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Ahorn und Apfeltaschen
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eBook298 Seiten4 Stunden

Ahorn und Apfeltaschen

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Über dieses E-Book

Das Leben ist eine Baustelle. Die leere Kaffeedose am Morgen, der gestresste Ehemann, an dem mal wieder alles hängenbleibt und ein verregneter Sommer. Wie ein roter Faden ziehen sich die kleinen Katastrophen des Alltags durch die Geschichten. Situationen, wie wir sie vielleicht alle schon mal erlebt haben. Familienbande und skurrile Momente sowie Diätfrust und "Rote Rosen" im Fernsehen spiegeln den Zeitgeist von heute. Im Kontrast dazu lassen zahlreiche Rückblicke in die 50er und 60er Jahre die Zeit der langen Strickstrümpfe und strengen Moralvorstellungen lebendig werden. Ein hellsehender Pastor im Beichtstuhl, Mannsweiber und die BRAVO als Hüter der Moral - mit viel Lokalkolorit, voller Witz und Humor aber auch Tiefgang spannen die Geschichten einen Bogen zwischen dem Alltag in der modernen Gesellschaft und einer Kindheit in Ostwestfalen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum9. Okt. 2015
ISBN9783739260488
Ahorn und Apfeltaschen
Autor

Annegret Hollenhorst

Annegret Hollenhorst wurde 1950 in Gütersloh in Westfalen geboren. Sie wuchs mit vier Geschwistern auf einem Bauernhof in einer Großfamilie auf, als Eltern und Großeltern auf dem Land noch Plattdeutsch sprachen. Schon früh entdeckte sie ihre Liebe zur Sprache und zum Schreiben. Sie machte ihre Leidenschaft zum Beruf und arbeitete als Fremdsprachenkorrespondentin. Die Autorin ist verheiratet und lebt in einem Vorort ihrer Heimatstadt. Nach der Erziehung ihrer drei Kinder begann sie, erfolgreich an Schreibwettbewerben mit Schwerpunkt Lyrik teilzunehmen. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen von Gedichten und Kurzprosa in regionaler Presse, Anthologien, Unterhaltungs- und Literaturmagazinen. Ihre Texte wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. "Ahorn und Apfeltaschen" ist ihr erstes Buch.

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    Buchvorschau

    Ahorn und Apfeltaschen - Annegret Hollenhorst

    Hollenhorst

    Ahorn und Apfeltaschen

    Dienstag, 10. Juli 2012. Heute Morgen haben sie angefangen zu buddeln. Stand ja auch gestern in der Zeitung. Am 10. Juli der Beginn der Bauarbeiten, für voraussichtlich acht Wochen, mit Straßensperre. Zwei Monate Bauarbeiten direkt vor unserer Tür, sozusagen nur einen Steinwurf entfernt. Das Leben ist eine Baustelle, sagt mein Mann immer, wenn er abends vom Büro nach Hause kommt, und jetzt darf ich auch daran teilhaben.

    Die Bauarbeiten für den Bahnübergang an der Bruder-Konrad-Straße. Endlich kommt da eine Schranke hin, wurde auch Zeit. Ob die Straße schon gesperrt ist? Es ist früher Vormittag und kühl für die Jahreszeit. Trotzdem. Ich gehe in den Garten.

    Ich höre den Bagger und was man da sonst noch so einsetzt (keine Ahnung, was heute alles dran ist), dröhnen und stampfen. Aber ich kann nichts sehen. Die Sträucher sind zu dicht. Könnte ja mal nachsehen, die Straße ist ganz nah, direkt hinter dem Garten und dem Parkplatz mit den Garagen, vielleicht nur fünfzig Meter. Vielleicht später. Jetzt ist es gerade so schön im Garten, so ruhig, trotz des Baulärms, es ist eine ganz eigene Ruhe. Ruhig für mich.

