Alter ist nichts für Phantasielose: Aufgezeichnet von Michael Fritthum
Von Lotte Tobisch und Michael Fritthum
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Über dieses E-Book
Rückblicke und Ausblicke, Phantasie, Anerkennung und Verkennung, Annehmen und Loslassen, Glück und Unglück, Mitleiden und Mitfühlen, Liebe, Haltung, Umgangsformen, Freiheit, Geschichte, Emanzipation, Theater, Geist und Stil sind einige der Themen, mit denen sie sich in diesem Buch auseinandersetzt.
Eine Lektüre für alle, die gerne lesen, gerne denken und sich dabei gerne Bilder einer bemerkenswerten Frau anschauen.
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Buchvorschau
Alter ist nichts für Phantasielose - Lotte Tobisch
BETRACHTUNGEN
ALTER IST NICHTS FÜR PHANTASIELOSE
»Ich bin zu alt, um nur zu spielen,
zu jung, um ohne Wunsch zu sein.«
Johann Wolfgang von Goethe
Leben bedeutet altern. Das eine ist ohne das andere undenkbar. Und dennoch sind »alt sein« und »älter werden« nicht dasselbe. Der Unterschied liegt in der Phantasie.
Alt sein heißt so viel wie nicht mehr gestört werden zu wollen, zu verharren, auf seinen althergebrachten Ideen und Meinungen zu bestehen, auch wenn diese längst als überholt gelten oder dem neuen Wissensstand nicht mehr entsprechen. Man ist nicht nur so alt, wie man sich fühlt, sondern so alt, wie man denkt. Wer sich immer öfters und immer heftiger weigert, über Erfahrungen und Meinungen anderer nachzudenken, ob alt oder jung, gibt sich als »alter« Mensch zu erkennen. Wer kennt sie nicht, die »Alten«, für die die erneuernde Kraft der Phantasie nur Störung der ruhenden Erstarrung ist?
Älter werden hingegen bedeutet, sich dieser Gefahren des Alters bewusst zu sein und sich, um nicht phantasielos zu werden, auf die Konfrontation mit der Phantasie anderer einzulassen. Denn nur so können wir unseren wie auch den Bedürfnissen und Anliegen anderer im letzten Lebensabschnitt gerecht werden. Wer sich mit zunehmendem Alter nur die Selbstverliebtheit der Jugend bewahrt, darf sich nicht wundern, wenn er im Alter mit dieser Selbstverliebtheit alleingelassen wird. Phantasielose Selbstverliebtheit ist nichts für in die Tage gekommene Menschen.
Phantasie als Lebensrezept bedeutet, den in jungen Jahren notwendigen Kampf um Selbst-Etablierung zu Gunsten menschlicher Hinwendung aufzugeben. Alles andere ist nicht nur phantasielos, sondern dumm und belegt ein Unvermögen zu begreifen, dass wir zu einem erfüllten Älterwerden der Zuwendung anderer bedürfen. In diesem Sinn bedeutet mir Älterwerden, dass ich mich nicht nur für mich und mein Leben, für das Gewesene, für die Toten, für das schon tausend Mal Gesagte und Behauptete, sondern ebenso für das Heute und Morgen meiner notgedrungen allmählich kleiner werdenden Welt interessiere.
Auch wenn man zu alt ist, um nur zu spielen, muss man im Wollen und Wünschen jung genug bleiben, um auch immer am Leben und an den Wünschen anderer teilzuhaben.
Martin Buber drückt das, was ich meine, unübertroffen kurz und klar aus: »Alt sein ist ja ein herrliches Ding, wenn man nicht verlernt hat, was anfangen heißt.«
Insofern brauchen wir mehr Phantasie, je »älter« wir werden.
WIR ALLE TANZEN NACH EINER GEHEIMNISVOLLEN MELODIE
»Die menschlichen Wesen, Pflanzen oder der Staub, wir alle tanzen nach einer geheimnisvollen Melodie, die ein unsichtbarer Spieler in den Fernen des Weltalls anstimmt.«
Albert Einstein
Es gibt in jedem Leben das Unumgängliche. Der Versuch, es zu umgehen, ist vergebens, aber wir können es allenfalls mithilfe der erlernbaren Kunst, aus sauren Zitronen süße Limonade zu machen, zu unserem Wohl verwandeln.
So eine Unumgänglichkeit in meinem sehr abwechslungsreichen Leben ist der Wiener Opernball, den ich von 1980 bis 1996 organisierte. Trotz meiner Distanz zu derartigen Events möchte ich diese Jahre voller Starrummel, Demonstrationen, Stornierungen, Glanz und Schönheit nicht missen und es freut mich, wenn meine mit guter Laune versehene Arbeit heute noch geschätzt wird. Aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich auch noch zwanzig Jahre nach meinem Abgang mit diesem einzigartigen k. u. k. republikanischen Faschingsfest identifiziert werde. Unlängst las ich lachend in einer Zeitung: »Lotte Tobisch, Wiens Opernballikone« − das hätte meiner Mutter gefallen!
