern und sich unauffällig unter euch bewegen – ohne ihre wahre Identität preiszugeben.

    Denn sie verstecken ihre Male. Sie verstecken ihre wahre Natur.

    Immer wenn sie in Kampflust sind, oder wenn sie Blut riechen, erscheinen feine dunkle Linien auf ihrem Oberkörper – die Zeichen ihres Stammes. Ihre Augen nehmen die Farbe des Feuers an und ihre Eckzähne fahren scharf und tödlich aus dem Zahnfleisch hervor, länger und länger, bis sie ihnen unübersehbar über die Lippen ragen.

    Die ganze Welt fürchtet sich vor ihnen. Alle Normalsterblichen, die an ihre Existenz glauben, zittern vor Angst, ihnen über den Weg zu laufen. Für sie sind sie Monstren – Raubtiere – in menschlicher Gestalt, die … das Blut lebendiger Menschen trinken.

    Trotzdem sind sie nach wie vor Menschen.

    Sie sind ein Teil der Urwesen, Menschen der alten Stämme, die schon seit Jahrtausenden existieren.

    Ja, sie sind real und können vielleicht sogar ganz in deiner Nähe sein.

    Vampire …

    Villingen-Schwenningen, Süddeutschland

    Januar vor vier Jahren

    Es war eisig kalt …

    Es schneite …

    Die weißen Schneeflocken fielen ganz langsam und stumm vom Himmel hinunter, mehr und mehr.

    Eine Frau in einem großen, schwarzen Wintermantel presste ihr Kind an die Brust, wischte sich mit einer Hand die Flocken aus dem Gesicht und hetzte über die leere Straße. Die gefrorene Luft brannte in ihrer Lunge und ihre Stiefel rutschten über den verschneiten Boden. Doch geschickt fand sie ihr Gleichgewicht wieder und suchte den Weg zur östlichen Seite des Waldes.

    Sie floh!

    Seelenlose Kreaturen verfolgten sie, jagten sie, schossen auf sie, trafen aber glücklicherweise noch nicht. Die Schreie von Befehlen und die Laufschritte der Männer hallten durch das ganze Viertel der Stadt.

    Panisch wich die Frau noch tiefer in den Schatten der großen Gebäude, versuchte zu entkommen. Und schließlich gelang ihr die Flucht. Für einen Moment auf jeden Fall. Keuchend drückte sie ihren Rücken an eine Mauer und lauschte den Schritten der Männer, die immer näher kamen.

    Nein!

    Zitternd versuchte sie tief Luft zu holen und zog den offenen Mantel über ihre Tochter. Sie musste sie verstecken oder so schnell wie möglich zu ihrem Rudel bringen – in Sicherheit. Sie verfluchte sich selbst dafür, ohne Begleiter in die Innenstadt gelaufen zu sein, obwohl sie wusste, dass sie von der Geburt noch geschwächt war. Sie war eine leichte Beute für diese Kreaturen.

    Ein Knacken ertönte. Nicht weit von ihr.

    Sofort hielt die Frau den Atem an, rutschte noch tiefer in die Nische der Mauer und betete, dass ihre Tochter ja nicht aufwachen würde. Mehrere Minuten vergingen, bis die Schritte dieser Wesen sich von ihr weg bewegten. Sie unterdrückte einen Seufzer und begann zu rennen. Rannte schnell und lautlos davon, in Richtung Wald zu ihrem Rudel, blieb nicht stehen.

    Minuten vergingen wie Stunden, als sie sich schließlich ihrem Revier näherte. Unsicher zuckte ihr Blick über die Schatten der umstehenden Bäume, bevor sie durch den Energiewall schlüpfte, der ihr Rudel vor anderen Stämmen und Menschen schützte.

    Nun, da sie endlich zu Hause war, sollte sie sich sicher fühlen … doch das tat sie nicht.

    Sie versteifte sich und sah sich nervös um. Niemand war hier. Keine einzige Stimme drang durch die Bäume oder Hütten in der Nähe. Nichts. Etwas stimmte hier nicht.

    Es war still. Viel, viel zu still.

    Sie schluckte, legte den Kopf leicht in den Nacken und schnupperte. Als der faulige Gestank von Blut und Friedhofserde ihre Nase traf, riss sie schockiert die Augen auf und ihr Herz setzte einen Schlag aus.

    Nein, das konnte nicht sein.

    »Unmöglich …«, flüsterte sie, schüttelte ungläubig den Kopf.

    Die Mutter biss sich fester auf die Lippen, Panik ergriff sie. Sie waren hier in ihrem Revier. Alle Bewohner ihres Rudels waren verschwunden.

    Die Kreaturen der Schatten!

    In diesem Augenblick kreischte ihre Tochter laut los. Erschrocken schlang sie ihre Arme fester um sie, wirbelte herum und wollte weglaufen.

