Daheim im Nirgendwo: Ein europäischer Lebensweg
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Über dieses E-Book
Viele Griechen sind dem Ruf Europas nach Arbeitskräften gefolgt und haben versucht, auch sich in Deutschland eine sichere Existenz aufzubauen. Viele haben Familien gegründet und sind mit ihnen hiergeblieben. Die meisten sind, nach Jahren harter Arbeit, als alte Menschen wieder zurückgekehrt. Manche auch ohne ihre Kinder und Enkel. Nicht wenige pendeln zwischen Deutschland und Griechenland hin und her. Ihnen allen gemeinsam ist ein Gefühl der Entwurzelung, eine Schwermut, eine Sehnsucht nach der Heimat, die sie vielleicht gar nicht kannten. Einer Heimat, die sich vielleicht so verändert hat, dass sie kaum wieder zu erkennen ist. Auf Griechisch nennt man diesen Schmerz Nostalgía. Ein schwer zu beschreibendes Leiden, ein Wunsch nach Heimkehr, auch ohne konkreten Ort.
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Buchvorschau
Daheim im Nirgendwo - Katerina Metallinou-Kiess
2011
ERINNERUNG
Im Garten von Katrinas Schwester Philoména blühte gerade die Magnolie. Eine große Magnolienblüte schmückte den Esstisch, sie erfüllte den Raum mit ihrem unvergleichlichen Aroma. Katrina kommentierte den paradiesischen Wohlgeruch, der die Erinnerung an vergangene Ferienzeiten auf der Insel wachrief. Wenn sie diese Blüte roch, übermannte sie das Bedürfnis, alles frisch zu machen, damit die ganze Wohnung nur ihren Duft atmete. »Mich bringt dieser Blütenduft genau zu meinem 17. Lebensjahr zurück. Dorthin, wo im Garten der Villa von Lady Virginia ein prachtvoller Magnolienbaum stand. Was war das für eine schöne, fürstliche Umgebung! Was für eine Atmosphäre!« sagte Philoména.
Die Vergangenheit wurde lebendig …
SEIN
Am Samstag, dem 16. März 1940 um 23 Uhr, noch bevor die Geburtshilfe das Haus der Andromáchi und des Polýdoros erreicht hatte, kam in dem kleinen Ort Gouviá auf der Insel Korfu Katrina auf die Welt. Kurz darauf lag sie in den Armen von Vérgo, der Besitzerin des am Meer gelegenen Hauses, das Polýdoros Familie zur Miete bewohnte. Vérgo war gleich zur Stelle als bei Andromáchi die Wehen einsetzten, da sie mit ihren sechs Kindern die andere Hälfte des Hauses bewohnte. Die Geburt von Katrina war die sechste für ihre Mutter, nach denen von Spýros, Adriána, María, Agní und Philoména. Als Ausdruck der Ehrerbietung trugen alle Kinder die Namen der Großeltern und nächsten Verwandten, ganz nach griechischer Tradition.
»Ein Mädchen!« wurde Polýdoros mitgeteilt.
»Πάλε θηλυκό; Μπa, που να το κόψει ο Θεός! - Oh! Weh! Schon wieder ein Mädchen! Möge Gott es bald zu sich nehmen!« Nicht selten war solch ein Satz bei der Geburt eines Mädchens zu hören. Der Wunsch eines jeden Vaters nach einem Jungen war übermächtig. Das erste Kind – Spýros - starb mit acht Jahren. Die Trauer um den geliebten Sohn ließ Polýdoros, der ein gefühlsvoller und introvertierter Mensch war, magenkrank werden. Vérgo, die den Wunsch von Polýdoros kannte, bekam Schüttelfrost, denn als ein Jahr zuvor Philoména zu Welt kam, war Polýdoros so gekränkt und enttäuscht gewesen, dass er für drei Tage nicht nach Hause kam. Und obwohl er die zu dieser Zeit übliche Einstellung zur Geburt eines Mädchens nicht teilte, zeigte er auch jetzt keine besondere Freude. Andromáchi, die sehr gläubig war, hob Katrina hoch und sagte: »Herr, in Deine Hände lege ich dieses Kind.«
Dem Schicksal zum Trotz wollten die Eltern es noch mal versuchen. Zwei Jahre später starteten die Beiden aufs Neue den Versuch einen Jungen zu zeugen, doch Andromáchi schenkte abermals einem Mädchen das Leben. Mit der Geburt Chloës gab sie es dann auf, den Wunsch ihres Mannes nach dem Stammhalter zu erfüllen.
