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Die Herren der Bucht
Die Herren der Bucht
Die Herren der Bucht
eBook549 Seiten7 Stunden

Die Herren der Bucht

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Über dieses E-Book

Die bulgarische Schwarzmeerstadt Burgas ist der Schauplatz von Maria Kondakowas bildkräftigem und bewegendem Roman. Atmosphärisch dicht erzählt sie die Geschichte des talentierten Dichters Ognjan Konstantinow, in dessen Leben wie in einem verzerrenden Spiegel das Schicksal der Stadt, der Intellektuellen Bulgariens und des ganzen Landes sichtbar wird. Zwölf Jahre alt ist Ognjan, als er zum ersten Mal die Magie des Meeres spürt: „… vom ersten Blick auf die endlose blaue Weite, vom ersten Hauch des salzigen Windes an, beherrschte und unterwarf ihn das Meer“ – fortan wird es Quell seiner poetischen Imagination.
Wenig später lernt er Adela, seine erste und einzige große Liebe, kennen. Der Strand, der Meeresgarten, die verwinkelten Gässchen von Burgas werden ihre Treffpunkte, an denen sie traumverloren den Zauber ihrer Liebe erleben – nicht wahrnehmend, dass nach der vorsichtigen Öffnung in den 60er Jahren das kommunistische Regime die Zügel wieder fester anzieht. Auch Ognjan gerät in seine Fänge. Von Derebejew, dem sadistischen Parteichef und allmächtigen Herrscher über die Bucht erpresst, wird er zum Verräter seiner Poesie, wird zum Auftragsdichter. – Und auch Adela wird er Derebejew opfern. An dessen Händen klebt schon das Blut vom Umsturz am 9. September 1944...
Von jenen schuldbeladenen Ereignissen bei der Gründung des kommunistischen Staates über den hoffnungsvollen Aufbruch der Menschen nach der Wende bis zur schnell einsetzenden Desillusionierung spannt sich der Bogen des Romans. Atemlos verfolgt der Leser das Schicksal seiner Protagonisten im Strudel der Ereignisse …
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum9. Nov. 2015
ISBN9783739280936
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    Buchvorschau

    Die Herren der Bucht - Maria Kondakowa

    Zur Erinnerung an meinen Vater – den Priester Iwan Kondakow

    Inhalt

    VORWORT

    Erster Teil

    DIE STILLE BUCHT

    Zweiter Teil

    DIE AGONIE

    Dritter Teil

    WENN ICH KEINE LIEBE HÄTTE

    Wie nahe die Wirklichkeit dem Vergangenen auch kommt, ist die Geschichte meiner Helden jedoch, wie in jedem Roman, frei erfunden. Jede Übereinstimmung der Ereignisse und Namen der Personen in diesem Buch (außer den historischen) mit real existierenden ist daher als zufällig anzusehen.

    Die Autorin

    Die in diesem Buch enthaltenen Gedichte (außer Zitate) sind von Maria Kondakowa.

    VORWORT

    Die Geschichte des Poeten Ognjan Konstantinow begann während der 60er Jahre.

    Zu dieser Zeit erwachte unsere kleine Stadt am Schwarzen Meer wieder – wie ein Mensch, der sich nach überstandener schwerer Krankheit aufrichtet und in seinen Gliedern neue Lebenskraft pulsieren fühlt. Das mit Angst und Entsetzen verbundene Leiden, das bisher die Seele der Stadt fesselte, trat in den Hintergrund – die Stadt wollte jetzt wieder fröhlich sein und sich vergnügen, um die durchzitterten Nächte, die dunklen Vorhänge vor den Fenstern, den Lärm des sich nähernden Jeeps und die Frage: »Kommen sie diesmal, um mich abzuholen?«, vergessen zu können.

    Die Stadt wollte vergessen. Die Straßen füllten sich wieder mit Menschen, die abends schön gekleidet und unbeschwert am Meer spazieren gingen. Am Rande der Hauptstraße ließen sich Konditoreien – weiß wie Möwen – nieder. Aus ihrem Innern hörte man wieder Lachen, Sprechen und Jazzmusik.

    Jung und Alt kam hier zusammen, um sich mit Freunden zu treffen. Die Jugendlichen flirteten mit stolzen, herausgeputzten Mädchen. (Wo kamen nur plötzlich all die feinen Kleider, hohen Absätze und betörend toupierten Frisuren her?)

    Jeder beeilte sich, zu leben, den Atemzug der Freiheit zu genießen, der ihm seit langer Zeit wiedergegeben war.

    Nachts hörte man Gitarrenklänge. Jugendliche sangen durch die verstummten Straßen, hielten unter den Fenstern einer Geliebten und brachten nach altem, südländischem Brauch eine Serenade dar.

    Die Stadt atmete Romantik und Poesie, roch nach Meer und seufzte nach Liebe.

    Doch es war noch nicht lange her – im März 1953 –, als im Bulgarischen Nationalradio schwere Trauermusik zu hören war. Eine schwermütige Männerstimme verkündete in lang gezogener, einem Trauerzug ähnelnder Art und Weise:

    »Heute ist der Generalsekretär der KPdSU, der Führer des Weltproletariats, Freund und Lehrer der Völker, Generalissimus Josef Wissarionowitsch Stalin gestorben!«

    Für die meisten Bulgaren war diese Nachricht ein Anlass für Freudensprünge. Die Männer saßen mit gespitzten Ohren an den Radiogeräten. Ein noch ungläubiges Lächeln huschte über ihre Gesichter – als wäre es unwahrscheinlich, dass der Unterdrücker das Zeitliche gesegnet hätte, so als wäre er selbst für den Tod unerreichbar gewesen.

    Jedoch die Nachricht wurde zwei-, dreimal wiederholt und die Männer sprangen von ihren Stühlen auf und tanzten mit aufgeregten, doch stummen Gesten durch das Zimmer.

    Die besorgten Ehegattinnen ermahnten sie vor ihrem Weg zur Arbeit:

    »Hör zu! Dass du dir ja nicht erlaubst, draußen zu lächeln! Sofort werden sie dich wegstecken!«

    »Ach du!« – antwortete der etwas gekränkte Ehemann. – »Ich weiß schon! Ich bin doch nicht von gestern!«

    »Du weißt es, aber deine Augen blicken fröhlich!«

    »Soll ich vielleicht weinen?«

    »Ja!«

    Diese Atmosphäre der erniedrigenden Angst und erzwungenen Unterwerfung ging an Ognjan Konstantinow vorüber, ohne ihn zu berühren. Er war noch ein Kind, die Zeit des Entsetzens hatte in seiner Seele nur eine trübe Erinnerung hinterlassen.

