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Ehrenmord in Amerika: Hass und Begehren unter Männern
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eBook364 Seiten5 Stunden

Ehrenmord in Amerika: Hass und Begehren unter Männern

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Über dieses E-Book

Eine Serie von Morden an schwulen Männern erschüttert die Vereinigten Staaten. David McConnell untersucht die Gründe für den Hass, der diese Verbrechen möglich macht. Er zeichnet intime Porträts der Täter, die ebenso schockieren wie faszinieren. Anhand bisher unbekannter Details und Fakten sowie beeindruckender Gefängnisinterviews arbeitet der Autor die grausamen Fälle minutiös auf. Die so entstandenen Geschichten sind verstörend wie die Taten, die ihnen zugrunde liegen. Mit eindringlicher Präzision und einer bisweilen unheimlichen Unbeschwertheit verwandelt McConnell die untersuchten Kriminalfälle in atemberaubende Literatur.
SpracheDeutsch
HerausgeberBruno-Books
Erscheinungsdatum27. Juni 2015
ISBN9783867878883
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    Buchvorschau

    Ehrenmord in Amerika - David McConnell

    Für Edmund White

    Vorwort des Autors

    Vielleicht ist es von Interesse, wie ich bei der Recherche und beim Schreiben dieses Buches vorgegangen bin. In den ersten Kapiteln konzentriere ich mich auf Fälle, die ein breites Medienecho gefunden haben. Keine Darstellung tatsächlicher Begebenheiten kommt ohne die Verwendung literarischer Techniken aus, doch geht es mir nicht darum, meiner Fantasie freien Lauf zu lassen. Vielmehr glaube ich, dass ihre Fiktionalisierung zu einem besseren Verständnis der Fakten führen kann. Unredlich wäre es allerdings, die investigative Arbeit, die andere geleistet haben, als meine eigene auszugeben. Wo immer ich mich auf die Ergebnisse anderer stütze, sind die Quellen angegeben. Hervorzuheben sind, was den Fall der Williams-Brüder betrifft, eine Reihe von Artikeln, die Sam Stanton und Gary Delsohn für die Sacramento Bee und den Salon verfasst haben. Über den Mord an Billy Jack Gaither hätte ich ohne die Sondersendung von News 20/20 (ABC) und einen für Frontline produzierten Fernsehbeitrag nicht schreiben können. Für die Darstellung des Schmitz/Amedure-Falls konnte ich nicht nur auf eine Vielzahl von Zeitungsberichten zurückgreifen, sondern auch auf die Gerichtsreportagen des Senders Court TV. Viele dieser Berichte und Reportagen enthalten Unstimmigkeiten, und das gilt für andere ebenso. Doch habe ich, bei aller Kritik an Auswahl, Gewichtung und Interpretation der Fakten, nicht vergessen, wie viel ich den umfangreichen Vorarbeiten meiner Kollegen zu verdanken habe. Wenn ich diesen und andere Fälle in mein Buch aufgenommen habe, so deswegen, weil ich hoffte, ihren Erkenntnissen mehr hinzufügen zu können als ein paar schöne Worte.

    Vielen Fällen aus jüngerer Zeit ist weit weniger Aufmerksamkeit zuteil geworden. Obwohl ich mich auch hier auf öffentlich zugängliche Informationen stützen konnte, beruhen die entsprechenden Kapitel größtenteils auf eigenen Recherchen. Jeden der vielen Schauplätze, die im Buch erwähnt werden, habe ich selbst aufgesucht (mit Ausnahme einiger weniger in Nordkalifornien und Idaho, die im Fall Williams eine Rolle spielen). Ich habe mich bemüht, jedes Zitat, jedes Detail wahrheitsgemäß wiederzugeben, nach bestem Wissen und Gewissen. Wo meine Deutung über die gesicherten Fakten hinausgeht, ist dies kenntlich gemacht.

    Gelegentlich erschien es mir sinnvoll, die Ereignisse aus Sicht der Beteiligten darzustellen. Wenn im Text davon die Rede ist, jemand habe dieses oder jenes »gedacht« oder »gefühlt«, stütze ich mich in der Regel auf Interviews, die ich und andere mit den Beteiligten geführt haben. Wo dies nicht der Fall ist, handelt es sich um literarische Spekulationen, die jeweils als solche ausgewiesen sind.