Das Bild, das die Welt in dieser Zeit bot, war alles andere als erfreulich. Der Zweite Weltkrieg war ausgebrochen und erfasste bald Südeuropa. Im Oktober 1940 erklärte Italien Griechenland den Krieg und kurz darauf bombardierten die Italiener Korfu. Als die erste Bombe fiel, wechselte Polýdoros den Wohnort, da in Gouviá die Luftwaffe stationiert war. Die Flugzeuge landeten im Wasser, da die Insel keinen Flughafen hatte und entsprechend hoch war die Zahl der Bomben, die auf die Gegend fielen. Es folgten Jahre der Angst, des Hungers, der Armut und Entbehrung. Katrina lernte ihre ersten Worte: ›Krieg‹, ›Angst‹, ›Hunger‹, ›lauf‹, ›Bomben‹, ›Explosion‹, ›komm‹, ›Essen‹, ›Brot‹, ›Frieden‹, ›Licht‹, und dazu noch viele andere Wörter, deren Bedeutung sie nicht verstand.
Trotz des Bombardements musste die Familie ihr Leben weiter führen. Im Dorf hatte man die Möglichkeit, ein paar Hühner zu halten, so dass die Familie mit Fleisch und Eiern versorgt war und eine Ziege gab etwas Milch. Polýdoros war Lehrer, das hatte Vorteile, weil er an der Quelle saß, die von der entsprechenden Versorgungsstelle für die Schulkinder Nahrungsmittel zugeteilt bekam. Mit Einverständnis seines Vorgesetzten meldete er mehr Schüler an, so dass genug Nahrungsmittel für seine Familie und auch andere Menschen im Dorf übrig blieben. Rosinen als Kalorienspender wurden reichlich zur Verfügung gestellt. Ein ganzer Sack lag unter dem Bett! Auf allen Vieren krochen Katrina und ihre Geschwister, um von den süßen Rosinen zu naschen.
Es war damals unvorstellbar, dass die Familie an einem Tisch saß, um eine Mahlzeit gemeinsam einzunehmen. Im Gegenteil, das Essen wurde jedem Kind auf einem Blechteller in die Hand gedrückt und dann suchte jeder sich einen geeigneten Platz, um in Ruhe essen zu können. An so einem Tag nahm auch Katrina ihren Blechteller mit den Makkaroni und saß am Boden unter dem Fenster, neben ihr ihre Schwester Chloë, als in der Nähe des Hauses eine Bombe explodierte. Die Detonation war so stark, dass der Blumentopf, der auf dem Fensterbrett stand, nur wenige Zentimeter von Katrina entfernt herunterfiel.
Katrina erinnert sich an den gemieteten Teil des Hauses in Gouviá, in dem sie einige Jahre lebte, an einen großen Raum mit zwei Betten. Gegen Mittag legte ihre Mutter sie zum Schlafen hin. Im Bett ließ sie ihre Blicke zum Licht eines Sonnenstrahls schweifen, der es geschafft hatte, durch die geschlossenen Läden bis zu Katrina hinein zu dringen. Sie beobachtete den Tanz vieler kleiner Staubkörner, bis ihre Lider vor Müdigkeit zufielen.
Sie erinnert sich noch, dass es einen Keller gab und dass der Boden aus Erde bestand. Dort gab es Löcher, in welchen sich Kaninchen eingenistet hatten. Wenn nun Fleisch gegessen werden sollte, ging Adriana in den Keller, steckte ihren ganzen Arm in das Loch hinein und holte ein Kaninchen heraus, das im Kochtopf von Andromáchi landete.
