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Seelentreidler
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eBook301 Seiten4 Stunden

Seelentreidler

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Über dieses E-Book

Elijah ist ein Schöngeist - gefangen im Korsett des Psychologie Studiums. Seine melancholische Art ist Fluch und Segen zugleich - er empfindet die Schönheit der Welt und kann an ihr zerbrechen. Sein Mentor Joseph ist ihm ein Anker, bis dieser sich unerwartet lichtet und ein Geheimnis preisgibt. Elijahs bester Freund Thomas entfernt sich ebenfalls auf ungeahnte Art und Weise von ihm. Alles Äußere bricht weg und Elijahs Innenleben spielt verrückt.
Dann kommt sie - die entscheidende Wende im Buch und im Leben von Elijah. Schafft er es, seinen Schöngeist zu leben?
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum23. Nov. 2015
ISBN9783740707354
Seelentreidler
Autor

Michael Ritter

Michael Ritter schreibt seit seiner Kindheit Kurzgeschichten und Erzählungen. Er versteht es, tief in das Wesen seiner Figuren einzutauchen und Feinheiten im Charakter lebendig darzustellen. Er lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern im Süden Deutschlands.

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    Buchvorschau

    Seelentreidler - Michael Ritter

    Inhaltsverzeichnis

    Seelentreidler

    Impressum

    Erster Teil

    Kapitel 1

    Auf einer Bank im Park. Es war Frühlingsanfang.

    Wusstest Du, dass Serveto hingerichtet wurde?, fragte mich Thomas. Nein, wer war das? Was hat er getan? fragte ich mehr aus Höflichkeit, denn aus wirklichem Interesse. Eine entsetzliche Entdeckung hat ihn von innen, später von außen auf dem Scheiterhaufen heiß entfacht. Seine Erregung kontrollierend, meine Unwissenheit auskostend, sah er mich gespielt ernst von oben an. Aufgrund seiner Körpergröße war das ein Leichtes. Und wann immer es möglich war, setzte er seine Statur als untermalende Geste ein. Ich als freundlicher Mensch spielte mit. Erzähl schon, was hatte er herausgefunden, meine Neugierde hielt sich in Grenzen, aber das merkte Thomas offensichtlich nicht. Sichtlich befriedigt trieb er die Spannung weiter in die Höhe. Nun, Herr Professor, fuhr Thomas fort. Serveto stürzte lediglich das bislang gültige Weltbild der Medizin. Rate! Mein Interesse erwärmte sich nur mäßig, was möglicherweise daran lag, dass ich mich seit zwei Tagen wie innerlich betäubt fühlte. Um Thomas seine kleine Freude zu lassen, straffte ich mich und spielte den interessierten. O. K., er fand heraus, dass die Zirbeldrüse Lichtrezeptoren enthält, die dummerweise nach oben gerichtet sind. Nein Thomas strich scharf mit dem Zeigefinger von links nach rechts. Weiter! Ich tat als überlegte ich angestrengt, allerdings ließ meine innere Spannung sehr zu wünschen übrig. Also gut, drückte ich beschwerlich aus mir heraus. Er entdeckte das Innenohr-Labyrinth und mutmaßte, er habe eine verlassene Behausung eines Einsiedlerkrebses gefunden und ordnete den Menschen der Gattung der Fische zu. Bitte, der persönlich betroffene Unterton war nicht zu überhören. Wenn dir die Annalen der Medizin nicht wichtig sind, dann lassen wir es. Sollte ich ehrlich sein und dem Gesprächsende zustimmen oder mich zusammennehmen und Thomas einen Freundschaftsdienst trotz innerer Taubheit erweisen? Entschuldige bitte Thomas, mit geht es seit zwei Tagen nicht besonders gut. Ich wollte, dass er mich nach meinem Befinden fragt, doch das tat er wie üblich nicht. Er hat den kleinen Kreislauf entdeckt, platzte es aus ihm heraus. Und das hat ihn auf den Scheiterhaufen gebracht?, Wieso das denn? Überlegte ich laut. Die ganze einfältige Theorie, das Blut werde aus der Nahrung in der Leber produziert, im Herz angewärmt in der Lunge mit göttlichem Odem aufgeladen und versickere schließlich irgendwo im Gewebe war dahin. Thomas Enthusiasmus über diese Entdeckung brach sich Bahn. Überleg mal, welchen Dienst Serveto der Anatomie erwiesen hat. Die Forschung konnte weitergehen, die Lunge, die Drucksysteme, die Wechselbeziehung zwischen Körper und Lungenkreislauf konnte endlich verstanden werden. Ohne gründliche anatomische Kenntnisse keine therapeutischen Mittel!, Thomas drehte sich mit dem Oberkörper zu mir und fixierte meinen Blick. Hier wurden die Voraussetzungen geschaffen, um Lungen, Herzkreislauferkrankungen in ihre Ursache ausfindig zu machen um die entsprechenden Pharmaka einsetzen zu können. Aber alles ohne Serveto, gab ich bedenken. Ja sicher, ich meine, er war ja wohl nicht der erste der seine Entdeckungen wegen hingerichtet wurde", Thomas brachte seinen Körper wieder in die Ausgangslage zurück, außerdem schien sein Enthusiasmus plötzlich gedämpft.

