Zeit und Verlust in Nietzsches Philosophie
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Über dieses E-Book
Susanne Fernandez
Susanne B. Fernandez ist Psychoanalytikerin und lebt und arbeitet in Zürich. Sie beschäftigt sich seit vielen Jahren nebst der Psychoanalyse mit Literatur und Philosophie.
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Buchvorschau
Zeit und Verlust in Nietzsches Philosophie - Susanne Fernandez
Mein ganz herzlicher Dank für inhaltliche, computertechnische und moralische Unterstützung geht an Thomas Fluri, Catherine Kupper, Daniel Strassberg, Michael Pfister, Edith Eymann, Roman Günter und Georges Wieland.
„Am Ende gibt es überhaupt kein beständiges Sein, weder in unserem Wesen noch im Wesen der Dinge und wir und unser Urteil und alle sterblichen Dinge fliessen und wogen unaufhörlich dahin. So lässt sich nichts Gewisses vom einen zum anderen ermitteln und der Urteilende und das Beurteilte sind in fortwährender Wandlung und Schwankung begriffen".
Michel de Montaigne, Essais
Inhaltsverzeichnis
Einleitende Gedanken
Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn
Historie. Unzeitgemässe Betrachtungen
Die genealogische Methode
Der Tod Gottes. Ueberwindung einer traditionellen Metaphysik
Einführende Gedanken zu Nietzsches Zeitkonzeption
Nietzsches Prozessontologie, eine ‚Als-ob-Metaphysik‘
Die ewige Wiederkunft des Gleichen
Das grösste Schwergewicht
Von der Erlösung
Der Torweg
Chronos und Aion, der flache Augenblick, Kairos
Der Geist der Schwere
Der Hirte und der Biss
Der Genesende
Die hohe Zeit des Mittags. Zeitlosigkeit. Utopische Menschheitsentwicklung
Der Spielcharakter von Nietzsches Zeitfigur
Lust und Ewigkeit
Philosophie der Gleichgültigkeit
Reflexionen über Nietzsches eWkdGl und Aspekte von Verflechtungen zwischen dem Denken Nietzsches, der Psychoanalyse und von Deleuze
Das verlorene Objekt
Die ‚leere Zeit‘
Todestrieb und primärer Masochismus
Lebensintensität
Prozessontologie
Literaturverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Zeit und Verlust in Nietzsches Philosophie
Einleitende Gedanken
Der Ursprung dieser Arbeit geht auf persönliche Erfahrungen zurück, auf eigene und Erfahrungen, die ich in meiner psychoanalytischen Arbeit gemacht habe. Es gibt eine spürbare Veränderung in der subjektiven Zeiterfahrung, im Zeiterleben, wenn einschneidende Verluste zu bewältigen sind: Tod, Liebesverlust, Verlassenwerden, Krankheit, Gebrechlichkeit, Krieg, Verlust der Heimat, Verlust der eigenen kulturellen Umwelt und Sprache. Die Selbstverständlichkeit des Voranschreitens der Uhrzeit - die Vulgärzeit - die unseren Alltag sehr nachhaltig prägt und die uns der gefühlsmässigen und stimmungsgeprägten Zeiterfahrung entfremdet, bricht bei Verlusterfahrungen ein. Es kommt vermehrt zu Reflexion oder mindestens diffuser Wahrnehmung und Empfindung darüber, was die Zeit ‚ist’, resp. eben nicht ist, oder mit anderen Worten über das Werden und Vergehen unseres Lebens und der Welt. Verlusterfahrungen haben oft Ereignischarakter, brechen alte Ordnungen auf und erzwingen Neuorientierungen. Verluste wirken als Zäsuren, sie unterbrechen Selbstverständlichkeiten. Es sind Aufbruchserfahrungen, aus denen Neues erwachsen kann und damit potentiell auch ein neues, bewussteres, lebendigeres Lebensgefühl. Zeit wird wertvoller, nachhaltiger. Verlusterfahrungen können aber auch zum Scheitern führen, zum Stillstand persönlichen Werdens, Entdifferenzierungen hervorbringen. Das Nachdenken über die psychopathologischen Phänomene des veränderten Zeiterlebens im Zusammenhang mit schwerwiegenden Verlusten hat mich angeregt, diese Fragen über meine psychoanalytischen Erfahrungen hinaus auch in philosophischer Reflexion zu vertiefen.