Die Faschisten brauchten keinen besonderen Grund, um den Menschen zu zeigen, wer das Sagen hatte. Sie gingen mit den Korfioten nicht gerade zimperlich um. Ein besonders schmerzlicher Moment war für Katrina der Tag, an dem Polýdoros nach dem Unterricht blutverschmiert nach Hause kam. Tief in Gedanken versunken war er einem italienischen Offizier begegnet. Ohne Ankündigung verpasste dieser ihm eine ordentliche Ohrfeige mit den Worten: »Perqué no salutare? - Warum grüßt Du nicht?«
Polýdoros Magenprobleme verstärkten sich zunehmend, er bekam innere Blutungen, die intensive Aufmerksamkeit und Andromáchis Pflege erforderten. Dazu kam, dass María sehr dünn wurde und die Mutter versuchte, sie mit Essen zu stärken. Es war undenkbar, anders Aufmerksamkeit von den Eltern zu erwarten. Katrina erkannte, dass die Mutter hart zu kämpfen hatte und dass die Schwächeren immer den Vortritt haben würden.
Als Philoména einmal an einer Lungenentzündung erkrankte, so dass sie kaum atmen konnte, nahm Andromáchi sie auf den Arm und ging einige Kilometer weit zu Fuß mit ihr zum Arzt. Mit Augen voller Hoffnung, zeigte sie ihm das Kind. »Es wird sterben!« verkündete er ihr, »siehst du es nicht? Ich kann nichts machen …«. Andromáchi, der so leicht nichts etwas anhaben konnte, entgegnete: »Mein Kind wird nicht sterben, weil du es sagst. Es wird nur sterben, wenn ER es will!« und zeigte zum Himmel. Anschließend besuchte sie einen anderen Arzt. »Dein Kind ist wahrlich sehr krank. Ich kann nur ein neues Medikament ausprobieren, vielleicht haben wir Glück.« Und es geschah das Wunder. Philoména erholte sich nach und nach, sie hatte die Lungenentzündung überstanden. Das Medikament war Penicillin.
In den Kriegspausen spielte Katrina mit ihren Schwestern. Adriana, die zehn Jahre älter war, passte immer auf die Kleineren auf. Sie nahm Katrina in die Arme und erzählte ihr Geschichten. Eine davon handelte von einem kleinen Mädchen, das nichts zu essen und anzuziehen hatte, traurig war und weinte. Als Katrina aus Mitleid in Tränen ausbrach, sah sie ihre Schwestern lachen.
Doch es gab noch das legendäre Karagiosis-Theater. Karagiosis ist der Protagonist und gleichzeitig die Bezeichnung für das Schattentheater. Alle Darsteller waren aus Pappe geschnitten. Die fertigen Papierpuppen konnte man mit Hilfe eines Stockes - der auf ihrem Rücken für diesen Zweck befestigt und hin und her geschoben wurde - auf ein gespanntes Bettlaken drücken. Karagiosis und alle anderen Figuren waren grundsätzlich mit den Trachten aus den Jahren um 1800 bekleidet. Man stellte eine Puppengruppe zusammen, die einen Teil der damaligen Gesellschaft und deren Probleme repräsentierte. Eine Kerze hinter der Bühne sorgte für das Licht- und Schattenspiel. Als Amphitheater für das Publikum dienten die Trümmerbrocken. Die Themen waren aus dem Leben gegriffen, und meistens handelten die Stücke - wie könnte es auch anders sein - vom Schmerz und Leid der Menschen, die ins Lustige gezogen wurden. Das Schattentheater war in den Zeiten des Krieges immer präsent, lockerte so etwas die bedrückende Atmosphäre auf und sorgte für Gesprächsstoff unter den Leuten. Karagiosis - der Hauptdarsteller mit der großen, dicken, roten Nase, die auch auf seine Trinkgewohnheiten schließen ließ und aus dessen Mund Volksweisheiten kamen - ist dank dieser Kunst Legende geworden.