    Das Kind schrie immer lauter. Sie musste schleunigst von hier fort. Jetzt war sie nicht mehr sicher – auch ihre Tochter nicht.

    Doch bevor sie sich in Bewegung setzen konnte, sprang eine Gestalt mit glühenden, blutroten Augen sie an.

    Und ihr Kreischen und das ihrer Tochter zerrissen die Nacht.

    Starnberger See, Süddeutschland

    Dezember, Gegenwart …

    »Kalt«, murmelte Irene Stevens vor sich hin.

    Zitternd rieb sie die Hände aneinander, um sich – oder zumindest ihre Hände – warmzuhalten, doch als dies nicht half, zog sie schnell ihre Handschuhe über. Die Heizung des Wagens war aufgedreht, warum zum Teufel war es immer noch so kühl? Seufzend sah sie aus dem Fenster. Endlich waren sie am Starnberger See angekommen. Selbst dreißig Minuten Autofahrt waren bei diesen niedrigen Temperaturen kaum noch auszuhalten. Ganz genau begutachtete Irene die Gegend. Ihre fotografisch geschulten Augen erfassten alle Lichter und Winkel, die nicht perfekter sein konnten. Hier würde sie die gesuchten Aufnahmen bekommen.

    »Okay, du kannst mich hier absetzen, Mina«, sagte sie zu ihrer Schwester.

    »Wie du meinst«, brummte Aramina Stevens mürrisch und hielt an.

    Irene konnte die Verärgerung ihrer jüngeren Schwester verstehen. Schließlich war die Arme gezwungen die Fahrerin zu spielen, und das an so einem frostigen Tag. Seufzend öffnete Irene die Tür und stieg aus.

    So, ab in die Schlacht – nun ja, in die Kälte.

    Vorsichtshalber zog sie noch die Kapuze über den Kopf, um ihre Ohren zu schützen, dann trat sie auf das Ufer des Sees zu. Es war mitten im Winter und es schneite. Schneeflocken tanzten und schwebten in der Luft, um dann ganz langsam und stumm auf den Boden zu fallen und das Land mit ihrem Weiß zu bedecken.

    Einfach wunderschön. Ein perfekter Platz zum Fotografieren.

    Irene schenkte ihrer Schwester ein Lächeln. »Danke fürs Hinfahren.« Während sie sprach, bildete sich eine dichte Atemwolke vor ihrem Mund.

    Aramina antwortete mit einem so grimmigen Schnauben, dass Irene die Lippen zusammenpressen musste, um nicht zu lachen.

    »Sehr witzig. Hör mal, Schwesterherz, wir haben heute unter null Grad. Und falls du es noch nicht bemerkt hast, ich friere mir hier den Arsch ab«, sagte Aramina hinter ihr im Wagen. »Du schuldest mir also was!«

    Ja, es war wirklich schwierig gewesen, Mina zu überreden, sie hierher zu fahren. Aber da sie ungern ihren Autoschlüssel hergab, blieb ihr nichts anderes übrig, als sie zu chauffieren. Irenes Wagen befand sich noch in der Werkstatt. Pech gehabt.

    »Kalt, kalt, kalt. Wären wir doch in Florida geblieben.« Aramina kauerte sich auf ihrem Sitz zusammen. »So, Irene, ich bleibe keine Sekunde länger hier und fahre jetzt nach Hause. Ich hole dich in drei Stunden wieder ab, klar? Wir treffen uns hier und sei pünktlich! Mutter will und mag es nicht, wenn du dich verspätest.«

    »Jaja.« Irene winkte ab. »Und du willst mir wirklich nicht Gesellschaft leisten? Ein kleiner Spaziergang wäre doch ganz nett. Du willst mich doch nicht allein lassen, oder?« Sie warf ihrer Schwester einen Hundeblick zu. »Ich lade dich auch zu einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen ein.«

    Mina machte ein finsteres Gesicht, als würde die Kälte sie gleich zu Eis verwandeln.

    Na schön, dann eben nicht. Wenn Aramina selbst Kaffee und Kuchen ignorierte, dann hieß es: aufgeben. Irene zuckte mit den Schultern, holte ihren Fotoapparat aus dem Wagen und begann schon zu knipsen, als Aramina den Motor startete.

    »Ein andermal, ja?«, versprach sie und fuhr weg, noch bevor Irene etwas erwidern konnte.

    Grinsend winkte Irene ihrer jüngeren Schwester kurz zum Abschied, dann machte sie sich wieder an die Arbeit.

    Lange wanderte sie am Ufer entlang, knipste Fotos vom See, Wald, von Häusern, Menschen und Tieren in der Nähe. Irgendwann machten ihre Beine nicht mehr mit und sie wollte sich eine kleine Pause in einem Café gönnen, um einen heißen Tee zu trinken und ein Stück Kuchen zu essen.

