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Drei Sommer wie ein Winter
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eBook356 Seiten3 Stunden

Drei Sommer wie ein Winter

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Über dieses E-Book

Eine unmögliche Liebe verbindet James, den Halbwaisen aus Südafrika, und Monica, die Tochter aus gutem Hause. Im England des frühen 20. Jahrhunderts haben sie keine Chance auf eine gemeinsame Zukunft, die ihre Mutter um jeden Preis verhindern will. Als der Erste Weltkrieg sie auseinanderreißt, zieht James voller Verzweiflung an die Front. Drei Sommer lang ist für ihn Winter. Doch neue Hoffnung wächst in den Schützengräben: Die Zuversicht eines neugefundenen Glaubens und der feste Wille, für seine Liebe zu kämpfen.
SpracheDeutsch
HerausgeberSCM Hänssler
Erscheinungsdatum14. Nov. 2013
ISBN9783775171656
Drei Sommer wie ein Winter
Autor

Iris Muhl

Iris Muhl (Jg. 1970) arbeitet seit vielen Jahren für Schweizer Medien. Nach vier Jahren bei TV und Radio, wo sie eigene Sendungen verantwortete, begann sie für renommierte Zeitungen unter anderem für die Handelszeitung zu schreiben. Später folgte eine Ausbildung zur Drehbuchautorin in Berlin und eine Weiterbildung zur Bilderbuchautorin in Zürich. Nach einigen Sachbüchern und Biografien für zwei Schweizer Verlage schreibt Iris Muhl heute hauptsächlich Romane. Sie wurde für ihre journalistischen Texte sowie Kurzgeschichten bereits mehrfach gewürdigt. Ihr Wunsch und Ziel ist es, außergewöhnliche und spannende Geschichten zu erzählen und den Leser damit zu fesseln. Iris Muhl ist mit einem Architekten verheiratet und hat drei Söhne.

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    Buchvorschau

    Drei Sommer wie ein Winter - Iris Muhl

    TEIL 1

    AUFBRUCH

    [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

    Prolog

    2. September 1916, 17 Uhr, vermerkte Jimmy in sein braunes, speckiges Büchlein, das er immer bei sich trug. Er lag im Schützengraben, dicht gedrängt neben Seth und seinen Kameraden von der Abteilung. Jetzt warf er einen vorsichtigen Blick nach oben. Das Dröhnen ließ nach. Soeben hatte ein deutsches Flugzeug ihr Lager, das hinten am Waldrand lag, überflogen. Wahrscheinlich ein Kundschafter, der nicht klug genug ist, außerhalb unseres Barackenlagers vorbeizufliegen, dachte Jimmy. Mit Maschinengewehrsalven versuchten die Engländer, den Vogel herunterzuholen. Hinter ihnen erklang ein Rattern und Pfeifen. Minuten später, als das Dröhnen der ungeheuerlichen Himmelskiste kaum mehr zu hören war, erschallte ein gewaltiger Knall im dichten Waldgebiet. Das Flugzeug war brennend abgestürzt. Seth und Jimmy standen auf, stellten sich auf die aus Holz eingebauten Grabentreppen und blickten in Richtung englische Armeeküche, hinter den Maulwurfgräben vor dem Wald gelegen. Schwarzer Rauch wirbelte über der Absturzstelle empor und vermischte sich mit dem stillen Blau des Himmels. Die kakifarbenen Uniformen, die Jimmy und die Soldaten trugen, hoben sich in dieser heißen Einöde kaum von dem trockenen Erdboden ab. Sein Kamerad Seth schüttelte den Kopf. »Was für eine taube Nuss.«

    Jimmy setzte den winzigen Bleistift auf die frische Seite des Büchleins und schrieb unterhalb des Datums weiter.