An Aufregung fehlte es nicht. Eines Tages bekam Andromáchi Besuch von Freundinnen - darunter die kurzsichtige Nicoletta aus der Nachbarschaft. Während alle friedlich ihren Kräutertee genossen, stand Nicoletta wie von der Tarantel gestochen auf, zeigte in eine Ecke und stammelte: »Da! Eine Schlange! Sie hat Muster! Sie ist eine Natter!« Welch eine Aufregung! Man hatte Angst um die Kinder, sie wurden schleunigst nach draußen gebracht. Die Erwachsenen bewaffneten sich mit Besenstielen, Stangen und allem, was lang und gut war, um den Kopf der Schlage zu treffen. Die Jagd ging los, langsam und mit Bedacht - Andromáchi in der ersten Reihe. Sie näherte sich der Schlange, streckte so gut sie konnte ihre Waffe aus und stach der Schlange mitten in den Kopf. »Halte sie fest! Halte sie!« riefen die anderen, kamen von der Seite und stachen auf sie ein. Als die Schlange endlich für tot erklärt wurde, hob eine der Anwesenden sie mit einem Bambusstab hoch. Alle schauten sich gegenseitig wie Witzfiguren an, als der Erste sagte: »Das ist die Krawatte des Lehrers«.
Andromáchi versuchte unterdessen die Familie mit Gemüse zu versorgen. Sie griff kurzerhand zu Hacke und Spaten und bestellte den Garten, der sich hinter dem Haus befand, um Tomaten, Gurken und anderes Gemüse zu pflanzen. Es war für die vielfache Mutter eine schwere Arbeit, in den Zeiten des Krieges das Überleben zu sichern. Katrina hatte eines Tages die Hacke genommen und versucht, ihrer Mutter nachzueifern, mit dem Ergebnis, dass ihr die Hacke auf den linken Fuß fiel und - weil sie immer barfuß lief - ein Stück Hautschicht ablöste. Die Narbe blieb das ganze Leben.
So unermüdlich wie Andromáchi für das Essen sorgte, bemühte sie sich auch um die Hygiene in der Familie. Denn Kriegszeit war auch Läuse- und andere Ungezieferzeit. Um Infektionen und dergleichen zu vermeiden, holte Andromáchi einen Mann mit einer Rasiermaschine und ließ ihre Kinder kahl scheren. Aber kahl geschoren wurden Knechte, Gefangene und Kranke, mit Glatze fühlte sich Katrina nackt und entwürdigt.
In der Nachbarschaft gab es einen Hund mit schwarzweißem Fell. Eines Tages kam der Vierbeiner mit roten Augen - ganz zahm - in die Nähe der Kinder. »Weg vom Hund, weg vom Hund!« ertönte die Stimme Andromáchis aufgeregt und laut. »Er hat die Tollwut!« rief eine Nachbarin. Schreie und Aufregung. Jemand holte Manólis mit seinem Karabiner aus der Nachbarschaft, und Katrina sah, wie der arme Hund nach dem Todesschuss leblos umfiel.
Spielzeug für Kinder gab es nicht. Die Kinder nutzten jeden Gegenstand, der ihnen in die Hände fiel - eines Tages waren es ein paar Erbsen - mit denen sie spielten. Eine davon steckte Agní in Katrinas Nase. Erst am nächsten Morgen, als sie mit einer geschwollenen Nase aufwachte, fiel es der Mutter auf. Ein Arzt holte die Erbse dann mit einem Metallgerät wieder heraus.
In der Natur entdeckte Katrina immer wieder etwas Neues. Einen kleinen Käfer, der auf ausgetrockneten Gräsern kroch, oder eine Spinne, die ihren Bau mit Spinngewebe ›tapezierte‹. Die Geschwister sammelten oft das abgelegte, zerbrechliche ›Kleid‹ der Zikaden und steckten es sich als Brosche an die Brust. Dann spielten sie Hinkelstein oder Seilspringen.
Genussmittel waren für die gesamte Zeit des Krieges und in den Jahren danach Mangelware. Polýdoros baute Tabak für den eigenen Bedarf an, und die paar Kaffeebohnen, die man bekommen konnte, teilten die Frauen unter sich auf und zerkauten sie einfach so. Katrina war wie verzaubert von den bunten Luftblasen, die sich im Mund beim Kauen der Bohnen mit der Spucke bildeten.
Das Wenige, was die Menschen damals hatten, versuchten sie vor den Besatzungsmächten zu verbergen, indem alles vergraben wurde. Polýdoros hatte zwischen den Steinen auch ein Tellerservice aus Porzellan versteckt und es dadurch gerettet. Andromáchi hatte einen Blechbehälter mit Öl in der Erde vergraben. Sie hatte ihn so gut versteckt, dass sie ihn vergessen hatte. Später, als der Behälter gefunden