    Gut gelaunt betrat sie das Café Redmoon und musste sofort innehalten, als die Stimmung abrupt auf den Nullpunkt sank, kaum dass sie einen Fuß in den Laden gesetzt hatte. Beinahe alle Anwesenden drehten sich zu ihr um und sahen sie ernst an. Was war denn jetzt schon wieder? Nur weil sie aus Florida kam und eine Ausländerin war, mussten diese Leute nicht so schauen. Eine Sekunde lang spielte Irene mit dem Gedanken, wieder zu verschwinden, aber sie lebte doch in einem freien Land, oder? Stolz hob Irene das Kinn und setzte sich an einen Einzeltisch am Fenster.

    Auch die Kellnerin schien misstrauisch zu sein. Na toll! Die Frau verdrehte genervt die Augen und holte ihren Notizblock aus der Tasche.

    »Was darf’s denn sein, Mikain?«, knurrte sie und deutete mit einem Nicken auf den Glasschrank, in dem einige Kuchensorten zur Schau standen. »Wie Sie sehen, haben wir heute mehrere Kuchen zur Auswahl.«

    Bitte was? Mikain? Was sollte das jetzt schon wieder? Sollte das etwa eine Beleidigung sein?

    Einfach ignorieren.

    »Einen Jasmin-Tee und ein Stück Himbeerkuchen«, sagte Irene mit fester und selbstsicherer Stimme. »Und übrigens: Ich heiße nicht Mikain

    Die blonde Kellnerin behielt ihre Arroganz bei, blies eine Kaugummiblase und ließ sie platzen. »Aber Sie sind eine«, sagte sie schmatzend, als sie wieder zu kauen begann.

    »Nein, ich bin aus Florida. Aus den USA!«, entgegnete Irene energisch. »Außerdem, wo liegt dieses Land überhaupt? Mikain

    Stille.

    Mit verwirrter und überraschter Miene tauschten die Leute im Laden Blicke aus und einen Augenblick später begannen sie auch, untereinander zu tuscheln.

    Herrgott, wenn sie schon lästern wollten, konnten sie denn nicht wenigsten leiser sein?

    »Sie wissen nicht, was Mikain ist?« Auch die Kellnerin schien sehr verblüfft zu sein, aber warum?

    Irene schüttelte den Kopf. »Nein. Sollte ich das denn?«, fragte sie scharf.

    »Ich … Eigentlich doch, schon, aber … ähm, also …«

    Anscheinend ahnungslos, was sie weiter hätte sagen können, eilte die Kellnerin davon und zog ihren Kollegen mit in die Küche. Irene versuchte zu lauschen, konnte aber kaum etwas verstehen. Außer »Sie muss es doch wissen, sie ist schließlich eine …« drang durch das Gemurmel der Leute nichts mehr zu ihr durch.

    Himmel, das musste ja kommen. Was haben die alle hier gegen mich? Was habe ich ihnen denn angetan?

    Irene verdrehte die Augen gen Himmel. Dann holte sie ihre Kamera hervor und begann die geschossenen Bilder durchzusehen. Immer noch hörte sie im Hintergrund Getuschel über sich. Aber Irene war viel zu stolz, um einfach abzuhauen.

    Oh Mann, das würde ein langer Tag werden …

    Das schrille Klingeln ihres Handys schreckte Irene aus ihrer Konzentration. Sie schaltete ihre Kamera aus und blickte zur Wanduhr.

    Oh, Mist.

    Sie war zu spät – viel zu spät.

    Das musste Aramina sein, die da gerade anrief. Ihre Schwester wartete bestimmt schon sehr lange auf sie und fror zweifellos bei dieser Kälte. Und ihre Mutter würde sie einen Kopf kürzer machen. Seufzend fischte sie ihr Handy aus der Hosentasche.

    »Verdammt, wo bist du denn? Mutter ist schon ungeduldig! Weißt du nicht, wie spät es ist?«, fuhr Mina sie statt einer Begrüßung an. Ihre Stimme klang zittrig. »Wo zum Henker steckst du?«

    »Halt noch ein bisschen durch. Ich mach mich sofort auf den Weg«, versicherte Irene. »Ich komm gleich.«

    Sie legte auf und sprang auf die Beine. Einige Sekunden später hatte sie auch schon ausreichend Geld auf den Tisch geworfen und eilte aus dem Laden. Beim Fotografieren hatte sie sich sehr weit von dem Treffpunkt entfernt. Also würde sie mindestens zwanzig Minuten brauchen – selbst, wenn sie sprintete.

    Ach je. Das würde Aramina ihr nie verzeihen. Ein Glück, dass sie eine gute Marathonläuferin war. So schnell es ging, lief Irene durch die Kälte und fluchte zischend, wenn ihr kalte Luftzüge oder – falls sie nicht aufpasste – die nassen Zweige und Äste beim Laufen ins Gesicht peitschten. Sie sollte beim nächsten Mal wirklich mehr auf die Zeit achten.