    Die 60er Jahre waren für Ognjan nicht nur der Beginn seiner Jugend, sondern auch der Weg zu einem unwahrscheinlichen, schwindelerregenden Aufstieg.

    Die Stadt erzitterte und glaubte, dass sie sich von dem Terror befreien konnte, wie man Schmutz von den Schuhen abschüttelt. Sie begann zu leben. Zusammen mit Liebesabenteuern, Cafébesuchen und Tanzvergnügen erwachte in ihr ein bisher nicht gekanntes Interesse für die Kunst. Verändert und erneuert, begann die Kunst, den grauen Alltag der Fabrikschornsteine in den Schatten zu stellen. Lieder wie »Früh morgens werde ich als lachende Traktoristin die Sonne mit klarem Blick begrüßen!« gehörten der Vergangenheit an. Jeder lächelte jetzt spöttisch über solche »Verse« . In den Köpfen sprossen neue, ketzerische Gedanken. Junge, unbekannte Poeten lasen in den Klubs ihre ersten Gedichte vor, sprachen erregt über eine neue, menschlichere, bildhafte Poesie, begeisterten sich an Lorca und rezitierten den bislang verbotenen Esenin.

    Das Theater öffnete weit und gastfreundlich seine Tore. Enthusiastische Regisseure, die eben erst die Hochschule verlassen hatten, kamen aus Sofia und überraschten uns mit ihren neuen, modernen Inszenierungen. Die Vorstellungen waren überfüllt. Aber noch interessanter waren die lauten öffentlichen Diskussionsveranstaltungen darüber, die von ihnen organisiert wurden.

    Auch die Konzerte der Philharmonie waren mit Publikum überfüllt. Musikkenner und Snobs besuchten sie jeden Donnerstag. Sie hörten Mozart und Beethoven und klatschten stürmisch Beifall.

    Die Konzerte wurden auch von aufgetakelten Damen besucht, die damit nur zeigen wollten, dass sie »etwas von Musik verstehen« .

    In der Stadt entflammte eine eigenartige Manie – jede zweite Familie wollte aus ihren Kindern Musikanten machen. Alle zwei bis drei Häuser hörte man eine Violine üben oder die Klänge eines Klaviers.

    Die Jugend hatte jedoch eine andere, eigene Musik. Sonntags zehn Uhr erschallte die Stimme von Elvis Presley – die Jugendlichen hörten Radio Istanbul! Die Stadt am Goldenen Horn war viel näher an Burgas als Sofia und die Sendungen von dort waren klar und deutlich zu hören, als kämen sie vom benachbarten Hof. Mit der Stimme von Elvis Presley wehte der Wind der Freiheit durch die Straßen …

    Und die Menschen vergaßen fast, dass ihr Leben immer noch von der Kommandobrücke des großen, weißen Gebäudes im Zentrum von Burgas – dem Kreiskomitee der Partei – gelenkt wurde. Dort saßen die Herren der Bucht von Burgas.

    Während der 60er Jahre sah es aus, als wären alle Wege offen, die Träume hatten noch Flügel …

    In dieser Atmosphäre der Hoffnung und des Glaubens wurden die ersten Gedichte von Ognjan Konstantinow geboren. Sie berührten die Menschen mit dem Atem der Liebe, mit dem Streicheln des Wassers der stillen Meeresbucht und eroberten die Herzen. Sie wurden überall rezitiert, die Jugendlichen flüsterten sie ihren Geliebten ins Ohr. Ognjan Konstantinow wurde bald die bekannteste Person in der Stadt. Seine Worte sprühten Funken und ließen den Zauber einer neuen, weichen und unwahrscheinlich frischen Poesie spüren.

    Während der 60er Jahre künstlerisch zu arbeiten ähnelte der Berührung einer Meeresbrise. Die Luft ließ den Frühling erahnen und das Gefühl unbegrenzter Möglichkeiten erfüllte die Brust. Ognjan Konstantinow wuchs von Kind an mit der Überzeugung auf, alle Wege gehen zu können und alle Gipfel der Kunst zu erklimmen. Die Stadt ehrte ihn und rühmte sich seiner. Er glaubte an seine Kräfte und dachte, er sei eine große Persönlichkeit, die man nicht einfach umwerfen oder übergehen könne … Er glaubte an sich und seine Liebe zu den Worten, die er wie ein Geheimnis aussprach, wie Signale eines Leuchtturms an die anderen Menschen schickte …

    Bis zu dem Moment, als die Herren von Burgas auch von ihm ihren Tribut verlangten und sich ihm auf seinem Weg, der steil nach oben führte, als unüberwindbares Hindernis entgegenstellten …

    Vom großen weißen Haus im Zentrum der Stadt aus wurde jeder Schritt von Ognjan Konstantinow aufmerksam verfolgt. Betonköpfe entschieden sein Schicksal. Und in ihm wurde wie in einem verzerrenden Spiegel das Schicksal unserer Stadt und des ganzen Landes sichtbar …

    Ich würde nicht sagen, dass Ognjan Konstantinow den meisten Menschen unserer Gesellschaft während dieser Jahre ähnelte. In seinem Fall zeigte sich nicht die Tragik des gewöhnlichen Bulgaren.

    Ognjan Konstantinow war etwas Außergewöhnliches. Er begann sein Leben mit dem unwahrscheinlichen Start eines unendlich begabten Menschen.

    Sein Talent war wie ein lebendes Wesen – es schrie in ihm wie ein Kind, bettelte und drängte danach, sich weiter zu entwickeln! Seine Gedichte – schön wie Frühlingsblumen, mit dem Geruch frischer, lockerer Erde, mussten geschrieben und gedruckt werden! Er wollte der Anspannung widerstehen, die sein Talent von ihm forderte!

    In seinem Porträt spiegeln sich die Gesichter der Intellektuellen dieser Zeit wider. Hochbegabte Poeten und Schriftsteller – Künstler des Wortes –, die nicht den Mut hatten, die Probleme ihrer Zeit wenigstens anzudeuten! Sie unterdrückten die Wahrheit und schrieben nach Parteivorschriften.

    Deren Leben wurde bald sinnlos. Sie verbrachten ihre Zeit mit inhaltslosen Gesprächen – bei einer Tasse Kaffee oder einem Glas Kognak in den Klubs. Sie verwandelten sich allmählich in gewöhnliche Provinzialisten, als »Sehenswürdigkeiten« der kleinen Stadt oder der spießbürgerlichen Hauptstadt … Sie hatten das größte Verbrechen begangen – die Ermordung ihrer eigenen Seelen …

    Vielleicht hätte die Entwicklung in Bulgarien – nein, die Entwicklung in ganz Osteuropa – schon lange eine andere Richtung genommen, wenn ihre Intellektuellen nicht ihren Rücken gebeugt und der Angst sich ergeben hätten, wenn sie auf die Stimme gehört hätten, die ihnen die Wahrheit zuflüsterte!