Während ich zeitlebens bemüht war, die Kirche im Dorf zu lassen, hat man mich aus mir nicht ganz nachvollziehbaren Gründen auf einen »Opernball-Altar« gesetzt. Somit ist der Opernball in meinem Leben unwiderruflich zu etwas Unumgänglichem geworden.
Daher möchte ich ein Beispiel geben, wie mit Derartigem umzugehen ist, und ohne Umschweife über den für mein öffentliches Leben nicht wegzudenkenden Opernball ein wenig sinnieren.
Meinen ersten Opernball besuchte ich 1956 mit Erhard Buschbeck, der einzig und allein mir zuliebe hinging. Da er ein noch größerer Ballmuffel als ich war, landeten wir nach der Eröffnung und einem Rundgang durchs Haus in der Opernkantine, wo wir unter anderem mit Judith Holzmeister, Carl Zuckmayer und seiner Frau Alice Herdan-Zuckmayer, Hilde Harvan, Gusti Wolf und der Witwe Berthold Viertels bis halb sechs in der Früh eine fröhliche Nacht verbrachten. Als meine Mutter davon erfuhr, fragte sie, weshalb und wozu wir denn überhaupt auf den Ball gegangen seien. Gusto und Watschen sind eben verschieden!
Für mich war der Opernball immer mehr Märchen als Realität. Deshalb versuchte ich von Anbeginn einerseits, dieses Märchen zu erhalten, und andererseits, es möglichst rasch mit einem in der Realität fassbar frischen Wind zu versehen. Voraussetzung dafür war für mich, dass man ihn zwar ernsthaft machen muss, ohne ihn aber allzu ernst zu nehmen. Verbissener Ernst hat im Theater nichts verloren − er macht aus dem Theaterspielen Theaterarbeit (ein für mich schreckliches Wort), wodurch der märchenhafte Zauber jeglichen Theaters verloren geht. Wer den Opernball nicht als einen Theaterabend unter vielen versteht, versteht auch nicht, dass das im Stil des romantischen Historismus erbaute Opernhaus dem Ball seine Seele für diesen Abend leiht.
Dass die gekrönten Häupter und großen Stars früher von sich aus auf den Ball kamen, ist eine von vielen Opernball-Mären. Prominente musste und muss man einladen, damit die Aschenputtel ihre Prinzen jedes Jahr von neuem finden. Der bekennende Nichttänzer Bruno Kreisky war zu meinem Bedauern der letzte österreichische Politiker, der den Ball als gesellschaftliche Plattform zu nützen verstand. Er hat diesen gesellschaftlichen Höhepunkt des Wiener Faschings mit Sicherheit nicht geliebt, aber als kluger Mann und Politikprofi wusste er, dass dieser merkwürdige k. u. k. Ball der Republik als größter österreichischer Treffpunkt für Wirtschaftstreibende, Politiker und Kulturschaffende zu seinem Geschäft gehörte. Und so lud er sich unter anderem den König von Spanien, die Kronprinzessin der Niederlande und Hollywoodstar Shirley MacLaine als Aufputz für sich, das Land und den Opernball ein. Das Fernsehen, die Presse und das Volk waren begeistert und wussten es ihm zu danken. Nachdem er sich ins Private zurückgezogen hatte, trat leider einzig und allein Baumeister Richard Lugner in seine »gesellschaftstänzerischen« Fußstapfen. Auch er ein Vollprofi mit einem Gespür fürs »G’schäft« und das Theater.
Viele mögen über ihn pikiert sein, doch ich glaube, dass dem Ball die mediale Lugnerisierung nicht wirklich schadet, weil »Mörtel« eben ein Ausdruck unserer lauten Event-Zeit ist. Letzten Endes ist der Opernball ein Faschingsfest, und da darf ein Clown dabei sein!
Aber nicht nur die Gästeliste, auch die formvollendete Balleröffnung und die darauf folgende Ballnacht unterliegen einer immer wieder neu zu komponierenden Choreographie. Ich finde es legitim, aus dem Ball herauszuholen, was herauszuholen ist, sofern der für diese Veranstaltung immanente Wiener Charme nicht durch plakativen Kommerz überdeckt und den penetranten Sehnsüchten der Boulevardpresse geopfert wird. Leichter gesagt als getan!
Im Wesentlichen hat sich der Ball denselben Gesetzen wie eine Theateraufführung zu beugen: Die Besucher der Veranstaltung zahlen, um sich im besten Sinne des Wortes mit Freunden zu unterhalten. Die Wiener tanzen gerne und wollen ihre Hetz. Spätestens beim Galopp nach der bei Alt und Jung beliebten Mitternachtsquadrille wird die Gesellschaft, die feine und die weniger feine, in ihren zumeist eleganten Abendroben und Fräcken gemeinsam ausgelassen, ja, beinahe bacchantisch. Diese »emsige wienerische Ausgelassenheit«, wie sie der aus Deutschland stammende einstige Burgtheaterdirektor Heinrich Laube in seiner »Reise durch das Biedermeier« beschreibt, findet man nirgendwo sonst auf der Welt, auch nicht bei den mit großem Erfolg im Ausland veranstalteten Wiener Opernbällen. Wien bleibt trotz der Globalisierung Wien!