    In der Küche habe ich es nicht mehr ausgehalten, nach dem Bügeln war mir alles zu eng und die Enge so laut. Musste nach draußen, Luft holen, ausatmen, raus aus der lauten Enge. Den Gartenstuhl von der Terrasse auf den Rasen tragen. Ich bin barfuß. Muss den Rasen unter meinen Füßen spüren. Ist am Samstag noch gemäht worden, heute ist Dienstag. Das Gras kribbelt unter meinen Füßen, es kitzelt, so lebendig, so nach Sommer. Kein englischer Rasen, das nicht, lichte, von der Sonne ausgebleichte Flecken und Unkraut, wenn auch kurz gemäht, da fällt es nicht so auf, und Blümchen, kleine gelbe und Klee. Der Löwenzahn (mein Mann sticht die Wurzeln immer aus) ist schon verblüht, und ich sehe auch keine Marienblümchen mehr. Vielleicht auch schon verblüht, ich kenne mich nicht so aus, bin keine gute Botanikerin. Wegen des Klees muss man beim Barfußgehen aufpassen, damit man nicht gestochen wird, meine Freundin weiß das, sie züchtet Bienen, also nicht von Bienen und Wespen gestochen wird. Von Hummeln hat sie nichts gesagt, ich weiß gar nicht, ob Hummeln auch stechen. Ich glaube nicht. Und barfuß muss schon sein, auf jeden Fall.

    Ich sitze im Halbschatten, von links, also Südosten, kommt die Sonne, es ist kurz vor Mittag, rechts ist Schatten von Haus und Balkon, und rundherum Sträucher und Bäume, ich weiß nicht, was für welche, wegen der schlechten Botanik, aber schön sind sie alle. Rechts liegen die Beete mit leuchtenden Stauden und Rosen. Und die Kugelahornbäume. Die kenne ich. Mein Mann sagt immer Kugelahörner, das finde ich lustig, aber es passt zu diesen Bäumen, sieben sind es im Garten und an der Einfahrtsstraße parallel noch mal sieben. Wenn sie ihr Blätterdach voll ausgebildet haben, so ab Mitte Mai, glaube ich, stehen sie da wie eine grüne Bastion, ein richtiges Bollwerk, dicke, grüne Pilzköpfe auf schlanken Stämmen. Dass die das tragen können, denke ich, so ein dicker Bauch auf so dünnen Beinen, die müssen ganz schön was aushalten. Und die Blätter. Immer in Bewegung. Und zum Scherzen aufgelegt. Beim leisesten Windhauch, mehr als alle anderen Blätter an Bäumen und Sträuchern in Bewegung, das Blattwerk so fächerartig übereinander, ganz dicht, und die Fächer gehen auf und ab und wiegen sich und winken mit den Händen und zittern und tanzen, und sogar wenn es windstill ist, kugelt die Luft oder die Hitze im Blattwerk, man sieht sie flirren in der grünen Kugel, und der Ahorn spielt und scherzt und macht gute Laune, manchmal mit einem einzigen Blatt, lässt es schwingen, hin und her, wie das Pendel einer Uhr.

    Der Bagger wird lauter, der Baulärm und der Krach von der Verler Straße, die ist auch nicht weit entfernt, aber stört meistens nicht, es liegen zwei Häuser dazwischen und die Sträucher vom Garten. Dafür hat das Vogelgezwitscher aufgehört, auch das Gurren der Tauben, das finde ich irgendwie gemütlich, aber jetzt sind sie still. Alles wird still, keine Schmetterlinge, kein Trippeln von Vogelbeinen, meistens Amseln und manchmal Elstern und kleinere Vögel, Meisen und Spatzen, auch Rotkehlchen habe ich schon gesehen, aber selten. Ein orangefarbenes Insekt schwirrt durch die Luft – weg ist es. Vielleicht machen Vögel auch Mittagspause, ruhen sich ein wenig aus von ihren Geschäften am Morgen, schließlich stehen sie früh auf. Jetzt frischt der Wind auf, kommt von Westen und lässt die schwarz-rot-goldene Deutschlandfahne wehen, zwischen zwei Kugelahörnern, mein Mann hat sie zur Europameisterschaft aufgestellt, eine stolze Fahne an einem hohen Mast. Die EM ist längst vorbei, und wir haben nicht gewonnen, sondern Spanien, aber die Fahne hängt immer noch da, und die Querstange breitet ihre Arme aus, hoch oben, wie die Christusstatue in Rio, und klappert ein bisschen am Metallmasten, ding ding, und eigentlich stört sie ja niemand und könnte hängen bleiben und die Richtung anzeigen, aus der der Wind weht.