    Leider war der Weg des inneren Widerstandes gefährlich, schwer und schien fast unmöglich zu sein! Der Weg des leichten Lebens war dagegen bequem und angenehm wie mit einem Straßenmädchen …

    Erster Teil

    DIE STILLE BUCHT

    Die Kindheit von Ognjan Konstantinow verlief unter dem Eindruck eines unvergesslichen Erlebnisses – dem des Meeres.

    Er kam im Alter von zwölf Jahren aus dem Inneren des Landes – von Plovdiv nach Burgas, wo er mit seinen Eltern lebte, bevor diese umzogen und sich ein Haus an der Küste kauften.

    Und sofort – vom ersten Blick auf die endlose blaue Weite, vom ersten Hauch des salzigen Windes an, beherrschte und unterwarf ihn das Meer.

    Ognjan liebte die Schule nicht und schwänzte oft den Unterricht. Jedoch nicht, weil er nicht lernfähig war – im Gegenteil, er war von Gott mit einem scharfen Verstand begnadet, mit dem er der Erste in der Klasse hätte sein können. Doch seine außergewöhnliche Begabung konnte der Unterricht nicht befriedigen, seine Auffassungsgabe hungerte nach mehr und ernsthafterer Nahrung. Seine Fantasie konnte sich mit den langweiligen und trockenen Unterrichtsstunden nicht abfinden.

    Und so lief er von der Schule davon und spazierte stundenlang am Meer entlang, setzte sich auf einen der Felsen am Strand und schaute über die Bucht. Das Meer mit seiner blaugrünen Weite, mit den schäumenden Wellenspitzen erfüllte seine kindliche Seele mit Begeisterung. Es kam ihm so vor, als ob erst hinter dem Horizont sein eigentliches Leben beginnen würde! Hinter dem Horizont würden ihn Abenteuer und fremde, duftende Länder erwarten! Zu ihnen begaben sich die Schiffe, die ihn rufend und magisch anziehend den Hafen verließen!

    Er träumte davon, Matrose oder am besten Kapitän zu werden, die ganze Welt zu bereisen, Stürme und Schiffskatastrophen zu erleben, dabei aber selbst unversehrt zu bleiben.

    Bei seiner Rückkehr nach Hause musste er hart für diese Ausflüge bezahlen. Seine Mutter – Petruna Konstantinowa – empfing ihn mit finsterer Miene, die Hände auf dem Rücken:

    »Bist du wieder von der Schule weggelaufen, du Bengel? Wie lange willst du dich noch am Strand herumtreiben?«

    Regelmäßig waren diese Worte von Maulschellen begleitet, bis sich seine Wangen röteten. Ognjan weinte und schützte sein Gesicht so gut als möglich.

    Die Schläge von Petruna halfen jedoch nur teilweise – für einige Zeit wandelte sich Ognjan zum Musterschüler und verbesserte die angehäuften schlechten Zensuren. So lange, bis ihn der unüberwindbare Freiheitstrieb erfasste und er wieder zum Strand lief – fern von den verhassten Schulaufgaben, weg von den Ermahnungen seiner Mutter und der unerträglichen häuslichen Kontrolle.

    Als er heranwuchs, schloss er Bekanntschaft mit einer Gruppe barfüßiger, nachlässig angezogener Jungs – Kindern von Fischern.

    Ganze Tage lang lief er mit ihnen am Strand entlang, ließ seine Beine von der Seebrücke baumeln und tauchte im klaren, blauen, mit Sonnenringen übersäten Wasser. Er lernte den Fischerjargon und sprach wie seine neuen Freunde, warf die verachtete Schulkleidung von sich und zog, wie sie, zerlumpte Sachen an.

    Bald ähnelte er einem wirklichen Meeresvagabunden – von der Sonne dunkel gebrannt, frei und frech.

    Er näherte sich auch den Vätern seiner Freunde, dem Kreis echter alter Fischer. Er hörte ihre Gespräche, in denen das Meer eng mit dem Kampf um das tägliche Brot verbunden war, mit Erzählungen über wunderbare Schwarzmeer-Schönheiten – über Liebe, Betrug und Rückkehr in die Familie.

    »Und die Stadt – mit dem Netz ihrer vielen Geschichten

    und der Kette farbiger, verschiedener Geschicke –

    von Freude und Schmerzen, Glück und Unglück –

    sie erwachte in mir …«

    Diese ersten Verse erklangen plötzlich in Ognjan. Sie waren der Widerhall seiner Schritte im Sand des Strandes, der Gespräche mit den alten Fischern … Er hielt inne, hörte in sich hinein, um dem Flüstern der Worte zu lauschen …

    Doch weiter wollte sich das Gedicht nicht entwickeln. Vergeblich strengte Ognjan seine Fantasie an, vergeblich erdachte er Worte und Bilder … Es fehlte ihm die Idee, der Sinn, um das bis dahin Gesagte zu vollenden, seine Bilder unter einem Flügelschlag zu verbinden …

    Er war entmutigt, schlenkerte mit der Hand und trieb sich weiter mit seinen barfüßigen Freunden herum, planschte im noch warmen Septemberwasser der Bucht …

    An einem Tag hielt er am Strand rechts von der Meerbrücke an, wo die alten Fischerboote auf eine Seite gekippt lagen.

    Von Wind und Wetter gezeichnet, verbraucht und niemandem mehr von Nutzen, ähnelten sie Menschen, die ihr Leben gelebt hatten – mit nur noch auf die Erinnerungen gerichteten Augen. Ihr Anblick machte ihn schwermütig.

    Er dachte – eigenartig für sein Alter – über die Kürze des Lebens nach.

    Er sah sich selbst in der Zukunft – alt und auf irgendeiner Bank im Park sitzend – in die Unendlichkeit des Meeres blickend, Bilder aus der Vergangenheit sehend …

    Ohne dass er wusste, wie ihm geschah, verwandelten sich diese Vorstellungen in Rhythmus und Worte. Sein erstes Gedicht wurde geboren. Und noch bevor es auf Papier niedergeschrieben war, entstand es in seinem Herzen und seinem Verstand – jedes Wort und jede Metapher schwang auf seinen vor Spannung ausgedorrten Lippen …

    Ognjan lief zwischen seinen barfüßigen Freunden herum und sprach zu ihnen in Versen – spontan, erregt, seine Bilder aus der Luft fangend, wie ihre Väter die Netze im Meer auswarfen …

    Das Wort stieß ihn nur an, verlangte, ausgesprochen zu werden. Und ohne es zu merken wie, vollendete er das ihm vor einigen Tagen eingefallene und begonnene Gedicht:

    »Und die Stadt – mit den vielen Geschichten,

    mit der leuchtenden Kette verschiedener Tage,

    voll mit Freude und Schmerzen, mit Glück und mit Unglück –

    sie erwachte in mir und erfüllte mich ganz

    mit dem Fühlen von anderen Menschen,

    mit dem ewig Bewegten – nach oben, nach unten,

    mit dem Rhythmus von Schlägen und Streicheln,

    Katastrophen, Erfolg …

    Und das Meer war auf einmal verwandelt –

    nicht nur Küste und Weite und Klang!