    Schweigen. Unser typisches Schweigen. Heute hatte die innere Taubheit mich zu sehr im Griff, sonst wäre ich einem Streitgespräch nicht abgeneigt gewesen. Aushalten, ausharren, nicht darüber reden, das war jetzt dran. Ich mochte es nicht. Schwelende Uneinigkeit, Disharmonie. Thomas intellektuelle und meine emotionale Enttäuschung verdichtete die Luft um uns herum.

    Gott sei Dank steuerte Karin direkt auf uns zu. Hallo Jungs, schwer ausatmend ließ sie sich neben mir auf die Bank fallen. Für heute reicht mir aber. Stickiger Vorlesungsraum und Professor Archibal Smith, diesen Namen vertonte sie überdeutlich nasal, gleichzeitig verdrehte sie ihre Augen. Sie sank in sich zusammen, streckte die Beine weit von sich, legte ihren Hinterkopf auf der Lehne ab und schloss die Augen.

    Karin war ein Semester unter Thomas und dort jedoch nicht sehr beliebt. Sicher lag es an ihrer extrem schnellen Auffassungsgabe sowie an ihrem unerschütterlichen Selbstvertrauen. Wir hatten uns vor einigen Monaten kennen gelernt, da wir die Vorlesungspausen vorzugsweise allein im Park verbrachten. Sie meist in ein Buch, ich in die Natur oder in eins meiner Notizbücher vertieft.

    Auch Hallo, brummte Thomas, ohne sie anzuschauen. Na Frau Wild, machen wir unserem Namen heute wieder alle Ehre?, sprach es aus mir erleichtert über ihre Anwesenheit. Du glaubst es nicht, aber unser allseits beliebter Archie, wieder der nasale Ton, lässt offene Willkür walten. Schwungvoll stand sie wieder auf und begann eine Tirade auf Professor Smith. Das ist so ein aufgeblasener Chauvinist, ein Patriarch von der ganz üblen Sorte. Am einfachsten wäre es, er würde eine reine Männervorlesung anbieten. Der reagiert einfach nicht auf Fragen von Frauen. Man hat auch ständig den Eindruck, er doziere nur zu den anwesenden Männern. Innerlich musste ich schmunzeln über ihre echauffierte Art, aber ich wusste, dass sie mit ihrer Beobachtung recht hatte. Auch ich kannte Gastprofessor Smith aus Edinburgh aus Vorlesungen. Als Mann fühlte man sich ihm auf eine merkwürdige Art nahe.