Die Frage nach der Zeit war in der Philosophie lange eng mit der Frage nach dem Sein verknüpft. Das Begreifen dieses Zusammenhanges umfasst die unterschiedlichsten Interpretationen.¹ Da ich bereits einige Schriften Nietzsches kannte und fasziniert war (und bin) von diesem Philosophen, der auch so sehr Psychologe ist, entstand das Projekt, die Interdependenz von Zeiterleben und Verlust anhand ausgewählter Textstellen aus Nietzsches Schriften genauer zu untersuchen. Es hat sich bald gezeigt, dass diese Fokussierung für Nietzsches Werk sehr fruchtbar ist. Er ist einer, der mit Furor traditionelle Ontologie problematisiert und so Zeit unter dem Aspekt des Verlustes einer ewigen und allgültigen Wahrheit neu begreift. Ein Metaphysikverächter ist er dennoch keineswegs. Seine ‚Ontologie’ – so man dies denn so nennen will - ist, ich nehme es voraus, eine radikal immanente Prozessontologie. Sein Seinsverständnis entzieht sich jeglicher Substanzialisierung, ist bewegt, ist ganz grundlegend und zutiefst verzeitlicht. ‚Sein` kann nur Bewegtes sein, i.e. Werden, genauer: Geschaffenwerden und Geschehen, also Setzung und Fatum zugleich. Zeit ist primordial für sein Denken. Zahlreiche philosophisch konotierte Zeitbegriffe werden in dieser Arbeit auftauchen: Ewigkeit, Unendlichkeit, Ursprung, leere Zeit, Augen-blick, Jetzt, Moment, die Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Zeitsynthesen, Zeitbezeichnungen der Permanenz wie früher, später, Rhythmisierung, Periodizität; des weiteren Fragen, die Bezüge von Zeit und Raum, Ordnung und Chaos anbelangen u.a.m. Im Zentrum steht Nietzsches Zeitfigur ‚die ewige Wiederkunft des Gleichen’ (eWkdGl).
Zeit ist eine notwendige Grundbestimmung. Lebensphilsophische, subjektive und objektive Zeitdeutungen laufen ineinander. Dennoch gilt, dass je nach Fragestellung und Methode in den Philosophien und Wissenschaften die Fragen nach der Zeit unterschiedlich beantwortet werden (Zimmerli 1993). Bei Nietzsche ist der Zugang zur Frage nach der Zeit in seiner Sinn, Werte und Kräfte/Mächte analysierenden genealogischen Methode begründet, die ein komplexes Zeitverständnis beherbergt, das von Nietzsche aber nirgends systematisiert oder gesamthaft dargestellt wird. Das gilt auch für die eWkdGl, die in Form einer ‚Alsob-Metaphysik’, eine offene Zeitfigur von Werden, Vergehen und Wiederkommen darstellt, im Zentrum seiner Philosophie steht und mit der Genealogie zusammen gelesen werden muss. Im Mittelpunkt meiner Arbeit steht meine Bemühung, das Zeitverständnis Nietzsches - soweit es mir möglich ist – heraus zu meisseln. Dabei wird sich zeigen, dass die Verlustthematik und die Zeitfigur Nietzsches eminent miteinander verwoben sind. In dieser Auseinandersetzung rund um die Fragen nach der Zeit bei Nietzsche sind implizit zahlreiche Sichtweisen und Positionen der europäischen Philosophie präsent. Eine philosophiegeschichtliche Einbettung seines Denkens ist im Rahmen dieser Arbeit aber nicht Thema.