    Es ward Richter und Zeuge zugleich –

    ein lebendiger Zeuge von Sünde und Leiden

    und von Größe und Kleinmut, von Liebe, Verrat …

    Und es sprach in der ewigen Sprache –

    seine Wellen vergingen am Strand,

    um schon wieder geboren zu werden

    unterm Blick der vergänglichen Sonne,

    in dem Tempel des blauen Himmels …

    Ich betrachte gestrandete Boote

    und ich frag mich, warum sie gelebt,

    wie viel Leid sie im Innern getragen

    und wovon ist ihr Blick so betrübt?

    Ob ich irgendwann selbst mich wohl frage,

    warum habe auch ich gelebt?

    Ob ich Kräfte und Sinn in mir finde –

    und im Sturm – einen leuchtenden Turm?«

    Am Ende nahm Ognjan ein weißes Blatt und schrieb sein fertiges erstes Gedicht nieder. Er sandte es an die Lokalzeitung.

    »Die alten Boote« wurde nach einer Woche publiziert und rief Begeisterung in Burgas hervor. Es wurde vom Erscheinen eines neuen, frischen Talentes gesprochen, man war stolz, dass dies in unserer kleinen Schwarzmeerstadt geschehen war. Ognjan war zu dieser Zeit gerade mal fünfzehn Jahre alt.

    »Ich möchte diesen Jungen sehen!« – rief Stoitschev, der Redakteur der Literaturseite der Zeitung. – »Sagt ihm, er soll herkommen!«

    Stoitschev schrieb selbst ab und zu und hielt sich für einen großen Kenner der Literatur. In seinen Gedanken sah er sich schon als Entdecker eines neuen Talentes und träumte davon, es zu unterstützen und zu fördern.

    Er kannte jedoch nicht das genaue Alter von Ognjan und stellte ihn sich als zwanzigjährigen Jugendlichen vor. Er war sehr überrascht, als der Junge, leicht aufgeregt, von einem Mitarbeiter der Zeitung in sein Arbeitszimmer geführt wurde.

    »Dieses Jüngelchen hat »Die alten Boote« geschrieben?« – dachte Stoitschev und merkte, wie sich Eifersucht in seinem Herzen einschlich. – »Das muss Zufall sein! Das ist ihm einmal gelungen und bedeutet lange noch nichts! Kann auch sein, dass er es irgendwo abgeschrieben hat!«

    »Komm her, Ognjan! Komm und stell dich vor!« – sagte er laut. – »Erzähl uns, wie du schreibst, was für Ideen dir kommen ...«

    Ognjan sah ihn mutiger an – eine seltsame Überraschung lag über seinem Gesicht.

    »Ich schreibe nicht! Ich bin ein Instrument! Auf diesem Instrument spielt die Welt!«

    »Du willst sagen, dass du ein geborener Poet bist? Dass du dir deine Bilder eben so aus der Luft fängst?« – lachte höhnisch Stoitschev.

    »O ja! Die Luft!« – erregte sich Ognjan. – »Sie ist ganz Musik! Sie klingt in mir! Ich höre ihre Klänge, sogar wenn ich schlafe!«

    »Oho!« – lachte gereizt der Redakteur. – »Warum schreibst du dann nicht im Traum?«

    »Oh!« – Ognjan fühlte, dass er verspottet wurde, fuhr aber erregt und vom Strom seiner Fantasie geführt, fort. – »Manchmal träume ich Worte … Die zartesten, die schönsten Worte der Welt! Schade nur, dass ich mich nicht mehr an sie erinnern kann, wenn ich aufwache … Es bleibt nur das Gefühl für ihre Anwesenheit …«

    Stoitschev schwieg mit offenem Mund.

    »Der wird mal ein großer Poet, oder ein großer Betrüger! Vielleicht aber auch das eine und das andere!« – dachte er.

    »Gut, Ognjan!« – sagte er. – »Ich würde mich freuen, wenn du uns noch andere Gedichte bringst!«

    Damit endete »die Unterstützung« der Redaktion für Ognjan Konstantinow. Von hier an ging er allein seinen Weg. Er war wie eine gespannte, klingende Saite in den Stürmen der Zeit.

    ***

    Es gab aber auch Leute in Burgas, die sich nicht von den ersten Lorbeeren von Ognjan beeindrucken ließen. Seine Klassenlehrerin Awraschewa sah in ihnen einen Ausdruck seines Lotterlebens und der Faulheit.

    Awraschewa war eine alte Jungfer, verbittert und bösartig. In ihrem Leben existierten nur die Schulnormen – Ordnung, Disziplin, gute Noten. Sie beobachtete die Schüler mit Argwohn. Sie ärgerte sich über die aufknospenden größeren Mädchen – mit ihren schräg und kokett aufgesetzten Baskenmützen, liebenswürdig und schlank – für die Lehrerin galten sie als Beispiel unanständigen weiblichen Verhaltens.

    Die Liebe, die Gedichte und das Glück waren für Awraschewa verdächtige Verhaltensweisen von Menschen ohne Disziplin und Moral.

    Was Ognjan betraf – diesen Vagabunden, der die Schule schwänzte und sich am Strand herumtrieb –, war die Lage deutlicher als klar – er war ein frühzeitig heruntergekommener Typ, ein Nichtstuer und Strolch.

    Awraschewa wollte und konnte nicht zugeben, dass sie im Grunde ihrer Seele auf alle eifersüchtig war, die geliebt wurden, glücklich waren, Gedichte schrieben und obendrein dafür gerühmt wurden! Wie immer reagierte sie mit zusammengekniffenen Lippen auf die »Eigenwilligkeiten« in ihrer Klasse, bestrafte jene, die sich nicht unterwerfen wollten, zitierte sie mit ihren Eltern vor den Schuldirektor und stellte ihnen in seiner Gegenwart hinterhältige Fragen. So etwa wie:

    »Denkt der Schüler X nicht endlich daran, sein Benehmen zu verbessern?«

    »Wie lange noch will sich der Schüler Y zu dem Mädchen auf der hinteren Bank umdrehen, anstatt seine Fünf in Mathematik zu verbessern?«

    Für Awraschewa waren die Schüler keine Menschen – sie waren Buchstaben, Nummern, die sie in der dritten Person ansprach.