    Als sie endlich bei ihrer Schwester ankam, sah sie diese Kreise um den Wagen ziehen wie ein ruheloses Raubtier und konnte ein Lachen einfach nicht unterdrücken.

    »Tut mir leid für die Verspätung«, rief sie von Weitem. »Komm, lass uns nach Hause fahren.«

    Mit finsterer Miene murmelte Aramina eine Beleidigung und stieg ohne ein weiteres Wort in den Wagen. Ah gut, die Heizung funktionierte jetzt besser. Endlich in der Wärme seufzte Aramina erleichtert auf, drehte aber die Heizung noch weiter auf.

    »Ist doch ganz warm hier«, kicherte Irene. »Du hättest doch im Wagen warten können.«

    Aramina biss die Zähne verärgert zusammen. »Ja, ich habe ja auch seit knapp einer Stunde diese Heizung laufen. Und am Anfang ist es im Wagen noch kälter als draußen!« Diesmal klang ihre Stimme wirklich sehr aufgebracht.

    Die Lippen zusammengepresst lehnte Irene sich zurück. Vielleicht sollte sie für eine kurze Weile die Klappe halten, um Aramina nicht noch weiter zu verärgern. Sie hasste es mit ihrer geliebten Schwester zu streiten.

    Während der Fahrt nach Hause auf einer leeren Straße, schwiegen die Schwestern. Das Radio wurde auch nach kaum zehn Minuten wieder ausgemacht. Um sich die Zeit zu vertreiben, beschloss Irene ihre Bilder noch einmal durchzuschauen und löschte dabei die weniger gut gelungenen von der Speicherkarte.

    Es war noch nicht lange her, dass ihre Mutter Mina angerufen und am Telefon lauthals ausgeschimpft hatte. Tja, so eine strenge Mutter fand man nicht jeden Tag.

    Irene verstand nicht, wieso ihre Mutter sich immer so viele Sorgen machte. Sie war schließlich schon siebenundzwanzig Jahre alt und Mina fünfundzwanzig, also alt genug, um auf sich selbst aufzupassen.

    »Ich verstehe das nicht. Warum muss Mutter so eine Glucke sein?«, sagte Irene leicht genervt, legte ihren Fotoapparat weg und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie alt sind wir? Zehn?«

    Mina zuckte lässig mit den Schultern. Gott sei gedankt, dass ihre Wut schon vergessen war. »Du weißt doch, dass überall kranke und irre Typen rumlaufen. Und wir sind junge Frauen. Leichte Opfer.«

    Irene schnalzte mit der Zunge. Das konnte doch nicht der einzige Grund sein. In Florida war ihre Mutter zwar auch sehr streng gewesen, aber nicht so streng wie jetzt in Deutschland. Wenn das so weiterging, würde sie sogar mit dreißig noch von Mutter herumkommandiert werden.

    »Ach ja, mir ist heute etwas Blödes passiert«, erzählte Irene auf einmal, um das Thema zu wechseln … oder um die Stimmung unter ihnen wiederaufzubauen. Eigentlich wollte sie das Geschehen im Café einfach vergessen, aber na ja.

    »Was denn? Hast du etwa wieder den netten Liebespaaren nachgeguckt?«, neckte ihre Schwester sie und kicherte amüsiert.

    »Ich bitte dich!«, schnaubte Irene.

    Aber es stimmte. Immer wenn ein Liebespaar an ihr vorbeilief, musste sie ihm einfach neidisch nachschauen, besonders bei einer Familie mit einem Kleinkind. Sie wusste nicht warum, aber sie überkam dann das traurige Gefühl, ihr würde jemand fehlen. Jemand, der neben ihr stand und sie von ganzem Herzen liebte, und vielleicht sogar auch ein Kind …

    Ja, manchmal spinne ich! Einfach so.

    Sowohl ihre Mutter als auch Aramina meinten, es läge daran, dass Irene bisher noch keine richtige Beziehung geführt hatte, aber ja schon alt genug war, um eine Familie zu gründen.

    Den Kopf schüttelnd vertrieb sie diesen Gedanken und kam auf das eigentliche Thema zurück. »Nein. Ich war in einem Café. Ich glaube, Redmoon heißt es. Auf jeden Fall wollte ich einen Tee trinken, aber die Leute dort haben mich angeschaut, als wäre ich eine Serienmörderin!« Ja, ein bisschen übertrieben, aber sie hatte sich wirklich so gefühlt.

    Aramina schwieg einen Moment lang. »Café Redmoon?«, fragte sie dann vorsichtig.

    Irene nickte. »Ja, du weißt schon, dieses Café an …«

    »Jaja, ich weiß schon, wo es ist«, schnitt Aramina ihr das Wort ab, ohne den Blick von der Straße zu wenden. »Was haben die denn gemacht?«

    Kaum dachte Irene an diese Leute zurück, kam ihr erneut die Galle hoch und mit ihr der drängende Wunsch, auf irgendetwas einzuschlagen. Die Leute waren so unverschämt gewesen, laut über sie zu lästern, als wäre sie gar nicht da.