    Ich werde mich beim Dekan beschweren, dem Smith heiz ich so richtig ein. Was glaubt er wer er ist und in welchem Zeitalter wir uns befinden?. In ihre berechtigte Aufregung mischte sich Verzweiflung und Wut. Die Kombination dieser beiden Emotionen war mir sehr vertraut, denn hinter der Wut, dem Zorn, der Aggression verbirgt sich in aller Regelmäßigkeit Verzweiflung und Trauer. Ich wunderte mich über diese gefühlsmäßige Steigerung, da es ansonsten zwischen uns ausreichend war, wenn der andere zuhörte. Stillschweigend konnten wir uns so von intensiven emotionalen Zuständen befreien. An diesem Tag war es anders.

    Thomas hüstelte, als wollte er sich mental auf eine Rede vorbereiten. Plötzlich verstand ich. Ich hatte Thomas völlig ausgeblendet, Karin offensichtlich nicht. Keine Geste, keine mimische Veränderung, kein Wort hatte seine Anwesenheit verraten. Aber jetzt, nachdem meine Wahrnehmung wieder zu ihm schwebte, merkte ich seine Haltung. Stocksteif, bewegungslos aber hoch konzentriert saß er da. Die Ellenbogen auf seine Knie gelegt, seine Hände gequetscht haltend, den Blick starr nach vorn gerichtet dünstete er seine Meinung aus. Ja man roch seine Erregung, sein Zittern, seine Angst, als transpiriere er seine Stellungnahme aus jeder Pore. Ein neuerliches Hüsteln war nicht vonnöten, er hatte meine Aufmerksamkeit. Ich war gespannt, was folgen würde, gleichzeitig schwante mir ungutes.

    Was ist?, fauchte Karin Thomas an. Sag offen was du denkst und verpeste nicht immer unterschwellig die Luft. Das war deutlich. Ich liebte ihre Art, Interpretationsmöglichkeiten über ihre Aussagen möglichst gering zu halten. Doch manchmal fragte ich mich, ob diese unverblümte Direktheit als mutig oder als Verzweiflung auszulegen sei. Einerlei, Thomas reagierte anders als erwartet. Seine Quetschstellung der Finger lockerte sich, er richtete seinen Oberkörper langsam auf und lehnte sich betont lässig an der Lehne an. Sein Gesicht erhellte sich, er legte den Kopf etwas schräg und schwieg. Seine Hände falteten sich wie im Gebet, eine Stellung, die er gerne einnahm. Sein ganzes Wesen strahlte Erhabenheit aus.

    Bist du auch so einer, wie der Smith, wenn sie in der Lage gewesen wäre Gift zu spucken, sie hätte es getan. Seine Antwort kam in Form von Körpersprache zurück. Thomas steigerte seine Erhabenheit in eine dezente aber deutliche Überlegenheit. Karins Augenlider zitterten und formten sich schlitzartig. Die Menge der Tränenflüssigkeit stieg rapide an, das Nasenflügelbeben erinnert an Nüstern. Zu meiner Überraschung hörte ich in mir ein imaginäres Galoppgetrappel und mir war klar, sie ritt sich geradewegs in Teufels Küche. Ich hoffte inständig, sie möge nichts mehr sagen, aber diese Bitte wurde nicht erhört.

    Arschloch, das war alles was noch zu sagen blieb. Die passende Geste sollte wohl der empor gestreckten Mittelfinger sein, jedoch vergaß sie das Buch in ihrer Hand. Dieses sauste los und schlug aufgeklappt vor Thomas Füßen auf. Reflexartig wollte ich mich bücken um ihr diese Schmach zu ersparen, aber ich war zu langsam. Indes hatte Thomas genügend Zeit, seiner Überlegenheit eine Prise Verachtung hinzuzufügen. Die Wuttränen hatten nun freie Bahn. Sie riss das Buch an sich, wirbelte herum und marschierte hoch erhobenen Hauptes davon, nicht ohne mir noch einen hilfesuchenden Blick zu zuwerfen. Ich melde mich bei dir, rief ich ihr mit brüchiger Stimme nach.