    Als die Lokalzeitung »Die alten Boote« publizierte und der Name Ognjan Konstantinow im Stadtkreis bekannt wurde, fühlte sie dies als eine persönliche Erniedrigung und Beleidigung. Es war für sie sonnenklar, dass die Redakteure keine Ahnung hatten, was für einen Menschen sie damit förderten, nicht ein bisschen Rücksicht auf ihre pädagogischen Anstrengungen nahmen! In ihre Augen traten Tränen des Zorns, sie schwor, sich dafür zu rächen.

    Selbstverständlich rief sie Ognjan und seine Mutter zum Direktor.

    »Der Schüler Ognjan schwänzt die Schule!« – begann Awraschewa grinsend. – »Bei ihm hat sich unentschuldigtes Fehlen angehäuft, aufgrund dessen die Einstufung für sein Betragen herabgesetzt werden muss! Wenn sich das nicht ändert, wird er von der Schule ausgeschlossen! Ist seiner Mutter dieser interessante Fakt bekannt?«

    Petruna, Ognjans Mutter, die zu Hause wie ein Drache regierte, wenn jedoch jemand Fremdes ihre Kinder angriff, ihren Kopf wie ein Kriegspferd zur Attacke hob, sah Awraschewa vernichtend an und antwortete: Ja, sie wisse über das unentschuldigte Fehlen Bescheid, sie habe vergessen, entsprechende Entschuldigungen ihrem Sohn mitzugeben, er wäre damals krank gewesen, danach hätte es in der Familie ein wichtiges Problem gegeben und sie selbst habe ihn nicht in die Schule geschickt.

    Die Flügel der Awraschewa wurden damit gestutzt.

    Der Direktor – ein gutmütiger, sympathischer Herr, der mit den regelmäßigen Attacken der alten Jungfer nichts zu tun haben wollte – mischte sich schnell ein – er freue sich, dass sich das Problem des unentschuldigten Fehlens auf diese unerwartete Weise gelöst hätte, er möchte auch nicht einen so begabten Schüler, über den die ganze Stadt spricht, verlieren. Wenn seine Mutter eine schriftliche Entschuldigung schreiben würde, wäre dies ausreichend.

    Awraschewa blickte wie ein verwundeter Raubvogel.

    Sie ergab sich jedoch noch nicht:

    »Der Schüler Ognjan hat außerdem in fünf Fächern schlechte Leistungen – er hat nur Fünfen! Weiß das seine Mutter …«

    »Die schlechten Zensuren sind da, um verbessert zu werden!« – unterbrach sie Petruna wie ein Blitz.

    »Wir werden sehen, ob ihm das Schreiben von Gedichten dabei helfen wird!« – stichelte grinsend Awraschewa.

    »Ja, wir werden sehen!« – antwortete stolz Petruna. – »Eines Tages werden Sie sich vielleicht schämen, ihm schlechte Zensuren gegeben zu haben!«

    »Das weiß man noch nicht!« – antwortete Awraschewa mit zusammengekniffenen Lippen. – »Der Schüler Ognjan schreibt nur Gedichte über das Meer, über Boote und ähnliche Dummheiten! Wo aber sind Gedichte über das Volk und die Partei?«

    »Ich schreibe nur darüber, was in meiner Seele erklingt!« – konnte Ognjan nicht an sich halten. – »Die Worte sind keine Sklaven, sie werden im Poeten nicht auf Befehl geboren!«

    »Ach so ist das?« – grinste zufrieden Awraschewa. – »Mal sehen, wie die Redakteure der Zeitung auf ähnliche Äußerungen reagieren! Das muss man ihnen sagen!«

    »Er ist noch jung und unreif!« – mischte sich der Direktor ein. – »Er hat noch Zeit, um zu lernen …«

    »Um zu lernen!« – lachte Awraschewa ironisch. – »Der Schüler Ognjan geht am Lernen vorbei, er macht einen Bogen ums Lernen! Und in Bezug auf die Gedichte hat er keine richtigen Ansichten zur Literatur! Mit solchen Ansichten wird er nicht in den Schriftstellerverband gelangen!«

    »Sie bestimmen das wohl?« – erregte sich Ognjan.

    »Sie gehen sehr weit!« – konnte sich Petruna nicht zurückhalten. – »Lassen Sie ihn sich frei entwickeln!«

    »Frei!« – Awraschewa keuchte vor Wut. Von allem hasste sie dieses Wort am meisten. – »Sie trichtern ihm wohl diese Ansichten ein? Anstatt, dass er sich ein Beispiel an unseren bedeutenden Poeten nimmt und versucht, ihnen nachzueifern …«

    »Ich bin kein Nachahmer! Ich brauche keine Beispiele! Ich bin Ognjan Konstantinow!«

    »Sehen Sie?« – wandte sich Awraschewa siegesbewusst dem Direktor zu. Dieser jedoch beeilte sich, das Gespräch zu beenden. Er begnügte sich damit, zu sagen, dass noch viel Zeit vorhanden sei, um zu sehen, wie Ognjan sich weiter entwickeln werde …

    Petruna verabschiedete sich und zog ihren Sohn zum Ausgang.

    Aber sie hatten gerade mal die Schwelle der Schule überschritten, als sie den Kopf von Ognjan wie einen Schraubstock umfasste und über ihm ihren Ärger über das erniedrigende Gespräch ausschüttete:

    »Hör mal!« – sagte Petruna mit Zähneknirschen. – »Du hast jetzt die Aufgabe, die schlechten Zensuren zu verbessern – dies als Erstes! Zweitens: du kannst Gedichte schreiben, aber mit zwanzig Jahren will ich dich als Mitglied des Schriftstellerverbandes sehen! Hörst du? Sonst lohnt sich das nicht!«

    Sie ließ ihn los und stürmte nach Hause – mit Schritten, von denen die Straße widerhallte.

    Ognjan blieb überrascht – wie angenagelt an der Tür der Schule zurück. Auf seinen Schultern lastete eine gewaltige Aufgabe …

    ***

    Petruna – eine herrschsüchtige und despotische Frau – war das große Problem in der Familie Konstantinow. Sie war in einem Dorf in Nordbulgarien aufgewachsen – dort, wo eine besondere Bevölkerungsschicht lebte – jähzornige Menschen, die für ihren Starrsinn bekannt waren. Grobes Verhalten, Prügeleien, Tyranneien der Eltern gegenüber den Kindern waren etwas Gewöhnliches in ihren Familien.

    So ein Mensch war auch Petrunas Vater gewesen – ein verrückter Vogel, immer bereit zuzuschlagen oder unerwartet mit einem scharfen Wort zu verletzen und immer »im Recht« zu sein, nie bereit, eigene Fehler zuzugeben. Er hielt seine Frau und seine Kinder kurz, schlug sie bestialisch und erlaubte ihnen nicht das kleinste Vergnügen, nicht die kleinste, unbedeutendste Freiheit.