Im Verlauf meiner Auseinandersetzung um die Fragen nach ‚Zeit und Verlust’ habe ich realisiert, dass zahlreiche philosophische Kommentare zu Nietzsches Denkfigur der eWkdGl kosmologische, mythologische und metaphysische Ausdeutungen favorisieren. Aber das hat mich nicht sehr fasziniert, sodass ich diese umfangreiche Rezeptionsgeschichte nicht darstellen werde. Wichtig und inspirierend hingegen für mich sind die Arbeiten von Deleuze geworden. Es ist eine Philosophie von einer geradezu experimentellen Vielfältigkeit, die sich gut mit Nietzsches Denken verbindet. Die Schriften von Deleuze öffneten mir einen kreativen Zugang zu Nietzsches Reflexionen über die Zeit, insbesondere durch seine `Zeitsynthesen`. Diese Zusammenhänge werden jedoch nur teilweise explizit einfliessen, da eine ausführliche Darstellung der Zeitsynthesen von Deleuze den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Die Anregung durch Deleuze bezieht sich neben der Thematik ‚Zeit‘ auch auf einzelne Aspekte der `Philosophie der Differenz`. Teile dieser Lektüren fliessen bei der Textbearbeitung ein, werden dort kommentiert und haben mir ermöglicht, die weitgespannte europäisch-philosophische Zeitreflexion in der Philosophie implizit mitschwingen zu lassen. Ausgangspunkt meiner Gedanken und Argumente bleibt dabei grundsätzlich die Auseinandersetzung mit den Textstellen selber.
Der erste in dieser Arbeit kommentierte Text aus Nietzsches Werk ist die Schrift ‚Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn’. Es ist dies ein früher sprachphilosophischer Text, der es erlaubt, grundsätzliche erkenntnis-theoretische Positionen Nietzsches zu skizzieren. Diese Textbearbeitung ist darum relativ umfangreich geworden. Auf diesem Hintergrund wird dann die Erläuterung seines Historieverständnisses dargestellt. Dies umfasst Textteile aus den ‚Unzeitgemässen Betrachtungen’, eine erste Thematisierung des ‚Augenblicks’, ein Beispiel aus ‚Jenseits von Gut und Böse’ zur Illustration der ‚genealogischen Methode’, d.h. kritischen Analyse, sowie Hinweise auf den ‚Willen zur Macht’. In einem kurzen Einschub (Einführende Gedanken zu Nietzsches Zeitkonzeption) stelle ich einige orientierende Fragen bezüglich dessen, was Zeitvorstellungen überhaupt an Problembewältigung zu leisten haben. Dann wird Nietzsches Zeitfigur ‚die ewige Wiederkunft des Gleichen’ anhand von Textstellen dargestellt, primär aus ‚Zarathustra’, unter dem Titel ‚Nietzsches Prozessontologie‘, mit den Unterkapiteln: ‚Das grösste Schwergewicht’ ‚Von der Erlösung’, ‚der Torweg’ und damit die Thematisierung von ‚Augenblick’ und ‚leerer Zeit’, einem Einschub zu: ‚Chronos und Aion’, der flache Augenblick und Kairos. Dann folgen die Textstellen ‚der Geist der Schwere’, ‚der Hirte und der Biss’ und ‚der Genesende‘. Im oben erwähnten zentralen Text ‚der Torweg’, welcher den Namen ‚Augenblick’ trägt’, taucht die Verwobenheit von Zeit und Bewegung auf, resp. etwas, das man ‚leere Zeit’ nennen kann. Darin schlagen sich ‚Ereignisse’ im Feld von Sinngebungen und Kräften nieder, es kommt zu Verdichtungen und Verschiebungen, Vergangenes kommt aus den Tiefen hoch und stülpt sich - sich wiederholend und insistierend - aus. All dies macht die zentrale Zeitfigur Nietzsches aus, seine prozessontologische Schöpfung, eine ‚Als-ob-Metaphysik’. Ich versuche dieses Thema über die ausgewählten Textstellen - zum Teil kryptische, dichterische Ausführungen - zu erschliessen. Dann wird die ‚hohe Zeit des Mittags’ thematisiert, eine Ewigkeitserfahrung ohne Gott. Darauf folgt eine Ausführung zum Spielcharakter von Nietzsches Zeitskulptur und anschliessend der berühmte Text zu ‚Lust und Ewigkeit’. Die Textstellenbearbeitung endet mit der Thematisierung der ‚Philosophie der Gleichgültigkeit’ aus den nachgelassenen Schriften. Damit überschreitet Nietzsche sein Denken in Richtung einer zum Teil absurden, d.h. zufälligen, nicht Sinn-vollen Philosophie und akzentuiert damit eine gewisse Distanznahme gegenüber seiner pathischen Lebensphilosophie. Das ist der Ort des ‚Amor fati’, der Rolle des Schicksals. Es folgt ein Anhang mit weiteren Reflexionen zu Nietzsches eWkdGl, sowie Aspekte von Verflechtungen zwischen dem Denken von Nietzsche, Deleuze und der Psychoanalyse, wo es darum geht die Thematik von Zeit und Verlust aus einer abstrakteren Perspektive nochmals zu fokussieren.