     Unsicher, was jetzt die richtige Handlung wäre, rutschte ich nervös auf der Bank umher. Männern gegenüber mangelt es ihr aber an Benimm, meinte Thomas mit selbstgefälliger Geste auf sich deutend. Das kann ich bei mir nicht behaupten, gab ich zurück. Du gibst ihr natürlich recht, offensichtlich ungerührt von der Situation, nahm Thomas nun auch mir gegenüber eine, zwar nicht ganz sichere, Überheblichkeit an. Ich schwankte zwischen verletzt sein, mich beleidigt zurückziehen, unverschämt rhetorisch auszuteilen oder aber dem stärksten Drang in mir nachzugeben - der taub machenden Verzweiflung zu erliegen.

    Und so kam es auch. Ich fühlte mich schuldig und allein, geradezu verlassen. Das letzte Quantum Spannkraft entwich aus mir. An eine Grundsatzdiskussion mit Thomas war nicht mehr zu denken. Jeglicher Gefühlsausdruck war nun unmöglich. Und das Schlimmste an diesem Zustand war der Umstand, dass sich weder wusste woher er kam, noch wie ich ihm effektiv begegnen konnte.

    Ich musste etwas tun dachte ich, was indessen ohne ein Fünkchen Tatendrang recht ausweglos erschien. Bewegung, Ablenkung, Ankämpfen - irgendetwas musste helfen. Doch allein diese Gedanken vervollständigten die innere Lähmung so perfekt, dass ich sie nun auch im Körper als bleierne Schwere wahrnahm. Vollständig blockiert, eingesperrt und unfähig Gefühle oder Gedanken zu artikulieren, driftete ich in eine gigantische melancholischer Wolke hinein.

    Hier war es wieder, das Nichts, die Ausgeburt der Sinnlosigkeit, das Gefühl der Gefühllosigkeit. Das einzige was jetzt noch ging, war Selbsthass. Wüste innere Beschimpfungen folgten, gepaart mit dem kräftigen Drang, mich selbst in Stücke zu zerreißen. Irgendwie tat ich mir leid, aber bevor ich mich besänftigen konnte, nahm der Selbsthass dieses zarte Gefühl zum Anlass, mich als selbstmitleidiges Weichei zu geißeln. Eine echte Geißel wäre momentan nicht die schlechteste Wahl, würde doch so der innere Zustand auf den Körper geworfen, weithin sichtbar, realer und vielleicht verständlicher. Aber mein Spitzname Professor gefiel mir recht gut, ich wollte keinen Anlass bieten, Luther genannt zu werden.

    Als ob Thomas meine innere Identitätslosigkeit unterstreichen wollte, zeigte er sein völliges Desinteresse an meiner Situation, in dem er ganz in seiner Gedankenwelt versunken war. So ähnlich muss man sich wohl als altgedientes Ehepaar vorkommen überlegte ich angestrengt, jeder in seiner Welt, unfähig sich adäquat zu artikulieren, ebenfalls unfähig oder nicht willens, den anderen gefühlsmäßig zu erfassen. Da ist kein Platz mehr für Zuneigung geschweige für Liebe. Gott ist tot - Nietzsches wuchtige Behauptung kam mir auf einmal sehr real vor.

    Eine Wolke schob sich vor die Sonne. Der Frühling steckte Anfang April noch in den Kinderschuhen, daher kühlte die Luft deutlich ab. Gleichzeitig erfasste mich eine Brise und brachte mir den Duft des Nachmittags in die Nase.