    Jedoch außerhalb seines Hauses, vor seinen Nachbarn liebte er es, sich großzügig zu zeigen. Zu Hochzeiten war er bereit, seinen ganzen Haushalt zu verschenken – nur um als freigebiger Freund zu glänzen …

    Petruna lief von ihm weg und heiratete weit entfernt von ihrem Dorf. Schön wie eine dunkle Kirsche, war es ihr nicht schwer, Assen Konstantinow – einem Jungen mit fröhlichem Sinn, weich wie Watte, den Kopf zu verdrehen. Sie heiratete ihn gegen den Willen ihres Vaters und folgte ihm zunächst nach Plovdiv und dann nach Burgas, an die Küste der ruhigen Schwarzmeerbucht.

    Ich erinnere mich, wie Petruna durch die Straßen der Stadt lief – mit hocherhobenem Haupt, als würde sie zwei Fuß über der Erde schweben. Begabt mit einem natürlichen Geschmack, kleidete sie sich wie eine Flamme – die kirschrote Farbe unterstrich ihre dunklen Haare, die auf klassische Weise in einer strengen hohen Frisur gehalten wurden, ihre schwarzen Augen waren wie Sterne in der Nacht.

    Die Männer drehten sich nach ihr um, sie ging jedoch an ihnen vorbei – wie eine Fregatte an Küsten vorbeifährt, die vor Hitze stöhnen.

    Petruna übertrug die gleichen Gepflogenheiten, unter denen sie erzogen worden war, in ihre Familie. Sie hatte den Charakter ihres Vaters geerbt und niemals etwas anderes als grobes Verhalten gesehen. Bald beherrschte sie die Kommandobrücke über ihrem Mann und ihren Kindern und wurde zum strengen Kapitän.

    Ihren Mann liebte Petruna – sie schätzte die Milde und Direktheit seines Charakters, fühlte sich seinen guten, ehrlichen Augen, seinen Liedern und Scherzen verbunden – mehr noch gab er ihr eine »carte blanche«, dass sie kommandieren und wirken konnte, wie sie es für gut hielt.

    Assen Konstantinow entfachte bei Petruna – zumindest bis zum Moment der Katastrophe, dem Tag, an dem er versuchte, sich ihren Krallen zu entziehen – das Gefühl der Unbesiegbarkeit, das Gefühl der uneingeschränkten Rechte und Möglichkeiten.

    Zu ihren Kindern verhielt sie sich genauso grob und befehlshaberisch wie einst ihr Vater zu ihr. Sie schlug und bestrafte sie grausam. Durch die Zimmer des Hauses hallte ständig ihre schrille, schimpfende Stimme.

    Trotzdem liebte Petruna ihre Kinder stark! Ich erinnere mich, wie sie sie mit den schönsten Sachen kleidete und stolz wie einen Prinzen und eine Prinzessin zum Spazieren durch den Park führte!

    Sie war bereit, sie wie eine Tigerin gegen Lehrer, Nachbarn und freche Jungen zu verteidigen!

    Jedoch ähnelte ihre Liebe und ihre Verbundenheit dem Instinkt einer Katze, die ihre Welpen mit den Zähnen im Maul trägt. Die Kinder waren das Wichtigste in ihrem Leben – ihr Schatz, die Früchte ihres Leibes, die ihr gehörten – ohne Recht auf eigene Meinung oder eigenen Willen.

    Als Mutter wünschte sie ihren Kindern nur Gutes. Sie bemühte sich, sie zu »Menschen« zu gestalten – sie zu erziehen, zu bilden und in der Gesellschaft nach oben zu bringen. Petruna hatte Ambitionen – ihre Kinder sollten eines Tages nicht nur eine Stellung einnehmen, sondern einige der Ersten in der Stadt, der Ersten im Land, ja sogar in der Welt werden!

    Doch da sie nichts mehr als die mit der Axt herausgehauene »Erziehung« ihres Vaters erleben durfte, hatte sie nicht die Spur eines pädagogischen Herangehens. Und mit keiner Silbe dachte sie daran, dass vor ihren Augen neue Menschen heranwuchsen, mit eigenen, individuellen Veranlagungen, die zu ihren verschieden waren und der Zuwendung, Wärme und des Verständnisses bedurften. Nein, sie wollte sie aus dem gleichen Holz, wie sie war, formen, in das Gehäuse ihrer eigenen Vorstellungen von den Dingen pressen. Dies wollte sie mit Befehlen und Terror erreichen.

    Ognjan wurde davon mehr als seine kleine Schwester belastet. Sensibel, von der Natur mit Metaphern und Bildern beschenkt, versenkte er sich vorzeitig in eine eigene, unsichtbare Welt und rief bei Petruna den Eindruck von etwas Ungewöhnlichem, Geheimnisvollem und Falschem hervor, etwas wie eine dunkle Kraft, die sich den Grenzen ihrer mütterlichen Macht entzog.

    Schon als er noch klein war, stellte sie sich erzürnt vor ihn hin, blickte in seine unschuldigen, ängstlichen Augen und schrie:

    »Was siehst du mich wie ein Kalb an? Du gehorchst oder ich bestrafe dich wieder auf den Knien!«

    Die Bestrafung »auf den Knien« war die schlimmste für die Kinder – schlimmer als Schläge mit einem schweren Buch auf den Kopf. Sie mussten in einer Ecke mit erhobenen Armen niederknien, wobei unter ihre Knie Walnussschalenstücke gelegt wurden. So blieben sie eine oder zwei Stunden und – was das Grauenvollste für den sensiblen Ognjan war – nach den Tränen der Erniedrigung, des Schmerzes und der kindlichen Hilflosigkeit kam das Kommando:

    »Küsse jetzt zur Verzeihung die Hand deines Vaters!«

    Und Ognjan küsste sie – verheult, mit zerrissener Seele, ohne Reue zu empfinden, mit dem Gefühl einer ihm zugefügten ungeheuerlichen Ungerechtigkeit.

    Es war nicht klar, inwieweit Assen Konstantinow, dem gutmütigen, liebenden Vater, die Grässlichkeit dieser mittelalterlichen Bestrafungen bewusst war. Er nahm, absolut dem Willen seiner Frau unterworfen, an ihnen teil und reichte die Hand zur Verzeihung. Es ist gut möglich, dass auch er einst während seiner Kindheit in Plovdiv, unter der schweren Hand seines Vaters, die gleiche barbarische Bestrafung erlebt hatte. Es kann sein, dass ihm daher dies als normal und selbstverständlich erschien!