Und wenn uns die einstige Kaiserstadt an der Donau auch im heutigen Österreich etwas mitzuteilen hat, dann jene von Albert Einstein so unvergleichlich schön formulierte Erkenntnis, dass wir alle hier auf Erden nach einer geheimnisvollen Melodie tanzen.
In der Kantine beim ersten Opernball nach dem Krieg 1956: Hilde Harvan, Erhard Buschbeck, Alice Herdan-Zuckmayer, Gusti Wolf, Carl Zuckmayer, Lotte Tobisch und Elisabeth Neumann-Viertel
Überreichung der Ehrenmedaille der Stadt Wien in Gold durch Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny am 1. Oktober 2007
KRISTALLBILDUNGEN
»Immer strahlend, wie macht sie das? Sie ist doch eine intelligente Person!«
Günther Anders
Menschen setzen im Alter Kristalle an. Ich finde es immer wieder erstaunlich, wer wem plötzlich nachweint oder unverhofft eine Lobesrede hält. Bei dieser Kristallbildung spielen das hohe Alter und die im Schwinden begriffenen Kräfte eine nicht unähnliche Rolle der hohen Luftfeuchtigkeit und niedrigen Temperatur, die die physikalische Voraussetzung für die Bildung von Eiskristallen sind. Mit diesem faszinierenden Prozess vergleichbar, wird das in die Jahre gekommene Leben zu einer Art Kristallisationskeim, an dem, einmal in Gang gesetzt, ein nicht mehr aufzuhaltendes Kristallwachstum zu beobachten ist. Interviews, Reportagen, Altersjubiläen und Laudationes mischen sich mit Ehrungen und Auszeichnungen, die man in jüngeren Jahren nie und nimmer bekommen hätte. Und so schließt sich stückweise jene Fensterscheibe, durch die wir zeitlebens in die Zukunft blickten, mit Kristallen, die zwar die Aussicht trüben, aber unseren Rückblick schmücken. Gegen diesen Glanz ist an sich nichts zu sagen, solange man sich vor Augen hält, wie schnell auch das schönste Eiskristallbild verdampfen kann.
Bei mir fing diese Kristallbildung ab dem 50. Lebensjahr an. Ehrenkreuz, Ehrenzeichen, Medaillen und Ehrenmitgliedschaften und der Goldene Ehrenring des Burgtheaters für die Verdienste um die Kollegenschaft, der mich am meisten berührte, waren das Vorspiel zu meiner Professorenernennung am Ende meiner Tätigkeit für den Opernball. Seither ist die Kristallbildung nicht mehr aufzuhalten und ich fürchte, dass ich mit meiner offensichtlich von meiner Mutter geerbten Langlebigkeit, wie schon des Öfteren in meinem Leben, das System ein wenig in Verlegenheit bringen könnte, weil ich so gut wie alle systemmöglichen offiziellen »Kristalle« erhalten habe.
Aber das soll nicht meine, sondern die Sorge anderer sein. Ein weiteres Privileg des Älterwerdens!
Postskriptum
So rot kann eine Republik gar nicht sein, dass alle Medien Jubelschreie auslösen, wenn ein gekröntes Haupt unser Land betritt. Und so verkündete auch ich voller Stolz bei der Pressekonferenz für den Opernball 1988: »Also, jetzt haben wir wieder einen echten König zu Gast.«
Doch die Freude über die Anwesenheit des Monarchen König Hussein und seiner Gattin Königin Nūr wurde wenige Stunden nach seinem Eintreffen in Wien jäh gedämpft, als offiziell mitgeteilt wurde, dass der Ballbesuch wegen Unruhen im Nahen Osten abgesagt werden muss. Die Polizei atmete auf und die Boulevardmedien waren in einer prekären Lage, denn sie hatten schon die Titelseiten − so wie auch wir auf unserer Opernballzeitung − gedruckt.
Wie dem auch sei − die Gesellschaft und die Medien kamen um »ihren« König und ich hatte mit den daraus folgenden Unannehmlichkeiten alle Hände voll zu tun. Aber im Wissen, dass der Ball mit oder ohne König genauso lustig oder unlustig sein würde, hielt sich mein Bedauern über die Absage in Grenzen. Außerdem hatte der König zuvor schon beschlossen, mir den jordanischen Unabhängigkeitsorden (Commander of the Order of Al-Istiqlal) zu verleihen. Und so bekam ich meine bis dato höchste und schönste Auszeichnung mitsamt Zertifikat für etwas, das nie stattgefunden hat.
In Anlehnung an ein heute geflügeltes Wort frage ich mich noch immer: »Was war meine