    Seltsamerweise begann sich meine innere Leere zu füllen. Es keimte eine zarte Empfindung in mir auf, eine kleine Gewissheit, eine kurze Freude zeigte sich. Die Anspannung lockerte sich, die Schwere enthob sich meinem Körper. Langsam, jedoch eindeutig und unermüdlich, verzog sich meine persönliche Variante der Vorhölle. Mein Geist hellte sich allmählich auf, meine Emotionen bekamen wieder geordnete Konturen. Alles erinnerte mich an ein tiefes Luftholen nach einer Zeit allzu deutlichen Ausatmung. Fast greifbar strömten frische Lebensgeister in mich ein. Ein feines Prickeln und wohlige Schauer begannen mich zu entzücken. Ich wurde der Welt um mich herum wieder gewahr.

    Die Brise hob zum Wind an und brachte mir die Botschaft der Freiheit. Das zarte Pflanzengrün ringsum zeigte das Neue, ja förmlich eine Wiedergeburt an. Traute ich mir zu jauchzen, das wäre meine Wahrheit gewesen. Aber ich blieb vernünftig und genoss das einströmende Leben, nicht gewiss, ob ich diesem Zustand trauen konnte. So intensiv dunkel das Tal, so herrlich und hell mein Gipfelzustand. Diese Wandlung war fantastisch und schnell wie nie zuvor. Ich schickte meinen Verstand auf die Suche nach der Ursache. Seit vorgestern begann es, sich in mir zu verfinstern. Es wollte mir aber kein besonderer Anlass dazu einfallen. Mir waren ja auch innere Abstürze ohne Grund bekannt.

    Das Zusammentreffen mit Karin und das vorangegangene Gespräch mit Thomas ließen die dunkle Leere in mir eskalieren. Die erste bewusste Wahrnehmung vor der heilsamen Wandlung, war die Wolke, die sich vor die Sonne schob.

    Welch Ironie, welch merkwürdiger Zufall. Dem musste ich in einer ruhigen Stunde unbedingt nachgehen. Mein goldgerändertes Notizbuch enthält folgende letzte Eintragung, keine zwei Tage alt:

    Meine Offenbarungen sind zynisch und tragen mehr als den Hauch von Resignation. Schleichendes, peitschendes Leben ohne angemessen viel Freude.

    Alles Romantische, Positive und Gute muss heraus gepresst werden wie ein tief sitzender Abszess. Anstrengendes Dasein eines Stehaufmännchen. Ein Wort fürs Leben - Problem. Denn -  auch weise Menschen erliegen dem Krebs. Doch alles nur ein gewaltiger Witz ohne nennenswerte Pointe?

    Die neue Notiz: Zusammenhang Wolke vor Sonne und verschwinden einer depressiven Phase.

    Ich klappte das Büchlein zu und musste feststellen, dass ich Thomas freundlich, fast zärtlich betrachtete. Beide wollten wir helfen, neue Maßstäbe setzen, nicht bloß Medizin und Psychologie studieren sondern die Medizin und die Psychologie sein. Wir wollten ein neues Bewusstsein, ein ganz neues Weltbild erschaffen. Wir wollten die Führer der neuen Heilergeneration sein - Gnaden verschwenderisch verschenken, kurieren wie junge Götter.

    Hey, nickte ich Thomas zu, wann zetteln wir unsere Revolution an? Was? Welche Revolution?, fragte er irritiert aus seinen Gedanken gerissen zurück. Du weißt schon, unsere Pläne die Menschheit zu retten.. Mit dir rette ich überhaupt niemanden, solange mich deine Freundin als Arschloch bezeichnet, brummte er. Zunächst einmal ist Karin eine und nicht meine Freundin. Und außerdem könnte man ihre Bezeichnung für dich auch als simple Feststellung deuten, dass Du, unter anderem, auch ein Anus besitzt, gab ich zu bedenken. Äußerst amüsant, stoffelte  er zurück, aber ich sah für einen kurzen Augenblick seinen Schalk aufblitzen. Komm schon, deine Körpersprache ihr gegenüber war alles andere als unmissverständlich. Ihr seid beide auf eure eigene Art sehr direkt. Vielleicht entdeckt ihr noch mehr Gemeinsamkeiten, wenn ihr euch mal richtig kennen lernt, ich zwinkerte ihm süffisant zu, aber seine Toleranz für derartige Anspielungen war sehr gering.