    Monica, Liebste. Ich widme dir mein Notizbuch, das ich immer bei mir trage. Ich gehe davon aus, dass ich hier nicht lebend davonkommen werde, deshalb richte ich meine Worte nur noch an dich. Meine Hoffnung, dich wiederzusehen, ist längst erkaltet. Dessen ungeachtet, will ich dir schreiben, denn was zwischen uns war, erhält meinen Geist am Leben. Man tut hier gut daran, gewisse Dinge einfach anzunehmen, ohne die Fakten zu beurteilen. Als Soldaten gehen wir aufs Feld, als Soldaten kehren wir in die Baracken und Zelte zurück. Hier vergisst man, Mensch zu sein. Nur die Liebe erhält die Männer hier am Leben. Das Wissen um eine Familie, um einen Menschen in der Heimat, der auf einen wartet. Auch ich sehne mich nach meiner Familie. Besonders aber nach dir. Auch wenn du mich wahrscheinlich vergessen hast, meine Liebe zu dir bleibt lebendig.

    »Achtung, Kompanie antreten!«, brüllte der Staff Sergeant durch den Erdgang. Rund siebzig Soldaten standen sofort stramm und zwängten sich in Reih und Glied, soweit es im engen Graben möglich war. Plötzlich trabte ein Funker mit zwei Armierern im Schlepptau an und stellte sich vor den Warrant Officer, der die Kompanie inspizieren wollte.

    »Officer, Sir, Durchbruch des deutschen Bataillons bei Chaulnes, rund fünfzig Kilometer von hier. Sie verfügen auch über Kavallerie, Sir. Sie haben unsere halbe Kompanie ausgelöscht. Unsere Leute brauchen dringend Verstärkung.«

    Der Officer, mit sauberer Kaki-Uniform und zwei goldenen Sternen neben der Krone auf dem Abzeichen, blickte düster.

    »Danke, Private. Männer, wir haben in Chaulnes zu tun. Heizen wir den Deutschen ein. Ein kurzer Fußmarsch liegt vor uns. Vielleicht zwei, drei Stunden. Wir schlagen uns durch den Wald vor Chaulnes. Los, fertig machen zum Abmarsch.«

    Die Soldaten rannten mit starrem Ausdruck hintereinander in das Lager. Alle waren stumm. Sie suchten schweigend ihre Habe zusammen und packten sie wortlos an ihren Leib: Mantel, Rucksack, Essgeschirr, Brotsack, Gewehr, Patronentasche, Feuerzeug, Zigaretten. Artilleristen und Pioniere packten Munition und kleine Granaten auf den Pferdewagen. Abmarsch in Zweierreihen. Jimmy hatte sein Büchlein in seiner Futtertasche. Dort konnte es nicht verloren gehen. Er warf einen Blick zurück auf den Munitionswagen, der mit einigem Abstand zur Kompanie hinterherfuhr. Er erinnerte sich. Am ersten Tag der militärischen Ausbildung hatte der Offizier die englische Artillerie vorgestellt. Voller Stolz hatte er quer über das Gelände geschrien: »Die Brigade ist der höchste Artillerieverband. Die fahrende Abteilung mit Kanonen oder Haubitzen besteht aus drei, die reitende aus zwei Batterien. Jede Abteilung besitzt eine leichte Munitionskolonne. Die Gefechtsbatterie besteht aus sechs Geschützen und zwölf Munitionswagen.« Und wozu das alles?, fragte sich Jimmy.

    Mit regelmäßigen Schritten folgte er dem kleinen Soldaten vor ihm. Der Fußweg zog sich durch ein dichtes Waldgebiet, wie es der Offizier vorausgesagt hatte. Zweige und Blätter flogen Jimmy ins Gesicht, ein Durcheinander von Ranken und Brombeergesträuch stellte sich den Soldaten entgegen und riss an ihren Röcken. Da gab es Haselstauden und wilde Kirsche, aufstrebende Stämme und kleines Blattwerk. Plötzlich tat sich unter ihnen eine grüne Schlucht auf, die auf sie wirkte wie das Paradies. Im Flussgebiet der Somme gab es Hunderte von kleinen Bächen und Weihern. Die Vögel zwitscherten, und Jimmy spürte das erste Mal seit Wochen, wie in ihm Freude aufkam, am Leben zu sein. Er blickte nach oben, wo ein Stück blauer Himmel ihn fröhlich anlachte. Plötzlich heulte ein Geschoss über sie hinweg. Es schlug vor ihnen in den Boden ein und tötete einen Soldaten in den vorderen Reihen. Alle warfen sich auf den Boden. Schwarzer Rauch, Heulen und Schreien. Splitter und große Erdbrocken flogen durch die Luft. Jimmy blickte auf. Maschinengewehrschüsse ratterten ihnen entgegen, und er duckte sich schnell wieder. Erneut das Einschlagen von großen Geschossen, Soldatenschreie, diesmal in deutscher Sprache. »Los, zurückziehen, Männer!«, schrie der Offizier, der sich auf die Knie gesetzt hatte. Offenbar war er verletzt worden, denn in seinem Gesicht klebten Blutspritzer. »Zurückziehen!«