    »Also, kaum betrete ich dieses verdammte Café, schon schauen mich alle mit grimmigen und misstrauischen Blicken an«, erzählte Irene verärgert. »Und dann hat die Kellnerin mich sogar – ich weiß noch nicht einmal, was das ist – Miken … Mikeil oder irgendwas Ähnliches genannt.«

    »Mikain?« Jetzt schaute ihre Schwester sie an.

    »Ja, genau!«, rief Irene und ein Finger schoss in die Höhe. Sofort wusste sie, dass es dieses Wort war, mit dem die Kellnerin sie angesprochen hatte. Aber …

    Stille.

    Mehrere Herzschläge lang herrschte Schweigen zwischen den Schwestern. Moment mal!

    »Woher … woher weißt du das, Mina?« Irene runzelte die Stirn und schaute ihre Schwester verwirrt an. Ja, wieso wusste Aramina, wie die Kellnerin sie genannt hatte? Oder war dieses Wort tatsächlich ein gebräuchlicher Begriff in Deutschland?

    Ihre Schwester schwieg. Etwas zu lange!

    »Mina?«, drängte Irene.

    Aramina schluckte und schien Schwierigkeiten zu haben, die richtigen Worte zu finden. »Ähm … ich denke gerade nach, Irene.« Dieser Tonfall sagte Irene sofort, dass Mina ihr etwas verheimlichte. »Ich … glaube, ich wurde auch einmal so genannt.«

    »A-ha?«, sagte Irene langsam, unsicher, ob sie das glauben sollte oder nicht.

    »Von dieser blonden, Kaugummi kauenden Kellnerin, oder?«, fragte Aramina noch.

    »Ja …?«

    Ihre Schwester nickte. »Jepp, auch mich hat es mal erwischt. Ich weiß auch nicht. Als ich in dieses Café ging und alle mich so schief angeschaut haben, dachte ich: Okay, durchgeknallte Leute gibt’s!« Sie lachte leise, aber es wirkte gestellt … oder täuschte Irene sich?

    Irene kniff die Augen zusammen. »Und du weißt wirklich nicht, was dieses Wort bedeutet? Ich kann mir vorstellen, dass es irgendein Schimpfwort ist. Mikain klingt für mich so …«, sie zuckte mit den Schultern, »keine Ahnung … vertraut. Es könnte sein, dass ich es mal im Fernsehen gehört habe, oder so.«

    Wieder Schweigen. Dann schüttelte Mina den Kopf. »Nö, das glaub ich nicht. Also, ich verstehe auch nicht, was dieses Wort bedeutet, aber wie ein Schimpfwort hört es sich nicht an.«

    »Für mich klingt es aber irgendwie so«, murmelte Irene und schaute aus dem Fenster.

    Nach einer Weile betrachtete sie ihre Schwester aus dem Augenwinkel. Mina sah geradeaus auf die Straße, als konzentriere sie sich aufs Fahren. Doch Irene kannte sie zu gut, um das zu glauben und wusste, dass sie darüber grübelte, was sie sagen sollte.

    Komisch.

    Als Aramina ihren Blick schließlich nach einigen Minuten bemerkte, lächelte sie dümmlich.

    »Was ist denn los? Wieso starrst du mich so an? Ich weiß es wirklich nicht, Irene«, sagte sie sofort, ohne dass Irene sie etwas gefragt hätte. »Du solltest ab jetzt dieses Café meiden.«

    Irene beschlich das eigenartige Gefühl, dass Aramina ihr nicht die ganze Wahrheit sagte. Nun, vielleicht täuschte sie sich auch nur.

    Oder?

    Vampire …

    Sie gehörten zu der Gattung der Urwesen. Menschen der uralten Magie.

    Ihr werdet sie niemals bemerken, aber sie sind unter euch.

    München, Süddeutschland

    Unterirdisches Hauptquartier der Bruderschaft der Schattenkämpfer

    »Und wieder sind mehrere Nize spurlos aus dem Schattenorden und aus ihrem Clan verschwunden.« Conrad Lorenz seufzte schwer, während er auf seiner Tastatur herumtippte. »Insgesamt vierunddreißig schon.«

    »Es werden immer mehr«, sagte Vincent McRaven und sah ebenfalls auf den riesigen Bildschirm. »Wer ist heute dran mit Patrouillengang, Niko?«

    Nikolas Winter, der Anführer der Bruderschaft der Schattenkämpfer, schaute sich in der Runde seiner vier Männer um. Der schwarzhaarige, große und athletische Vampir aus Prag am Kopf des großen Konferenztisches gehörte zu der zweiten Generation des Vampirvolkes aus diesem Zeitalter. Somit zählte er zu den stärksten, direkt nach den Vampiren des vorherigen Zeitalters.