    Ich gehe dann, Thomas schulterte  seinen Rucksack. Im Weggehen war er immer recht schnell. Bist du beleidigt?, fragte ich ihn. Nein, beinahe ängstlich antwortete er, wobei er darauf achtete, mir nicht die Augen zu schauen. Ich muss los, hab noch einen Termin. Er hatte noch nicht ganz zu Ende gesprochen, da setzte er sich winkend in Bewegung. Ich schnappte mir meine Tasche und lief ihm nach. Wohin gehst du, soll ich dich begleiten? Fast erschrocken über dieses Angebot beschleunigte Thomas seine Schritte und wiegelte ab. Nein, es ist nichts Wichtiges. Er gab mir das Gefühl, ich solle nicht weiter fragen und so tat ich ihm den Gefallen. Merkwürdig. Und schade. So schlenderte ich zur Bank zurück.

    Was war denn nur los? Karin so angestachelt, Thomas so seltsam. Ich entschloss mich, mir momentan keine weiteren Gedanken darüber zu machen, da ich meine zurückgewonnene Lebendigkeit noch genießen wollte. Mein weit gestellter Blick ruhte auf dem parkähnlichen Areal mit seinen hohen Bäumen, welches die Gebäude der Universität umgab.

    Kapitel 2

    Die nächsten Tage verstrichen wie gewohnt recht eintönig. Eine Vorlesung jagte die Andere. Man hatte nicht viel Zeit zur Muse während des Abschlusssemesters. Wollte das Examen bestanden werden, war stupides Lernen an der Tagesordnung.

    Der muffige, bücherverstaubte Alltag der Wissenschaftler überdeckte nahezu jede zarte Gefühlsregung, jeder poetische Gedanke wurde in einer trockenen Staubwolke erstickt.

    Zeit für eigene Gedanken war nicht im Stundenplan vorgesehen. Das vorgesetzte Wissen sollte runtergewürgt und verdaut werden, damit es möglichst unpersönlich wieder reproduziert werden konnte. Mich beschlich des Öfteren das Gefühl, dass kritische Gedanken dem gesamten System gegenüber einem Sakrileg gleichkam. Um subversive Tendenzen im Keim zu entwurzelten, wurden die Hirnzellen mit dem Auswendiglernen unendlicher statistischer Verfahren, dem Pauken von Symptomketten und Therapieverfahren, dem Herbeten von Hunderten von Fachtermini beschäftigt gehalten. Wie kann Wissenschaft Wissen schaffen, wenn eigenes Denken nicht erwünscht ist?

    Diese Art von Gedanken versetzten mich in Unruhe und ließen mich zweifeln. So zwang ich mich zur Konzentration, heftete meinen Blick an die Tafel und notierte mir voller Widerwillen die  Formel von Benzodiazepinen. Mit äußerster Hartnäckigkeit versuchte ich meine Gedanken auf die Biochemie zur fokussieren. Doch wie gerufen, trat mein imposanter moralischer Überbau auf den Plan. In aller Konsequenz konnte ich mich beileibe nicht von der Wichtigkeit dieses Wissens überzeugen. In typischer Manier moralisierend und Zeigefinger wedelnd schnauzte es mich innerlich in einem zackigen Militärton an. Hör mir zu!, befehligte es. Einfach konzentrieren, nichts anderes. Wenn du fühlen musst, dann Dankbarkeit für den Studienplatz. Nutze die Chance! Bleib stark, denk positiv! Reiß dich zusammen! Bilder und unschöne Erinnerungen an meine Schulzeit tauchten auf. Hör auf, sei still, nein so nicht, bleib ruhig !, ein einziger Albtraum. In der Universität interessierte das niemanden. Jetzt muss der Befehl von innen kommen, sonst darf man nicht mehr mitmachen. Und hier nicht mehr mitmachen zu können hieße, sich von den Fleischtrögen der Gesellschaft zu entfernen - wer will das schon? Denn schließlich, so wurde mir von Kindesbeinen an eingetrichtert, ist man nur was, wenn man was kann.