    Jimmy erhob sich, lief wie im Fieber mit seinen Kameraden in die entgegengesetzte Richtung und warf sich verzweifelt unter ein dichtes Dornengestrüpp. Kratzen und Reißen im Gebüsch, gleichzeitig das Hämmern und Drängen aus dem Hinterhalt. Adrenalin schoss durch seinen Körper. Er sah sich in Sekundenschnelle um, durchforstete mit seinem scharfen Blick den dicht bewachsenen Landstrich, wie er es in Südafrika gelernt hatte. Er nahm den Geruch des trockenen Bodens war und legte sein Kinn in die Erde. Das war nicht der prickelnde Duft von sandigem afrikanischem Boden, befand Jimmy, das war der Geruch von französischer Erde, Krieg und Tod. Steine stachen ihn in die Haut. Jimmy lauschte seinem Atem. Keine Deutschen zu sehen, nur ein fernes Rattern und ein nahes Rascheln. Jetzt schoss ein Kamerad in Richtung des Knirschens im gegenüberliegenden Gebüsch. Jimmy und seine Kameraden zuckten zusammen. Da, der Helm eines deutschen Soldaten, der unter dem Gefechtsfeuer aus dem Gebüsch fiel und liegen blieb. Sogleich stürzte auch sein Besitzer mit blutender Brust aus dem Dickicht. Zitternd legte Jimmy seine Hände über den Helm. Dann folgte das Donnern eines Maschinengewehrs, Heulen und Schreien. Unvermittelt zischte eine Handgranate ins Gestrüpp und zerbarst. Jimmy verlor die Besinnung.

    [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

    Kopf

    1

    Drei Jahre zuvor

    10. Oktober 1913

    Port Elizabeth, Südafrika

    Der Kies knirschte unter den schmalen Wagenrädern. »Gedulde dich, Carl. Wir sind ja gleich zu Hause«, versuchte Mrs Green, ihren jüngeren Sohn zu beruhigen. Mütterlich tätschelte sie seine Hand, die auf dem ledernen Vordersitz direkt an ihrer Schulter lag. Die Nacht war finster, und das schwache Licht der Automobilscheinwerfer vermochte es kaum, die Dunkelheit am südafrikanischen Kap zu durchbrechen. Wenn sie nur endlich zu Hause wären! Carls Geburtstagsfeier in der Schule hatte etwas länger gedauert als geplant. Mrs Green hatte Kuchen und Tee für die ganze Klasse mitgebracht, danach hatten die Jungs noch Kricket gespielt, bis Mr Green seine Familie abholte. Jetzt sehnte sich seine Frau nach einem erfrischenden Bad und nach Ruhe. Jimmy, Carl und Mr Green, der am Steuer seines Automobils saß, hatten bereits einen Bärenhunger.

    »Hoffentlich wird Sally unseren herrlichen Thunfisch, den wir gestern geangelt haben, nicht versalzen, Jimmy«, witzelte Mr Green mit der Zigarre im Mund. In einer halben Stunde würde es Abendessen geben. Grund genug, sich zu beeilen.

    »Er wiegt zwanzig Pfund, Dad«, sagte Jimmy stolz.