    Und dann mache ich Mittagspause, schon halb zwei, die Zeit vergeht beim Schreiben. Ich gehe in die Küche, es gibt Fisch und Pellkartoffeln und Zaziki, Fisch ist gesund und ein Schlankmacher. Ich habe auch noch ein Rosinenbrötchen in der Tüte, vom Bäcker heute morgen, aber ich war nach dem Dinkelbrötchen schon satt. Ich könnte es zum Nachmittagskaffee essen, aber nein, ich muss aufpassen, und wenn ich es in die Frischhaltebox gebe, schmeckt es morgen auch noch. Sonst nutzt auch der schlankmachende Fisch nichts. Dann war wieder alles für die Katz. Heute morgen beim Bäcker, die freundliche Verkäuferin bediente gerade die junge Frau neben mir, sehr jung, sehr hübsch, sehr schlank. Sie könne ihr noch zwei Apfeltaschen empfehlen, beim Kauf von zwei im Sonderangebot, nur ein Euro dreißig, denn heute sei Doppeldienstag, sagt die Verkäuferin, aber nein, antwortet die Schlanke, sie sei auf Diät. Das habe sie doch gar nicht nötig, sage ich mit einem anerkennenden Seitenblick. Doch, sagt die Hübsche, sie bekomme ein Bäuchlein, und wehret den Anfängen, und sie sieht an sich herunter und verzichtet auf die Apfeltaschen. Ich betrachte sie staunend, eine wahre Schönheit, und ich denke, so schlank und hübsch war ich auch mal, und nein, ich möchte auch keine Apfeltaschen im Angebot und sonst auch nicht, bin auch auf Diät, ab heute! Dann kann ich Ihnen unser Pfundepurzelbrot empfehlen, beharrt die Verkäuferin (das hat sie der jungen Frau nicht empfohlen, natürlich nicht), aber ich bin ihr nicht böse und nehme dankend an. Vielleicht erst mal ein halbes? Ja, ein halbes Pfundepurzelbrot, wenns hilft. Hat wenig Kohlenhydrate, kann man auch am Abend essen, sagt die Verkäuferin. Brot hat man früher zu allen Zeiten gegessen, denke ich, auch am Abend, ganz normal, wieso sollte man nicht… aber ja, ich weiß, sie meint es gut, und Kohlenhydrate sind seit neuestem abends verpönt, sagen Fitnesspapst Dr. Pape und andere Fachleute. Die müssen es ja wissen, wenn nicht die, wer dann, und die Verkäuferin weiß es auch schon. Wenns hilft, sage ich, danke, und ich soll Bescheid sagen, wie es geschmeckt hat. Ja, es sieht appetitlich aus, und ich nehme meine Tüte und fahre mit Dinkel- und Rosinenbrötchen samt der Kohlenhydrate, aber morgens sind die nicht so schlimm, und dem Pfundepurzelbrot nach Hause.

    Frühstücken.

    Nach dem Mittagessen wieder nach draußen, erst mal auf die Terrasse, Rote Rosen gucken, der kleine Fernseher ist in der Ecke neben der Tür montiert. Jeden Tag, das heißt, immer werktags von zehn nach zwei bis drei Uhr die Serie. Dass du so was guckst, sagen meine Kinder, und ich nehme das fast als Kompliment, so einen Blödsinn, aber ein bisschen Blödsinn muss eben auch mal sein, so wie Dallas und Denver in den Achtzigern, das habe ich auch immer geguckt, aber nur einmal die Woche. Immer diesen Blödsinn angucken und sich drüber aufregen und drüber schimpfen, aber immer sehen und wissen wollen, wie es weitergeht. Aber bloß nicht zu viel von diesen Serien, eine reicht, weil man ja sonst komplett verblödet, aber diese jeden Werktag, Liebe und Intrigen, und wenn sie ausfällt, meist wegen Sport, bin ich sauer, cirka fünf Sekunden lang.