    In den meisten Familien waren die väterliche Bestrafung und Autorität unerschütterliche Eckpfeiler der Erziehung!

    Assen Konstantinow wurde erst später nachdenklich, als ihm klar geworden war, dass er jahrelang unter dem Einfluss einer dunklen, grausamen Macht gestanden hatte, dem Willen seiner Frau.

    So wuchs Ognjan Konstantinow heran – der Poet, der Zauberer und zarte Beherrscher der Worte. Schon früh wurde durch das Verhältnis zu seiner Mutter das Fundament für sein Verhalten gelegt. Auf ihm erhoben sich die Säulen eines furchtbaren Komplexes, der seine Entwicklung bestimmte.

    Er lief von zu Hause weg – dorthin, wo ihm das Meer lächelnd Freiheit und Weite versprach. Er verbrachte die Nächte mit Freunden, die ihm bald das Trinken und Feiern irrsinniger Orgien beibrachten.

    ... Danach kehrte er wieder mit der unbewussten Sehnsucht nach Hause zurück, von seiner Mutter Zärtlichkeit, Liebe und Anerkennung zu bekommen.

    Anstatt aus Protest die Türen laut zuzuschlagen und auszuziehen, kam Ognjan wie ein verletzter Hund nach Hause, um sich seine Wunden zu lecken. Und im Hecheln dieses Hundes, seiner heraushängenden Zunge und dem traurigen, zärtlichen Blick seiner Augen war nur eine Bitte zu lesen:

    »Hab mich lieb! Bitte hab mich lieb!«

    ***

    Wann schlich sich in das Herz von Assen Konstantinow der erste Zorn gegen Petruna ein, wann fühlte er sich zum ersten Mal unglücklich? Wann zeigten die Wurzeln des Verdachtes ihre ersten Triebe und wann besann er sich, dass er nicht die Frau geheiratet hatte, mit der er bis zum Lebensende zusammenleben konnte?

    Dieser unterirdische, langsame, schwere, für andere nicht spürbare Prozess, quälend für jede aufknospende Persönlichkeit, wühlte in ihm – dem weichherzigen, gutmütigen Südländer. Erschwerend war, dass dieser Prozess ziemlich spät begann und der Mensch, der dies auf seinen Schultern austragen musste, gewohnt war, ohne viel nachzudenken mit der Strömung zu schwimmen …

    Für seine Umgebung blieben diese Erschütterungen, das langsame Verschieben der Schichten, verborgen. Die Veränderung wurde erst bemerkt, als sie schon als Ergebnis vorlag.

    Eines Tages hörte Assen Konstantinow auf, wie üblich pünktlich heimzukehren – er blieb ganze Tage weg und betrank sich mit Freunden, Mechanikern aus dem Betrieb, in dem er arbeitete.

    Als sich seine Abwesenheit von zu Hause mehrmals wiederholte, entschloss sich Petruna zu handeln.

    »Hör mal!« – sagte sie und schlug mit der Hand auf den Tisch. – »Hast du keine Familie? Was treibst du dich mit Säufern herum? Willst du Alkoholiker werden wie sie?«

    Doch im Gegensatz zu früheren Streitigkeiten senkte Assen diesmal nicht reumütig den Kopf, erniedrigte sich nicht, beschämt, vor seiner Frau. Er sah sie mit trübem Blick an, in dem der Hass glimmte, und sagte entschlossen:

    »Nein, ich habe keine Familie! Und du wirst mir nicht mehr Befehle erteilen!« Und er verließ das Zimmer.

    Petruna verstand, dass es sich um etwas Ernstes handelte. Sie begann herumzustochern, ihn zu beobachten, Nachbarn und Bekannte auszufragen. Und bald gelangte sie zur Wahrheit, entwirrte das Netz von unerwarteten und seltsamen Schritten ihres Mannes.

    Assen Konstantinow hatte eine Affäre – mit Ljubka – einem leichten Mädchen, das in der ganzen Stadt bekannt war. Man erzählte, er liebe sie wahnsinnig und – naiv und ergeben – unerfahren im Umgang mit Frauen – glaube er ihr jedes Wort. Er wolle sich scheiden lassen und Ljubka heiraten, doch sie verspotte ihn nur und antworte ihm lachend:

    »Was denkst du dir bloß! Soll ich gerade dich, einen Mann mit zwei Kindern, heiraten?«

    Und sie tätschelte ihm scheinbar liebevoll die Wange.

    Diese Gespräche fanden vor den Augen und Ohren betrunkener Rumtreiber, den vorherigen und jetzigen Liebhabern von Ljubka, statt. Die Männer lachten aus voller Kehle, amüsierten sich und nannten Assen »den Tölpel« . Dann erzählten und verbreiteten sie seine Dummheiten in der ganzen Stadt …

    Für Petruna begann eine schwere Zeit. Sie vergaß sogar, ihre Kinder zu kommandieren. Sie stand vor dem Fenster in ihrem Zimmer und starrte mit leerem Blick auf die Bäume im Hof …

    Es war Spätherbst und der Wind trieb die letzten goldenen Blätter vor sich her. Es kam ihr vor, als würde er auch ihre Jugend hinwegwehen, unaufhaltsam in seiner Logik als Herrscher über die Jahreszeiten …

    Zum ersten Mal stellte Petruna sich die Frage: Was wird werden, wenn Assen sie tatsächlich verließe? Wie wird sie zurechtkommen? Wie wird sie den Wagen mit den Kindern allein ziehen?

    Petruna hatte vor langer Zeit Kurse für Grundschullehrer absolviert, jedoch niemals gearbeitet. Ihre Familie lebte nur von Assens Gehalt.

    Der Wind blies lachend in den Zweigen des Gartens. Auf der Straße lief ein verlassenes Kind hin und her. Jedoch von den leeren Glasscheiben der Fenster, die von Regentropfen bespritzt waren, bekam sie keine Antwort …

    Petruna war mit ihren Sorgen allein, mit dem Gefühl einer verlassenen, auf den Abfall geworfenen Frau. Ihr war klar, dass sie sich etwas ausdenken, etwas unternehmen musste – aber was? Soll sie versuchen als Lehrerin zu arbeiten? In Burgas gab es keine freien Stellen – man würde sie zur Arbeit auf die Dörfer schicken und sie müsste jedes Jahr ihren Hausrat woanders hinschleppen, müsste in Untermiete in einem unbequemen Zimmer ohne die elementarsten Dinge wohnen … Was würde mit ihren Kindern werden? Warum sollte sie ihr geräumiges und angenehmes Haus verlassen? Nein, das wäre nicht die Lösung, das hätte nichts gemein mit ihren stolzen Bestrebungen, mit ihren ehrgeizigen Ansprüchen an das Leben!