    »Oh, ja. Jetzt gibt es Thunfischsteaks, Thunfischsandwiches und Thunfischsalat – eine Woche lang«, lachte Mr Green, hielt seine Zigarre mit der rechten Hand und spuckte aus. Das moderne Automobil ratterte über die Sandstraße, und Jimmy, der neben seinem Bruder Carl saß, stellte sich vor, wie hinter den schwarzen Wagenrädern der Sand aufwirbelte und sich erst nach einigen Minuten wieder auf die harte Straße legen würde. Dieses Bild – den aufwirbelnden Sand – würde Jimmy immer wieder mit seiner Heimat Afrika in Verbindung bringen, dessen war er sich sicher. Jimmy blickte aus dem offenen Fenster in die Schwärze hinaus. Wird das hier immer mein Zuhause bleiben?, fragte er sich. Entspannt legte er die Hand auf das Knie und ließ den Blick weiter durch die Dunkelheit wandern. Eine dunkle Gestalt bewegte sich von der Seite und mit schnellen Schritten auf das Automobil zu. Jimmy spürte, wie sich sein Herz zusammenzog. Das Getrampel des Tieres war nun deutlich zu hören. Was soll das?, dachte Jimmy und warf sich augenblicklich in den Ledersessel des Wagens zurück. Er wusste, dass sich wilde Tiere normalerweise vor Autolärm und Scheinwerfern ängstigten, dieses jedoch verhielt sich sonderbar.

    »Dad, pass auf!«, schrie Jimmy so laut, dass sein Vater erschrocken auf die Bremse trat und die zwei Brüder auf dem Rücksitz mit dem Kopf gegen den Vordersessel schlugen. Dann krachte es. Jimmy und sein Bruder Carl hörten, wie das Tier aufjaulte und gegen die kleine Windschutzscheibe knallte. Mit lautem Knacken und Klirren schossen ihnen Scherben entgegen. Jimmy und Carl zogen instinktiv die Köpfe ein und drückten sie gegen den Vordersessel. Nach dem Knall blieb es überraschend still.

    »Mam, Dad«, schrien die Jungen, die sich nach dem harten Aufprall aufzurichten versuchten. Jimmy sah, dass auf ihrem Kotflügel ein ziemlich großes Tier lag. Es musste mindestens zwei Meter lang sein, schätzte der Fünfzehnjährige. »Carl«, stieß Jimmy hervor und tastete nach seinem Bruder, »bist du in Ordnung?«

    Carl wimmerte: »Ja, aber was ist mit Mam und Dad?«

    Stille.

    »Mam«, schluchzte Carl und schüttelte den Kopf, um sich von den Scherben zu befreien, die in seinem Haar hingen. Es mussten Hunderte sein; er tastete seinen Kopf nach einer Fleischwunde ab. Tatsächlich, da steckte eine winzig kleine Scherbe in seiner Stirn. Das Blut floss aus der Wunde und tropfte Carl auf die Nase. Jetzt öffnete Jimmy seine Tür, wand sich aus dem Auto und riss panisch die Tür des Fahrers auf.

    »Dad«, rief er in die Düsternis hinein. »Vater!«

    Jimmy schob seinen Kopf in den Wagen hinein.

    »Warum antwortet er nicht?«, jammerte Carl. »Antworte!« Carl gab sich große Mühe, nicht zu weinen, vergeblich.

    »H…hör auf, sei still«, stieß Jimmy ungehalten hervor, da er prüfen wollte, ob sein Vater noch atmete. Er tastete langsam nach dessen Kopf, der zur Seite gewandt auf dem Steuerrad lag.

    Überall auf der Haut seines Vaters spürte Jimmy Glassplitter, sodass er sie langsam und sorgfältig abtasten musste. Während seine Finger über das unbewegliche Gesicht fuhren, wurde ihm klar, dass da überall Blut war. Er legte sein Gesicht an Vaters Nase und versuchte zu erkunden, ob er noch atmete. Carls Wimmern wurde immer lauter. Jimmy hätte seinen Vater gerne wach geschüttelt, wäre gerne aus diesem Albtraum entwichen.

    »D…Dad, los, sag etwas … Dad!«, stotterte Jimmy.