Es wird also ein philosophisches Bemühen um Zeit und zwar implizit lebensphilosophischer Art. Damit sind erkenntnistheoretische und ontologische Aspekte und eine damit einhergehende Vernunftkritik gemeint. Der Hauptfokus des Verlustaspektes liegt hier beim Verlust eines, dem Menschen vorgegebenen, orientierenden Sinns, dem Verlust einer genuinen Wahrheit. Dies beinhaltet primär eine sprachphilosophische Kritik an metaphysischem Denken. Die entsprechende Kritik führt in Nietzsches Philosophie zu Auseinandersetzungen um Fragen von ‚Sein’, ‚Sprache’ und ‚Erkennen’ und deren Verzeitlichung, von ‚Wirklichkeit’(Aktualität) und ‚Möglichkeit’ (Virtualität), resp. ‚Konstruktion und Interpretation’. Des weiteren werden mehr oder weniger explizit im Umkreis der Texte Nietzsches die Themenkreise von ‚Freiheit und Notwendigkeit’, ,Amor fati’ ‚Seele’, ‚Ich’, ‚Subjekt’, ‚Vernunft und Gefühl’, ‚Ereignis’, ‚Unmittelbarkeit’, ‚Differenzen und Dezentrierungen’, ‚Zeitsynthesen’, ,Immanenz’, ‚Gesetz vs. Wiederholung und Differenz’, ‚Allgemeines und Singuläres’, ‚Serialität’ und natürlich damit und darin ‚Zeitvorstellung und Verlust‘ thematisiert. In Nietzsches Metaphysikkritik ist dabei nicht die erfolgte Abschaffung des Metaphysischen das ‚hehre’ Ziel der Auseinandersetzung, sondern die Analyse der Kräfte, die in ihr wirken. Nietzsche verarbeitet diesen Verlust ganz im Sinne einer Neuorientierung, einer kreativen Umwälzung hergebrachten Denkens. Bei ihm wird der ‚Tod Gottes’ zum Ausfalltor einer neuen Philosophie.
Heutzutage spricht man zunehmend von Konvergenzen zwischen historischem, physikalischem und lebensweltlichem Zeitverständnis (Zimmerli 1993). Die Technologisierung und Medialisierung unserer Zeit wirkt sich selbstverständlich auch auf die Strukturen unserer Zeiterfahrungen, Zeitwahrnehmungen und Zeitkonzeptionen aus. Jede Zeit hat ihre Zeitauffassungen, jeder Rationalitätstyp, jede wissenschaftliche oder ästhetische Disziplin hat ihre ihr zugehörige Zeitkonzeption entwickelt. Es gibt nicht nur verschiedene Zeittheorien mathematischer, physikalischer, psychologischer und philosophischer Art, sondern auch Zeitparadigmata, die in die Richtung von Denkparadigmata zielen, von Denkformen, von kulturell/geschichtlich geprägten Welterschliessungsweisen. Ich denke, Nietzsches Figur eWkdGl beinhaltet ein solches Denkparadigma.
Da ich mich dazu entschlossen habe, mein Thema über ausgewählte Textstellen abzuhandeln, wird der Aufbau der Arbeit auf