    Die Ereignisse drückten sie immer stärker zu Boden. Abends, wenn Assen zurückkam, explodierten die Streitigkeiten, die Stimmen beider Eheleute – genervt, schreiend und bösartig – schallten durch die ganze Straße. Sie sagten sich Worte, die zutiefst verletzten, Worte, die bisher in ihrem Verhältnis unmöglich waren – beleidigend, grausam, unvergesslich! Petruna begann als Erste den Streit, mit vor Zorn und Hass entgleisten Zügen, und endete tränenüberströmt. Ihr schwermütiges, verbittertes Gesicht spiegelte sich im Fenster wider. Assen jedoch schlug die Tür hinter sich zu und verschwand auf der Straße.

    Die Zeugen dieser Skandale, die Kinder, verbargen sich ängstlich unter den Decken in ihren Betten.

    Einzig Ognjan, der mit mitfühlenden, zarten Sinnen begnadet war, versuchte, seine Mutter zu trösten. Er ging auf Zehenspitzen in ihr Zimmer, berührte ängstlich ihre Schultern, die wie bei einer Statue unbeweglich und unempfindlich waren – eine Statue, an der der Zahn der Zeit genagt hatte. Ognjan legte seinen Kopf an ihre Brust – zärtlich liebend und mitfühlend …

    Wer weiß, wie die Zankereien bei den Konstantinows geendet hätten, wenn nicht eines Tages, ein Jahr nach Beginn der Affäre von Assen, sich etwas ereignet hätte, das die ganze Stadt erschütterte.

    Geleitet von seiner Liebe und dem Glauben an die Geliebte, jedoch auch von einem dunklen, unklaren Gefühl über ihr Verhalten, überraschte Assen Konstantinow eines Abends Ljubka mit einem anderen Mann im Bett …

    Das großartige Gebäude der Illusionen, das er sich erbaut hatte, stürzte auf einmal zusammen. Er stand vor seinem Ruin, besiegt und entmutigt, ohne einen Funken der Hoffnung, ohne das geliebte Bild seiner Vorstellungen – Ljubka war nicht mehr die reizende, schalkhafte Frau, mit der er sich tief verbunden gefühlt hatte! Ihr Gesicht, umgeben mit wirren Locken – jetzt mit Schweißtropfen der Begierde bedeckt –, hatte für ihn nicht mehr den Schein einer Meeresschönheit, mit der er sie zuvor immer verglichen hatte.

    Das war das Gesicht einer Prostituierten.

    Es hätte sein können, dass die Enttäuschung Assens banal geendet hätte, wie sein Verhältnis begonnen hatte. Er wäre vielleicht zu Petruna zurückgekehrt und seine Tage wären erneut im gleichen Rhythmus wie zuvor verlaufen – grau, unbedeutend, erfüllt mit kleinen Streitereien …

    Doch Ljubka, immer ihr Selbstbewusstsein vor Augen, immer bereit, zum Angriff überzugehen, warf ihm beleidigende Worte ins Gesicht:

    »Was denkst du dir denn? Dass nur du auf dieser Welt bist? Du bist ja im Bett nicht mal für einen Hasen zu gebrauchen!«

    Assen schrie wie ein verwundetes Tier auf. Er stürzte sich auf Ljubka und ihren Liebhaber, bereit zu kratzen und zu beißen, zu würgen und zu töten. Die Sperre seiner moralischen Hemmungen zerbrach, der Sturm der Beleidigung vernebelte seinen Verstand. Von hier an verwandelte sich Assen in eine Maschine, die tobte und zerdrückte.

    Er gewahrte selbst nicht, wie er nach einem Küchenmesser griff, mit dem er nach links und rechts ausholte, ohne die warmen, weißen Leiber zu sehen, in die er es hineinstieß, ohne die Schreie zu hören und das klebrige Blut zu merken, das über seine Hände lief.

    Überrascht und nackt im Bett sitzend, konnte sich Ljubkas Liebhaber nicht verteidigen – er fiel zuerst, durchbohrt, mit weit geöffneten, verwunderten Augen – wie ein Kind vor dem Baden – zartweiß und hilflos.

    Ljubka schrie herzzerreißend, fiel jedoch ebenfalls dem Messer zum Opfer, streckte sich auf den Boden und verstummte mit Grauen in ihren Gesichtszügen …

    Assen dachte nicht daran zu fliehen. Er stand und stierte auf ihre Körper. Von den Kleidern und seinen Händen tropfte Blut. Die unwahrscheinliche Ruhe im Zimmer berührte und beeindruckte ihn, ohne sein Bewusstsein zu streifen. Er fuhr fort, stumpf und sinnlos auf die Körper zu stieren, als glaube er nicht, was er getan hatte.

    Irgendwo in der Nähe klang eine Glocke, die die Gläubigen zur Abendandacht einlud …

    Der Selbsterhaltungstrieb sagte ihm, dass er etwas unternehmen müsste, dass er seine Hände und Kleider säubern und verschwinden müsste.

    Assen näherte sich langsam dem Waschbecken, öffnete den Wasserhahn wie im Traum, erfrischte sein Gesicht und wusch seine Hände, zog Hemd und Hose aus und rieb sie mit Seife ein. Er zog sie nass, ausgewrungen und zerknittert wieder an und machte sich auf den Weg nach Hause. Es fiel ihm noch ein blutiger Fleck auf seiner Hose auf, jedoch er winkte mit der Hand ab und setzte seinen Weg fort, als wäre ihm das einerlei, ob man ihn sehen und verdächtigen könnte, als hätte alles, was sich von jetzt an ereignen würde, keine Bedeutung mehr.

    Er wurde noch an demselben Abend auf der Straße verhaftet und dem Untersuchungsrichter übergeben.

    Allein in der Zelle des Untersuchungsgefängnisses geblieben, erinnerte sich Assen Konstantinow plötzlich, was er getan hatte. Er sah sich mit dem Messer in der Hand und sah, wie seine Klinge weich in den braungebrannten Leib von Ljubka und den weißen Körper ihres Liebhabers eindrang. Seine Finger fühlten noch das klebrige Blut …

    Es war für ihn nicht auszuhalten. Er erhängte sich an den Gitterstäben des Fensters. Aus dem Hemd und der Hose hatte er sich eine Schlinge gemacht.

    Er wurde eilig auf dem Friedhof für Gefangene begraben.

    ***

    Für unsere kleine Schwarzmeerstadt, wo jedes Vergehen, auch die kleinste Abweichung von den allgemeinen Normen bis ins Kleinste diskutiert wurde, war das Verbrechen von Assen Konstantinow eine enorme Sensation. Die Menschen kamen in Gruppen zusammen, diskutierten darüber, gestikulierten und schüttelten die Köpfe.

    Petruna, die nun Witwe geworden war, mit ihren kleinen,

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