    Sein Vater atmete nicht mehr, das Tier auf dem Kotflügel aber jaulte und brüllte. Wenn es nur nicht die Löwen anzieht, die hier auf den Hügeln liegen, dachte Jimmy bitter. Dieses dumme Vieh!, schrie er innerlich, um Carl nicht zu erschrecken. Voller Wut starrte er auf den Kotflügel. Er glaubte, sein Kopf müsste jeden Moment platzen. In wenigen Minuten würden Löwen und Hyänen das Schreien vernehmen, sie würden sich unverzüglich auf den Weg machen, um das verletzte Tier zu erbeuten. Jimmys Brust pochte. Und was wurde dann aus ihnen? Angst stieg in ihm hoch. Er zog den Kopf aus dem Wagen und tastete sich hastig in der Dunkelheit an dem beschädigten Kotflügel, auf dem das Tier lag, entlang. Der erhitzte Leib begann unter Jimmys Händen zu strampeln und zu brüllen, rutschte vom Metall und stieß hart auf den Boden, wo das Tier erschöpft liegen blieb. Mutter, dachte Jimmy. Ist sie etwa auch tot?

    »Jimmy, lebt Dad noch?«, fragte Carl, der immer noch wimmerte und sich nicht von der Stelle gerührt hatte. »Jim…«

    »Sei still«, entfuhr es Jimmy erneut. Er hatte die Vordertür erreicht, zerrte wie verrückt an dem metallenen Türgriff, der noch warm vom Tag war, und tastete eilig nach seiner Mutter.

    »Mutter, bitte sag was«, flehte er, außer sich vor Angst.

    Jimmy stöhnte erleichtert auf, als er hörte, wie sie atmete.

    »Hast du Schmerzen, Mutter? Sprich mit mir, bitte!« Hinten im Auto begann Carl zu weinen, diesmal aus Erleichterung. Jimmys Hände zitterten, als er nach dem Gesicht der Mutter tastete. Laut betete er: »Herr, bitte, lass sie leben. Lass sie am Leben.«

    »Ich bin noch da«, flüsterte sie ihrem Sohn ins Ohr, aus dem warmes Blut auf ihr Kleid tropfte. Sie fasste nach dem Gesicht ihres Jungen und strich beruhigend darüber, auch wenn im Dunkeln nur die Umrisse zu erkennen waren.

    »Mam, Dad atmet nicht«, flüsterte er, »was sollen wir tun?« Nun versuchte die Mutter, den Kopf anzuheben und ihrem Sohn etwas zuzuflüstern. Anhand ihrer schemenhaften Bewegungen erriet Jimmy, was sie vorhatte.

    »Hol Hilfe, James, und sag Carl nichts.« Aufgewühlt fasste sich Jimmy an die Stirn, die klebrig und nass war. Bisher hatte er nicht bemerkt, dass er sich eine Verletzung zugezogen hatte.

    »Carl, ich muss Hilfe holen, du bleibst bei Mama«, rief er seinem Bruder auf dem Rücksitz zu.

    »Und was ist mit Vater? Dad!«, schrie Carl nun verzweifelt durch den Wagen. Hinter ihnen raschelte es im Gehölz, sodass alle nervös aufhorchten.

    »Jimmy«, sagte seine Mutter, »wir haben hinten im Wagen ein Gewehr. Nimm es und lauf zurück nach Port Elizabeth. Gib Mr Jennings Bescheid, dass wir einen Unfall hatten. Bestimmt findest du ihn im Wirtshaus. Oder geh direkt zur Polizei. Und denk dran, lauf nie durch hohes Gras, nur die Straße entlang.«

    Jimmy wusste, wovon seine Mutter sprach. Im hohen Gras lauerten die Löwen, die nachtaktiv waren. Als Neunjähriger hatte er einmal mit Carl weitab vom Haus Verstecken gespielt. Als sie ins hohe Gras geraten waren, wo man die besten Verstecke fand, hatten sie ein Rudel Löwen beim Fressen aufgeschreckt. Die Weibchen waren aufgesprungen und hatten Carl und Jimmy bis zu ihrem Haus verfolgt. Als Carl die Treppe hinaufrennen wollte, fiel ihn eine Löwin von hinten an und zerkratzte ihm den Unterschenkel, sodass er schreiend liegen blieb. Durch den Lärm aufgeschreckt, war Mr Green mit dem Gewehr aus dem Haus gerannt und hatte die Löwin geistesgegenwärtig erschossen.