    Der Bagger rackert und schnauft, ich muss doch gleich mal nachsehen, wie weit sie schon sind. Die Sonne ist hinter den Wolken verschwunden. Ein wechselhafter Sommer dieses Jahr, kein Standwetter, immer hin und her und viel Regen und Gewitter. Es sind Ferien, aber kein Ferienwetter, nicht fürs Freibad und nicht zum Grillen abends. Gut, dass unsere Terrasse überdacht ist, da kann man trotz Regen draußen sitzen, wenn es einigermaßen warm ist, und abends nimmt man eine Decke und wickelt sich darin ein, Hauptsache, draußen, so lange es geht. Ich schaue zum Himmel, keine Spur von Sonne und die Wolkendecke wird dichter, aber den Bauarbeitern ist das egal, sie sind bestimmt froh, dass es nicht so heiß ist, nicht wie damals, als ich noch ein Kind war und eine neue Decke auf die Sundernstraße kam und der heiße schwarze Teer auf der Straße fast schmolz in der flirrenden Hitze, und den Bauarbeitern der Schweiß von den nackten braunen Oberkörpern rann, es roch nach Hitze und Teer und nach Sommer, und bei der dicken Dampfwalze dachte ich immer, wenn da mal einer drunterkommt, der ist platt wie ne Flunder.

    Ich muss jetzt doch mal schauen an der Baustelle, die paar Schritte gehen über den Parkplatz, bis zur Straße. Ein großer LKW steht da und ein Schaufelbagger, gelb natürlich. Sind Bagger eigentlich immer gelb? Ich bin nicht ganz sicher. Der Radweg ist schon ganz aufgebuddelt, die Straße bis kurz vor der Kreuzung gesperrt, aber Anlieger bis zur Baustelle – das sind wir – frei. Der Bagger schlägt seine Zähne in den Sand und wieder hoch, auf und nieder, wie der Kugelahorn und der Flug der Schmetterlinge im Garten, nur nicht so schön. Wieso sind keine Kinder da zum Gucken, denke ich, jetzt in den Ferien. Nicht wie früher, wenn ein Bagger kam, oder die Straße geteert wurde, die schwarze dampfende klebrige Masse in der gleißenden Hitze und die dicke Dampfwalze, stundenlang konnte man da schauen und hören und riechen, vor allem riechen. Aber heute wohl nicht mehr, nur der LKW und der Bagger und die Straßensperre. Aber keine Kinder.

    Zurück zu meinem Schreibplatz, den Block auf die Knie. Die Luft ist lau, noch immer fast windstill, Ameisen krabbeln über meine nackten Beine, ein Schmetterling gaukelt übers Rosenbeet, auf und nieder, wie besoffen, wie der Bagger, denke ich, nur schöner, und der Kugelahorn treibt seinen Schabernack und tut es ihm nach und klatscht Beifall mit seinen großen grünen Fächerhänden.

    Schon überlege ich, was ich heute Abend essen soll, das heißt, darf. Bin schließlich auf Diät, ab heute. Die Hübsche erscheint vor meinem geistigen Auge und ich, wie ich früher war. Also kalorienarm muss es sein und trotzdem lecker. Sonst funktioniert das alles nicht. Vielleicht sollte ich vorher noch einen kleinen Spaziergang machen. Bewegung ist wichtig und macht mir auch Spaß. Jetzt trage ich erst mal den Gartenstuhl auf die Terrasse, dann geht‘s los. Ich stehe auf und schaue an mir runter. Ich bin auch ein Kugelahorn, denke ich. Heute Abend gibt es nur Salat. Und Pfundepurzelbrot.

    Hundert Prozent Arabica

    Mittwoch. Acht Uhr vierzig. Es regnet. Kein Sommer dieses Jahr. Licht an in der Küche. Ohne Licht geht es nicht, viel zu dunkel, und die Dunkelheit schlägt mir aufs Gemüt. Das weiß man ja, dass Licht die Glückshormone anregt, und die brauche ich heute morgen. Also alles an, was da ist, die Strahler unter der Decke und unter der Holzblende vom Küchenschrank. So ausgerüstet, könnte es gehen. Gut, dass mein Mann nicht da ist, macht immer alles wieder aus, weil das Licht da oder dort angeblich nichts bringt, weil ich ja hinten keine Augen habe oder so, aber schließlich ist er kein Beleuchtungstechniker, und ich weiß selbst, was mir gut tut. Dann ist das Licht eben ein Placebo, sage ich (das ist ein bisschen gemein, denn ich weiß, dass mein Mann nicht weiß, was ein Placebo ist), und mache das Licht wieder an.