    Für die heutige Mission – oder »Jagd«, wie sie es immer nannten – konnte Conrad sich schon vorstellen, wen Nikolas nach draußen schickte: seinen Vize Richard Miller und den Neuling, Christian Chase, der der Bruderschaft erst vor knapp einem Jahr beigetreten war.

    »Gut, Ric und Chase, ihr beide geht heute rauf«, befahl Nikolas.

    Na bitte, Conrad hatte recht.

    Ernst nickten die zwei Vampire der dritten Generation am Tisch. Sie polierten bereits ihre Waffen, die vor ihnen auf dem großen Konferenztisch lagen – auch sie hatten anscheinend schon damit gerechnet, nach oben geschickt zu werden. Die beiden waren Schwager, denn die Gefährtin von Richard war Christians Cousine. Die zwei bildeten ein perfektes Team – kalt und heiß. Das passte.

    Wenn einer zu heiß läuft, kann der andere ihn leicht abkühlen, und umgekehrt. Zu kalt zu sein, ist auch nicht gut.

    »Ihr beide schaut euch wegen der Nize um. Und Chase, du kannst mal im Orden anrufen und nachfragen, ob noch weitere Nize verschwunden sind«, fuhr Nikolas fort.

    Die sterblichen Frauen der Vampire waren die sogenannten Nize. Sie trugen das Blut der Urwesen in sich und waren somit fähig, mit einem Vampir Nachkommen zu zeugen. Diese Frauen waren beinahe wie Göttinnen für die Vampire, da die weiblichen Vampire unfruchtbar waren. Leider waren die Urwesengene in den Nize so gering, dass sie nicht reichten, um ihre Stammart zu erkennen. Doch in einigen großen Städten, auch in München, hatten sie sich bereits zu einem eigenen Clan zusammengeschlossen. Um das Vampirvolk vor dem Aussterben zu bewahren, wurde erwartet, dass alle Vampire sich mit den Nize in der Ewigkeit ihres Lebens verbanden und die nächste Generation hervorbrachten.

    Doch für die Bruderschaft sah Conrad die Verbindung als unnötige Ablenkung. Ein Kämpfer sollte nicht in Versuchung geraten, Gefühle für eine Nize zu entwickeln und ihr zuliebe die Verpflichtungen der Bruderschaft gegenüber infrage zu stellen. In der Bruderschaft waren nur Richard und Vincent verheiratet. Und beide hatten bereits mehrere Male ihre Arbeit vernachlässigt, oder waren für einige Tage verschwunden, ohne sich zu melden.

    Oh Mann.

    Fünf Männer, Conrad eingeschlossen, kämpften an der Seite Nikolas’ – allesamt Vampire. Männer, die nicht mehr zum Schattenorden gehören wollten. Sie hassten die Gesetze des Vampirvolkes und waren Kämpfer, die die Endlevels bekämpften. Alle Schattenkämpfer waren früher Ordenskrieger gewesen, starke Männer mit außergewöhnlichen Gaben.

    Conrad sah in die Runde, winkte dann Vincent zu sich und stand langsam auf. »Mach du mal weiter, Vinny«, befahl er und schnappte sich seine Jacke von der Stuhllehne. »Wartet, ihr beiden, ich komme auch mit. Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast, Niko«.

    Ohne etwas zu sagen, nickte der Anführer.

    »Wir sollten mal am Starnberger See schauen«, sagte Conrad zu Ric und Chase, während sie durch den langen weißen Gang entlang zum Aufzug, welcher sie nach oben zur Garage bringen würde, gingen. »Seth, der Mikain, hat angerufen. Es treiben sich dort neuerdings zu viele Vampire herum. Kommt, auf geht’s!«

    * * *

    Zum Glück war es heute etwas wärmer als am gestrigen Abend. Trotzdem nur wenige Grad über null. Doch das hielt Irene nicht davon ab, weiterzuarbeiten. Sie liebte das Fotografieren, deswegen studierte sie ja auch Kunst.

    Heute wollte sie Abend- und Nachtbilder machen. Ihre Schwester Aramina spazierte neben ihr her und schlang die Arme um den Oberkörper, um sich warmzuhalten. Die Arme musste wieder die Fahrerin spielen und leistete Irene diesmal Gesellschaft. Hauptsächlich tat sie das aber, um zu verhindern, dass Irene noch einmal zu spät zum Treffpunkt kam.

    War ja klar.

    »Mach schnell, ich will hier weg!«, rief Aramina ihr zu und rieb sich die Arme. »Ich habe ein ungutes Gefühl.«

    Mit einem matten Lächeln im Gesicht stellte sich Irene auf den richtigen Platz und begann zu fotografieren. Auch wenn Mina versuchte, es zu verbergen, wusste Irene doch, dass ihr irgendetwas auf dem Herzen lag. Oder kam ihre Ungeduld nur daher, dass es tatsächlich schon etwas spät war? Vielleicht sollte sie sich wirklich beeilen.