    Nicht ins hohe Gras, dachte Jimmy. Jetzt musste er alles richtig machen. Schließlich war er bereits fünfzehn Jahre alt. Alt genug also, Verantwortung für seine Familie zu übernehmen. Besonders, weil Vater das nun nicht mehr kann, schluckte Jimmy und spürte dabei einen dicken Kloß im Hals.

    »Mutter, soll ich euch ein Feuer machen?«, rief er von hinten über die Autositze hinweg nach vorne, seiner verletzten Mutter zu.

    »Ja, sei so lieb.« Sie wussten beide, dass das Feuer die wilden Tiere nicht lange davon abhalten würde, sie anzugreifen. Jimmy nahm das Feuerzeug aus dem Kofferraum, das für solche Notfälle bereitgelegt worden war, brach neben der Straße Äste aus dem Gebüsch und entzündete das trockene Holz, das sogleich in hohen Flammen aufging. Jimmy war nicht entgangen, dass das Feuer im Umkreis von zehn Metern Licht auf die Umgebung warf. Sein Blick fiel deshalb instinktiv auf den Vordersitz, wo sein Vater saß. Jimmy rang nach Luft, als er sah, wie der Kopf seines Vaters blutüberströmt auf dem breiten Steuerrad lag. Eine unheimliche Stille umgab den toten Mann, der vor wenigen Minuten noch lebendig gewesen war. Seine Arme hingen leblos an ihm herab, der Mund stand offen, wobei sich das Blut wie ein Tuch über den Kopf legte und das Gesicht im schwachen Schein des Feuers zu einer schlecht erkennbaren Fratze formte. Jimmy sog scharf die Luft ein, hielt seine Tränen zurück und schritt auf das Auto zu. Die Mutter hatte Glassplitter im Haar. Ihr Gesicht war unversehrt, sie musste jedoch eine offene Wunde oberhalb des Haaransatzes davongetragen haben, denn Blut rann ihr über die hohe Stirn. Selbst im warmen Licht des Feuers wirkte ihr Gesicht sehr blass. Jetzt nickte seine Mutter, um ihn zu ermutigen. Jimmy packte das Gewehr, das er bis dahin in der linken Hand gehalten hatte, auf den Rücken.

    »Kannst du aussteigen, Mutter?«, fragte er.

    »Ja«, gab sie zögernd zur Antwort.

    »Dann leg bitte Holz nach«, sagte Jimmy und griff dabei an die Beifahrertür. Also doch eine Oryx-Antilope, dachte Jimmy, als er kurz auf den Boden vor dem Auto sah. Das Tier schrie nun noch lauter. Es musste schreckliche Schmerzen verspüren.

    »Wenn das Vieh nicht aufhört zu heulen, sind die Hyänen in spätestens zehn Minuten hier«, sagte Jimmy nachdenklich, und seine Mutter sah ihn fragend an.

    »Wirst du damit fertig, Jimmy?«, wollte ihr Blick wissen.

    Jimmy schritt um den Wagen herum, beobachtete das Tier, das sich auf dem Boden wand. Es musste beim Aufprall beide Beine gebrochen haben. Nun kniete er sich vorsichtig hin und fuhr ihm über den Hals. Er war heiß, nass und zitterte. Das Tier litt unerträgliche Schmerzen. Jimmy erhob sich eilig, griff nach dem Gewehr auf seinem Rücken, lud es, hielt den Lauf gegen den Kopf des Tieres und drückte ohne zu zögern ab. Der Schuss blieb bestimmt nicht ungehört. Er würde die wilden Tiere für einige Zeit fernhalten. Jimmy zitterte, weinte still und schnallte sich das Gewehr auf den Rücken.

    »Ich bin in spätestens drei Stunden zurück, Mam«, sagte er zu seiner Mutter, die sich nun auf den Rücksitz zu Carl gesetzt hatte, um ihren Jungen zu trösten. Nach kurzem Zögern antwortete sie ihm mit unsicherer Stimme.