    Ich stelle das Radio an, Oldie Sender. Dann Kaffee kochen. Auf den Kaffee freue ich mich, allein schon der Duft, der Geruch der Kaffeebohnen, nein, die sind ja fertig gemahlen heutzutage. Also der Duft des Kaffeepulvers, aber das klingt nicht so gut. Kaffeebooohnen, das kann man auf der Zunge zergehen lasse, und den Mund ganz rund machen beim O und es ganz lang hinausziehen und sich die gerösteten Bohnen dabei vorstellen und riechen, das geht bei Pulver nicht.

    Immer hundert Prozent Arabica, das habe ich im Fernsehen gesehen, wahrscheinlich Servicezeit im WDR, da haben sie immer gute Tipps, also achte ich immer auf hundert Prozent. Wusste vorher gar nicht, dass es bei Bohnenkaffee auch Beimischungen gibt. So ein Schwindel. Dachte immer, Bohnenkaffee ist Bohnenkaffee und Muckefuck ist Muckefuck, so wie Schnaps eben Schnaps ist und da auch kein Wasser rein gehört. Darum habe ich beim nächsten Einkauf im Laden nachgesehen, bei meiner Sorte, die ich immer kaufe, mild und fein, oder so, und da stand es! Achtzig Prozent Arabica, zwanzig Prozent Karamell. Pfff! Ich ließ die Luft zwischen den Zähnen raus und die Verpackung mit dem gepanschten Kaffee sinken. Zurück ins Regal! Was soll ich denn mit Karamell, da kann ich mir Bonbons kaufen, aber im Kaffee hat das nichts zu suchen. Was die einem alles andrehen heute! Nie wieder diese Sorte. Ich mache mich auf die Suche und werde fündig. Eine Goldsorte, hundert Prozent Arabica. Geht doch. Ich fühle mich ein bisschen wie ein Entdecker (Kaffee und Columbus, dass passt doch zusammen). Ich finde, man schmeckt es, und ich bin ganz glücklich mit meinem neuen Kaffee. Es sind eben doch die kleinen Dinge des Lebens, wie es so schön heißt, und da ist was dran.

    Ich koche den Arabica Kaffee und spüle die Warmhaltekanne mit heißem Wasser aus. Warmhaltekanne, denke ich, das klingt so altmodisch, vielleicht sollte ich Isolierkanne schreiben, oder Thermoskanne, das klingt moderner, aber wenn mir Warmhaltekanne in den Kopf kommt, ist es das richtige Wort. Nur nichts verbiegen. Schreiben, was man denkt und fühlt, und da gehört auch die Warmhaltekanne dazu. Also heißes Wasser in die Kanne, die Kaffeemaschine hält nicht warm genug, und Kaffee muss nicht nur richtig echt sein, also hundert Prozent, sondern auch richtig heiß, und wenn Milch, dann nur Kaffeesahne oder Kondensmilch, mindestens zehn, oder besser noch, zwölf Prozent, am liebsten Bärenmarke, dann ist er so richtig schön goldbraun, wie der kleine Bär auf dem Milchgläschen, man sieht es schon an der Farbe, dass er gut ist, die Farbe und die Temperatur und der Geruch. Und dann noch eine schöne Tasse, eine richtige Kaffeetasse, am liebsten aus nicht so dickem Porzellan und auf keinen Fall so ein großer Pott, wo man die Lippen über den dicken Rand stülpen muss und fast die ganze Hand durch den Henkel stecken kann. Eine edle Bohne verdient eine schöne Tasse, aus dünnem feinem Porzellan. Am schönsten waren die Sammeltassen meiner Mutter, wie kleine Schalen, ganz feines Porzellan, mit geschnörkelten zierlichen Henkeln, cremefarben, bemalt mit Blumen in den schönsten Farben. Eine Tasse schöner als die andere. Manche Exemplare waren indes mit kunstvollen, meist goldfarbenen Ornamenten verziert, das waren die unbestrittenen Königinnen unter unseren Sammeltassen. Die Farben leuchteten kobaltblau und zinnoberrot zwischen den goldenen Ornamenten. Die Tassen standen auf kleinen goldenen Sockeln, wie auf zierlichen Füßchen, als wollten sie ihre exponierte Stellung demonstrieren. Wahrhaft königlich! Die wurden nur zu ganz besonderen Anlässen aus dem Schrank geholt, etwa an Weihnachten und zur Erstkommunion. Ebenso das Hand bemalte Service mit dick aufliegendem Blattgold, welches meine Mutter mit in die Ehe gebracht hatte. Kaffeekanne, Zuckerdose und Milchkännchen. Echtes Blattgold, sagte meine Mutter, handbemalt, und zeigte uns den Schriftzug unter dem Service. Da stand es, in kunstvollen goldfarbenen Lettern: HANDBEMALT. Das kostbarste schönste Stück in Mutters Porzellansammlung. Ich beschloss, keine Zeit zu verlieren und die Gunst der Stunde zu nutzen, schließlich hatte ich noch zwei Schwestern, denen es auch gefiel. Das möchte ich mal erben, sagte ich kurz und bündig zu meiner Mutter, die überrascht aufblickte. Natürlich erst später, setzte ich großzügig hinzu. Jetzt kannst du es ja erst noch benutzen.