    »Sei keine Spielverderberin, Mina. Ich brauche noch ein bis zwei Stunden, mindestens. Ich kann mir die Plätze nicht so ganz aussuchen«, neckte sie ihre Schwester.

    Hinter ihr hörte sie, wie Aramina aufschnaubte. »Ich bin keine Spielverderberin!«, protestierte sie, dann seufzte sie tief.

    Irene lachte leise und betrachtete die nächtliche Landschaft. Es war schon etwas Besonderes … etwas sehr Schönes auf seine Art. Eine bunte Landschaft mit schönen Blumen war für alle ein herrlicher Anblick, doch nur, weil viele die Schönheit der Nacht nicht kannten. Die Menschen waren nicht nachtaktiv, weswegen viel zu wenige den Anblick von mondbeschienenen Weiten kannten und genossen.

    Oh, sie konnte stundenlang hier draußen bleiben.

    Aramina stampfte ungeduldig mit den Füßen und rief nach ihr. Sie gab wohl nie auf. Irene verdrehte genervt die Augen und unterdrückte einen Seufzer.

    »Ich meine es ernst, Schwesterherz. Wenn du wirklich so lange brauchst, können wir dann irgendwo anders hinfahren?«, versuchte Aramina immer noch sie zu überreden, den Ort zu verlassen.

    »Du bekommst doch keine kalten Füße, oder, Mina?« Irene unterdrückte ein Glucksen und drehte sich halb zu ihrer jüngeren Schwester um.

    »Um meine Füße mache ich mir im Moment weniger Sorgen«, entgegnete Aramina ironisch. »Ich weiß nicht, ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache. Wir sollten verschwinden, und zwar jetzt sofort. Komm schon.«

    Oh Mann, was war denn jetzt schon wieder? Wie alt war sie denn? Zehn? Sie würde sich doch nicht vor der Dunkelheit fürchten, oder? Es sei denn …

    »Hast du gestern Nacht schon wieder einen Horrorfilm angeschaut?«, wollte Irene wissen, ohne sich umzudrehen. »Also bitte, Schwesterherz!«

    Gestern lief doch gegen zehn Uhr ein Horrorfilm. American Werewolf in Paris. Und Irene wusste ganz genau, dass Aramina solche blutigen Filme gerne anschaute. Sie kannte absolut jeden Horrorfilm. Besonders, wenn Werwölfe darin vorkamen. Ach je, wieso konnte Aramina nicht Serien wie Vampire Diaries anschauen? Da gab es doch auch Werwölfe, aber es war nicht so gespenstisch. Nur spannend und sehr lustig.

    »Ich doch nicht!«, stritt Aramina jedoch ab, wieder einmal. Wusste sie denn nicht, dass es so offensichtlich war, dass sie es getan hatte?

    »Und wieso hast du jetzt Angst?«

    »Ich habe keine Angst!«

    Irene verdrehte die Augen. Sie glaubte nicht, dass Aramina den Film ausgelassen hatte. »Du hast gestern American Werewolf in Paris angeschaut, nicht wahr?«

    Aramina stöhnte. »Schon gut, ich habe ihn gesehen, ja und? Ich habe doch keine Angst vor Werwölfen. Ich werde sofort zurückfauchen, wenn sie angreifen. Ich bin bereit, mich ihnen gegenüberzustellen. Schließlich wird es nicht mehr lange dauern, dann werde ich endlich eine Wächterin des Rudels! Lass sie nur kommen!« Sie klang siegessicher, zumindest das.

    Aber … wie bitte?

    »Eine Wächterin des Rudels?« Jetzt drehte Irene sich ganz zu ihr um. Entweder machte Aramina nur Spaß oder sie hatte den Verstand verloren. »Von welchem Film ist das jetzt schon wieder?«

    Aramina lachte, aber es klang gehässig. »Aus dem Film Die Welt der Urwesen!«, spaßte sie. »Kennst du den nicht? Ist ziemlich gut. Da drin kommen Werwölfe, Vampire und vieles mehr vor!« Als Irene ein missbilligendes Gesicht machte, lachte sie wieder und winkte ab.

    Nun, was konnte das denn schaden? Spielte sie eben mit, ein bisschen Spaß würde Aramina guttun. Den Kopf schüttelnd drehte sich Irene wieder um und begann zu knipsen.

    Doch dann hielt Aramina plötzlich inne. »Aber jetzt mal Spaß beiseite. Hier kriege ich irgendwie das große Gruseln.«

    »Wieso? Hast du Angst, dass hinter dir ein hungriger Vampir heranschleicht? Und auf die beste Gelegenheit wartet, dich anzugreifen?«, neckte Irene sie.