    Schnell stellte sich für mich jedoch heraus, dass das angepriesene Können mit der Konzentration auf Einzelteile verbunden war. Eine geradezu starre Versessenheit auf Details und die dazu passenden Merk- und Erinnerungsfähigkeit war die unabdingbare Voraussetzung. Weder in der Schule, noch im Studium zählte integrales Verständnis, der Sinn fürs Ganze, um nicht zu sagen, dass philosophisch poetische Schauen des inneren Zusammenhangs der Dinge dieser Welt. Da war er wieder, mein Grundsatzkonflikt. Meine erlebte Realität contra Idealvorstellung. Die Sorge um die Zukunft, die Karriere, das Auskommen, ja um die Rente, gegen die Suche nach der Wahrheit und Schönheit, dem Ideal der Vollkommenheit. Bücher oder blaue Blumen – das war hier die Frage.

    Ein Knall ließ mich zusammenfahren und aus meinem Sinnieren erwachen. Zwei Reihen hinter mir ging eine Glasflasche zu Bruch und der Inhalt suchte sich den Weg immer der Schwerkraft folgend nach unten. Niemand wollte ein klebriges Getränk in der Tasche haben und so erhoben sich einige Reihen von Studenten. Durch diese Unruhe wurde die Vorlesung frühzeitig beendet.

    Hatte ich das verursacht? Manchmal, so schien mir, packte mich der Größenwahn. Da gab es eine Ecke in mir, die ernstlich in Erwägung zog, das äußere, zufällige Begebenheiten direkt von der vorausgegangenen inneren Situation hervorgerufen wurden. Hatte mein Zweifel am Unterricht das Pendant im Außen, sozusagen als Antwort entstehen lassen? Solch müßige Gedanken konnten mich in ein wahres Wirrwarr bringen, mit dem Resultat, dass ich an der Echtheit einer jeglichen Realität zu zweifeln begann.

    Nein, das war nicht der passende Augenblick weitere Untersuchungen anzustellen. Dennoch fühlte ich mich beauftragt, Fragen jedweder Art auf den Grund zu gehen, letztlich um den Fragen der künftigen Patienten angemessen begegnen zu können. Im Hinauslaufen notierte ich deshalb in mein Notizbuch: Check -Zusammenhang Zweifel am Unterricht und abgebrochene Vorlesung.

    Nachdem ich mein Schreibebuch in meiner Innentasche verstaut hatte, sah ich weiter vorne im Gang Thomas laufen. Im gemäßigten Trab schlängelte ich mich an den Mitstudenten vorbei. Als ich ihn fast eingeholt hatte, bemerkte ich, dass er ganz kurz zu schwanken schien, so als habe er für wenige Millisekunden sein Gleichgewicht verloren.

    Ich klopfte ihm auf die Schulter. Servus Herr von und zu, begrüßte ich ihn bezugnehmend auf seinen adligen Namen von Rosenthal. Oh hallo antwortete Thomas. Er wirkte erschrocken, ob über meine freundliche Attacke oder über die Möglichkeit, dass ich sein Schwanken gesehen haben könnte, war mir nicht klar. So erfreut mich zu sehen?, mein sarkastischer Unterton konnte ihm nicht entgangen sein. Du brichst in Jubelgeschrei aus wenn wir uns sehen, du beantwortest meine Mails immer pünktlich 2-3 Wochen später mit kurzen nichtssagenden Sätzen, du beschleunigst schon wieder deine Schritte, was ist denn nur los?. Ich versuchte ihn festzunageln. Lass mich raten - ein Termin, nahm ich seine Antwort vorweg. Wieder fiel mir auf, dass er wohl darauf bedacht war, mir nicht in die Augen zu schauen. Irgendwie kam mir das alles sehr befremdlich vor und meine Enttäuschung vermochte ich auch nicht zu verbergen.