    Die Wetternachrichten. Köln und Düsseldorf 14 Grad, und es bleibt wechselhaft. Aber mehr Regen als Sonne. Was ist das für ein Sommer, denke ich. 14 Grad im Juli, das ist nichts. Kein Sommer. Ich seufze, schmiere Butter auf zwei Körnerbrote und mache Rührei. Im Radio laufen die besten Hits aller Zeiten, Turn, Turn, Turn, von den Birds, glaube ich, und dann Roy Orbison. Pretty Woman. Ich seufze. Lange her.

    Also jetzt frühstücken. Mein Mann ist im Büro, hat viele Termine heute, und ich überlege, ob er wohl Licht an hat im Büro. Mein Jüngster liegt noch im Bett. Sind ja Ferien. Das kann Mittag werden, bis er aufsteht. Da spielt das Wetter keine Rolle. War gestern Abend noch unterwegs, mit Freunden. Sind wir früher auch so spät aufgestanden, in dem Alter? Aber was solls. Ist nur einmal jung. Muss später noch früh genug aufstehen, später, wenn der Ernst des Lebens erst richtig anfängt. Nächstes Jahr Abitur. Und dann? Weiß noch nicht so richtig, sagt er. Moderator beim Fernsehen, am liebsten Sportmoderator, aber das geht ja nicht von heute auf morgen, also erst mal Journalismus, auf jeden Fall was mit Reden oder Schreiben. Was Kreatives. Kann jede Menge Raptexte auswendig, die höre ich jeden Morgen, wenn er unter der Dusche steht, weil er den Laptop mit ins Bad nimmt und die Musik laut aufdreht. Aber ich kann sie trotzdem nicht auswendig. Mache lieber die Tür zu. Obwohl, einfallsreich und poetisch sind sie schon, die Texte, teilweise, Alex spielt mir gern mal ein paar Sequenzen vor. Und hat mit Erfolg eine Review über einen Rapper für ein Internetforum geschrieben. Kommt ganz nach mir, denke ich und freue mich ein bisschen, so eine Seelenverwandtschaft, schon immer, und ich wundere mich, wie sich die Neigungen vererben. Mein Ältester ist Mathematiker (das hat er nicht von mir), so ein kluger Kopf, und die Tochter weder noch. Weder Schreiben noch Mathematik, meine ich, ein kluger Kopf ist sie auch, kommt nach der Patentante, mit Hund und Katze und Pläne gern mal umwerfen, ist gerade wieder umgezogen. Ist ein Vagabund. Das verstehe ich, das hat sie von mir. Die Unruhe, immer was Neues wollen, am liebsten immer auf Achse. Du warst schon immer so ein unruhiger Geist, sagt mein Mann. Künstler. Die sind so. Er nicht, er ist bodenständig. Kann mehr mit Zahlen anfangen als mit fantastischen Geschichten. Zahlen lügen nicht, eins und eins bleibt immer zwei. Ja, sage ich, aber stell dir mal vor, ich würde Brücken bauen, oder Häuser. Mein Mann sagt nichts mehr. Das stellt er sich lieber nicht vor.