    Aramina schwieg. Wieder einmal zu lange.

    Fragend sah Irene nach hinten. Ihre Schwester schaute mit besorgter Miene um sich. Das konnte doch nicht wahr sein! Daran glaubte sie doch nicht wirklich, oder? Es war also doch keine gute Idee mitzuspielen.

    »Hey, Mina, das war ein Scherz«, sagte Irene seufzend und lenkte somit die Aufmerksamkeit ihrer Schwester wieder auf sich. »Ein dummer Scherz, okay? Vampire gibt es nicht, das weiß doch jeder – außer Kleinkindern. Und wenn du schon mal keine Angst vor Werwölfen hast, dann sind Vampire auch keine Schwierigkeit für dich.«

    Je mehr sie darüber sprach, desto kindischer kam sie sich vor.

    »Haha, wie witzig. Um mich mache ich mir keine Sorge. Vampire jagen mir so viel Angst ein wie Spinnen!« Aramina seufzte. »Ich mach mir eher Sorgen um dich«, murmelte sie dann kaum hörbar.

    Die Schultern zuckend und nicht weiter nachdenkend trat Irene noch näher an den Abgrund, der knapp einen Meter über dem Wasser steil aufragte. Aber sie musste einfach weiter ins Gestrüpp dringen, die Äste verdeckten ihr ganzes Bild.

    »Pass auf, dass du nicht hineinfällst«, warnte Aramina sie von hinten. »Ich will nicht, dass du morgen mit Fieber im Bett liegst.«

    Irene lachte leise. Sollten nicht eigentlich die großen Schwestern sich um die jüngeren kümmern? In diesem Fall war das anscheinend umgekehrt. Oder sie musste wirklich mal die Geburtsurkunden durchchecken. Wer von ihnen war noch mal die Ältere?

    »Wieso? Dann hast du doch Ruhe vor mir, wenn ich krank und völlig fertig im Bett liege.« Irene stellte etwas mehr Kontrast für das nächste Bild ein. »Und jetzt halt die Klappe, das bringt Unglück!«

    »Von wegen ich bekomme Ruhe, ich muss dann die Krankenschwester spielen! Mutter ist morgen nicht zu Hause.«

    Ohne etwas zu erwidern, stellte Irene ihre Kamera auf Zoom und wollte die schlafenden Schwäne auf der linken Uferseite in etwa fünfzig Meter Entfernung fotografieren, als sie plötzlich einen Mann sah, der ins Wasser fiel. So plötzlich, dass die Schwäne vor Schreck auseinanderflatterten.

    »Oh Gott!«, murmelte sie und schaute auf, um besser sehen zu können, was passiert war.

    Aber das Geschehen war zu weit weg und nur durch das Zoomobjektiv ihrer Kamera auszumachen. Zwei Männer, völlig schwarz bekleidet, zerrten den wimmernden Mann aus dem Wasser und drängten ihn in den dunklen Wald eines Privatgrundstückes. Als Irene jetzt noch näher heranzoomte, sah sie, dass der ins Wasser gefallene Mann mit … Blut bespritzt war!

    »Mina«, rief sie. »Ruf die Polizei, sofort!«

    Fragend trat ihre Schwester näher. »Was ist denn los?« Sie spähte in die Richtung, in die Irene schaute.

    Gerade wollte Irene ihr die Kamera geben und ihr sagen, dass sie die Prügelei nur durch diese sehen konnte. Doch Aramina weitete die Augen vor Schreck und trat eilig einige Schritte zurück.

    »Ich hab dir doch gesagt, dass ich diese Gegend nicht geheuer finde.« Sie drehte sich auf dem Absatz um, steuerte direkt auf das Auto zu und suchte in den Jackentaschen anscheinend nach ihrem Handy.

    Mit klopfendem Herzen schaute Irene erneut durch ihre Kamera zu dem Geschehen. Jetzt war ein weiterer Mann aufgetaucht, der gerade versuchte wegzulaufen. Die beiden Männer in Schwarz kümmerten sich nicht um ihn. Plötzlich kamen drei weitere Männer aus dem Wald und stürzten sich auf den Fliehenden.

    Ohne nachzudenken, begann Irene zu knipsen und fotografierte die Gesichter der Angreifer und der Opfer. Der Tatort war so weit weg, dass es noch nicht einmal mit dem Zoomsystem gelang, die Gesichter deutlich zu erkennen. Aber zu Hause würde sie die Bilder bearbeiten können. Vielleicht könnte das helfen. Und wenn nicht, konnte die Polizei bestimmt etwas damit anfangen.

    Plötzlich packte Aramina sie am Arm. Erschrocken verlor Irene kurz das Gleichgewicht und wäre fast ins Wasser gefallen, wenn Aramina sie nicht festgehalten hätte. Erleichtert atmete sie auf.

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