    Auch wenn es sich blöd anhört, ich habe tatsächlich gleich einen Termin, fast entschuldigend kam die Antwort und allein das stimmte mich versöhnlich. O. K., wann kann ich meinen Freund Thomas von Rosenthal wieder privat sprechen?. Ich ruf dich in den nächsten Tagen an, in Ordnung?, gab er zurück, wieder bedacht nicht stehen zu bleiben und mich möglichst nicht anzusehen. Ich nehme dich beim Wort, sagte ich. Also, bis dann, antwortete er im weitergehen.

    Ich wurde langsamer und ließ mich irritiert auf einem Fenstersims nieder. Thomas ging nicht wie erwartet zum Hauptausgang hinaus, sondern er lief die Treppen hoch und steuerte auf den Gang zu, in dem sich die Arbeitszimmer der Professoren befanden.

    Ein Pulk von hinausströmenden Studenten zog an mir vorbei. Plötzlich sprangen Nicolai und Simon direkt vor mich und erlöst mich aus meiner Irritation. Der Herr Professor-ein kühles Blondes genehm, du siehst mir aus als könntest du eins vertragen, mit einladender Geste deutete Markus auf seinen sehr voll wirkenden Rucksack. Komm auf geht's, Simon zog mich ohne eine Antwort abzuwarten vom Fenstersims hoch. Warum nicht, dachte ich bei mir und ging mit den beiden in den Park.

    Wir streckten uns ins Gras und ließen die Bügelverschlüsse aufspringen. Prosit, Jammas, Nastrovje. Die erste Flasche war schnell leer. Simon und Nicolai waren recht sattelfest was den Umgang mit den verschiedensten Substanzen betraf. Das zweite Blonde folgte sogleich. Ein Drittes lehnte ich vorerst dankend ab.

    Ich war froh über diese spontane Ablenkung, da ich mich von Thomas zurückgesetzt fühlte und mir begann Sorgen zu machen. Ich konnte die Gedanken nicht ganz abschütteln, aber sie verloren dank der Biere ihren aufdringlichen Charakter.

    Ob wir den Herrn Professor am Samstag zur Party einladen, ist noch nicht ganz klar, beide sahen mich gespielt fragend an. Denn Spaßbremsen sind bekanntermaßen auf Juristen Partys besser aufgehoben, Nicolai stellte sich so vor mich, dass ich im Schatten lag. Aus zugekniffenen  Augen schaute ich zu ihm hoch. Die Partys bei Nicolai und Simon waren berüchtigt. Manchmal schafften es vereinzelte Studenten aus anderen Fakultäten daran teilzunehmen. Aber die beiden waren Verfechter irgend eines Standes Kodex und luden ausschließlich Medizinstudenten zu ihren Ausnahmepartys ein. So machten sie sich einen Namen. Man liebte oder hasste sie. Aber gleichzeitig versuchten alle ihnen zu gefallen damit sie einen der raren Plätze in ihrer erlauchten Gesellschaft ergattern konnten. Offensichtlich hatte ich bei Ihnen eine Sonderstellung inne. Nicht nur dass ich der einzige Nichtmediziner war, der eingeladen wurde, sie suchten auch in regelmäßigen Abständen meine Nähe und es galt als unausgesprochen selbstverständlich, dass ich bei ihren Festen dabei war. Die genialsten Köpfe waren sie sicherlich nicht, doch wie im wahren Leben zählten auch hier andere Eigenschaften.. Sie waren die unangefochtenen Stimmungsmacher, die begehrten Alphatierchen, die Tonangeber.

    Was heißt hier Spaßbremse?, fragte ich. Liegst hier lustlos rum und brütest vor dich hin, das meine ich, antwortete Simon, der sich seinem vierten

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