    No Milk Today, Herman‘s Hermits und Brown Sugar, die Stones. Wie alt sind diese Schinken. Und wie alt bin ich inzwischen, da sieht man es ja. Jetzt spricht er es aus, der Radiomoderator: Seit fünfzig Jahren die Rolling Stones. Fünfzig! Haben Jubiläum, stand auch in der Zeitung. Ich war noch ein Kind, als die berühmt wurden, denke ich, das schwächt die Dramatik ein bisschen ab. Man muss es relativieren. Aber trotzdem. Man muss das Leben festhalten, wenn die Zeit knapper wird, muss es spüren jeden Tag, ganz bewusst, und sich erinnern und fragen, wann war dies und das, und versuchen, das Gefühl zu verstehen, das ungläubige Gefühl, dass all diese Dinge doch noch nicht so lange her sein können, so lange noch nicht, fünfzig Jahre, wenn man die noch mal dazu rechnet, dann wäre ich ja schon weit über Hundert. So alt wird kein Mensch, fast keiner, außer Joopie Heesters vielleicht, und der ist inzwischen auch schon tot. Und dann dieses unbändige Verlangen, die Zeit zurückzudrehen, zurückzuholen und noch einmal erleben und alles besser machen und besser verstehen. Als könnte man den Hals nicht voll kriegen vom Leben.

    Gestern die Todesanzeige in der Zeitung, im letzten Moment habe ich sie gesehen. Meist lese ich die Todesanzeigen gar nicht. Du musst, sagt mein Mann, damit du weißt, was los ist. Wieso weiß ich, was los ist auf der Welt, wenn ich weiß, wer gestorben ist, denke ich, aber eigentlich hat er recht. Dann würden mir diese Dinge nicht passieren, wie vor drei Jahren, da frage ich meine Fußpflegerin, wie geht es deiner Mutter, denn ich kenne die Fußpflegerin und auch die Mutter seit meiner Kindheit. Wir wohnen im selben Ort, und sie sagt, meine Mutter ist doch gestorben, wusstest du das nicht? Ich war erschrocken, wie peinlich, tut mir Leid sagte ich, wir waren in Urlaub, da habe ich das nicht mitbekommen. Aber, sagt die Fußpflegerin, das war schon vor den Ferien. Stand auch in der Zeitung.

    Und gestern habe ich die Anzeige gesehen, im letzten Moment, als ich die Zeitung zuklappen wollte, sprang sie mir ins Auge. Der Name, den kenne ich doch. Und die Kinder, in stiller Trauer, die kenne ich alle, da gibt es keinen Zweifel. Das ist ein Stück Kindheit. Ein ganz großes Stück sogar. Haben ganz in der Nähe gewohnt, nur über die Sundernstraße und dann den Weg entlang, unter den Eichen, bis zum Hof. Nachbarn. Und wir waren immer willkommen. Sind zusammen aufgewachsen, haben zusammen gespielt. Die Kinder bei uns und noch öfter wir bei ihnen, auf dem Bauernhof und im Haus, eine große Kinderschar, und es kommt auf ein paar mehr oder weniger nicht an. So viel gespielt, auch mal gestritten und wieder vertragen, und alle zwei Jahre (oder öfter?) ein neues Kind beim Nachbarn, neun Kinder zuletzt, wir waren nur fünf, und immer was los. Die Großen passen auf die Kleinen auf. Meine Schwestern fahren die Zwillinge im Kinderwagen spazieren. Zwei mal Zwillinge, da kommt was zusammen. Da ist man ruckzuck bei neun angelangt. Sonntags fernsehen. (Wir hatten erst später einen Fernseher.) Wochenschau. Immer noch Bilder vom Krieg. Die Juden, die verhungerten Gerippe, und die Kinder mit den blassen Gesichtern und riesigen Augen und dem Stern auf dem Mantel. Die Massengräber. Menschengerippe. Die Kinder auch, dachte ich damals. Warum. Was hatten sie getan?

    Und dann Am Fuß der blauen Berge. Die blauen Augen von Robert Fuller, und mein Herz schlägt hoch und mir wird ganz warm. Oder Fury, der schwarze Wildhengst. Jim Newton und Pete. Und natürlich Joey. Na, Fury, wie wär‘s mit einem kleinen Ausritt, hast du Lust, und Fury hebt den Kopf und wiehert, und das heißt ja.

    Und später die Augsburger Puppenkiste, Jim Knopf. Eine Insel mit zwei Bergen, ich summe die Melodie vor mich hin, so eine Melodie, die vergisst man ja nicht, die bleibt immer im Kopf, und alles ist noch ganz nah. Wie soll man das aushalten, dass die Zeit so schnell vergeht

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