    »Geh, Jimmy, und Gott segne dich!«

    Jimmy nickte und blickte in ihr Gesicht. Sie lächelte bemüht, doch er bemerkte, dass sie große Angst hatte. Carl drückte sich wie ein kleiner Junge an sie.

    »Lauf, Jimmy!«

    Jimmy schnappte sich einen brennenden Ast aus dem Feuer und hielt ihn vor sich. Dann lief er los.

    [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

    Kopf

    2

    Mit schnellen Schritten lief Jimmy in die Dunkelheit hinein. Er kannte den Weg von Port Elizabeth zu seinem Zuhause fast auswendig. Schon tausendmal war er mit seinem Rad den steinigen roten Weg zur Schule gefahren. In all den Jahren, die er in Afrika aufgewachsen war, hatte er gelernt, sich vor allem eins einzuprägen: die Umgebung.

    »Wenn du in Afrika den Weg nicht mehr findest, Junge, dann findet dich die Wildnis. Und denk dran, sie ist unbarmherzig«, hatte ihn Farmer Jones von der Tregathlyn Game Farm gewarnt. Eine Farm, die in rund fünfhundert Metern Entfernung von Jimmys Elternhaus stand und die sie als Kinder oft besucht hatten. Jones war der beste Freund seines Vaters, der Unternehmer im Autohandel war. Oh, Dad Lauf, lauf!, befahl sich Jimmy in seinem Innern. Seine Beine flogen. Nach dreißig Minuten keuchte er schwer, Schweiß lief ihm über die Stirn. Die provisorische Fackel war bereits weit heruntergebrannt, und Jimmys Finger wurden allmählich warm vom nahenden Feuer. Jetzt nur nicht den Mut verlieren. Das Gewehr klebte ihm mitsamt dem nassen Hemd am Rücken. Lauf, Jimmy. An diese Worte klammerte er sich, hielt sie vor sich wie einen Schild. Lauf. Der Sand knirschte unter seinen schnellen Schritten. Aus weiter Entfernung vernahm Jimmy Löwengebrüll. Kam dieses Gebrüll aus dem nahe gelegenen Naturreservoir? Lauf, Jimmy. Bis Motherwell, einem Vorort von Port Elizabeth, waren es etwa zwölf Kilometer. Ich schaffe es. Ich schaffe es. Die Dunkelheit um ihn herum schien plötzlich nicht mehr undurchdringlich. Doch der Gedanke, seine Mutter und Carl nicht vor den wilden Tieren schützen zu können, war unerträglich.

    Allmählich erkannte er den Weg vor sich, begann Grautöne zu unterscheiden, konnte in einiger Entfernung Akazienbäume ausmachen, die sich in den Himmel hineinreckten. Jimmy wusste, dass er weitermusste, obwohl es nachts auf der Landstraße äußerst gefährlich war. Vater ist tot, dachte Jimmy. Vater. Immer wieder von Neuem blitzte das Wort in seinem Kopf auf, als wäre es der alleinige Antrieb, um weiterzulaufen, nicht aufzugeben in dieser endlosen Nacht. Nicht einmal die Einheimischen trauten sich nachts in die Steppe. Und Weiße schon gar nicht. Ihm war klar, dass die Tiere das Blut seines toten Vaters, seiner Mutter schon bald riechen und das Gejammer von Carl hören würden. Hoffentlich legt Mutter Holz nach, ging es Jimmy durch den Kopf. Nicht die Löwen, die Hyänen waren hier eine große Plage. Dadurch, dass reiche Großwildjäger aus Europa die Löwen fast ausgerottet hatten, gab es nun viel mehr Hyänen. Ihr natürlicher Feind fehlte, sodass sie sich ungehindert vermehren konnten. Jimmy stolperte, fing sich aber schnell wieder und lief weiter. Und wenn die Hyänen das Aas der Antilope riechen, finden sie Vater, Mam und Carl. Herr, hilf mir, bitte! Jimmy fuhr sich über die nasse Stirn. Das Gewehr, das im Rhythmus seiner Schritte auf und ab hüpfte, wog schwer

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