    In der Danksagung im Anhang finden Sie nähere Angaben zu meinen Informanten; sie sind, ebenso wie die Autoren der wichtigsten schriftlichen Quellen (soweit sich die Verfasser feststellen ließen) namentlich angeführt. Sollten Sie sich näher für mein Quellenmaterial interessieren, können Sie eine kleine Auswahl auf der Webseite zum Buch finden, americanhonorkillings.com. Auf meiner eigenen Webseite, davidmcconnell.com, habe ich zu jedem Kapitel ein kommentiertes Dossier mit Fotografien, Links und Dokumenten zusammengestellt.

    1 – Einleitung: Männer und Männlichkeiten

    Als Kind hatte ich große Angst vor einer bestimmten Seite meines Lexikons, einer Farbtafel, auf der verschiedene Wespen- und Bienenarten abgebildet waren. Beim Durchblättern des Buches wusste ich stets, wo die Insekten auf mich warteten; schon Seiten zuvor hielt ich mir die Augen zu und zwang mich dann doch weiterzublättern. Das Lexikon war sehr alt, doch ließ das brüchige, halbdurchsichtige Schutzblatt, unter dem die Bilder nur schemenhaft zu erkennen waren, die Insekten noch furchteinflößender erscheinen. Dass es sich bloß um Abbildungen handelte, beruhigte mich keineswegs. Für mich spielte der Unterschied zwischen Abbildung und Wirklichkeit keine Rolle, und die intensive Angst, die ich beim Anschauen empfand, übte eine derart starke Faszination auf mich aus, dass ich immer wieder zu meinem Lexikon greifen musste. Legte ich es darauf an, meine Fingerspitzen dem Stachel dieser monströsen Insekten auszusetzen? Eingestehen wollte ich mir das nicht.

    Auch von den Geschichten, die in diesem Buch geschildert werden, habe ich mich zugleich angezogen und abgestoßen gefühlt. So beunruhigend und brutal sie sind, ich empfand den Drang, so viel wie möglich über sie in Erfahrung zu bringen, und ich habe mich bemüht, in meiner Darstellung genauso präzise und informativ zu sein wie jener Grafiker in meinem Lexikon. Nur hat mein Thema den Nachteil, dass es sich nicht durch Zuschlagen des Buches zum Verschwinden bringen lässt. Denn mein Thema sind Männer, ihre Ängste und die Gewalt, zu der sie fähig sind.

    Im Zuge der Recherchen für dieses Buch ist mir klar geworden, dass man über Gewalt zwischen Männern nur schreiben kann, wenn man nach dem Verhältnis von Gewalt und Sexualität fragt. Schon die Alltagserfahrung lehrt, dass alles, was sich zwischen Männern abspielt, Freundschaften, Rivalitäten, aber eben auch Morde, in sexuelle Metaphern gekleidet ist. Wenn Männer, um die Oberhand zu gewinnen, um sich besser in Szene zu setzen, andere Männer beschimpfen und beleidigen, braucht man nach sexuellen Untertönen nicht umständlich zu suchen. Wir wissen nur zu gut, was das alles mit Konkurrenzverhalten, mit Aggression und Gewalt zu tun hat. Dennoch schrecken wir häufig davor zurück, über die Implikationen sexualisierter Sprache nachzudenken.

    Ich habe einen Bekannten, der sich in einem betont maskulinen Milieu bewegt; als dieser Bekannte zu einem Abendessen ausnahmsweise nicht nur seine Kollegen, sondern auch einen schwulen Freund einlud, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: »Mir war überhaupt nicht bewusst, dass wir uns andauernd über Schwulitäten unterhalten.« Aufgefallen war ihm das nur, weil er sich durch die Anwesenheit seines schwulen Freundes seltsam befangen gefühlt hatte.

    Auch für mich gab es, beim Schreiben dieses Buches, einen solchen Moment plötzlicher Einsicht. Wenn das Aufeinandertreffen heterosexueller und schwuler Männer so oft zu Konflikten führte (und in diesen Fällen zu Mord) – war ich hier vielleicht auf etwas gestoßen, das schlaglichtartig den verdrängten Zusammenhang von Männlichkeit und Gewalt erhellte? Metapher und Wirklichkeit, hingen sie nicht enger miteinander zusammen, als man sich gemeinhin eingestand?

    Vielleicht wird dieses Buch bei einigen Lesern Ekel oder Aversionen auslösen, nicht nur wegen der heiklen Thematik. In diesen Geschichten geht es um Männer, von denen rund die Hälfte (und der weit überwiegende Teil der Opfer) schwul sind. Doch so schwer es fallen mag, diese einfache Tatsache zu akzeptieren: Was Männlichkeit ist, lässt sich nur verstehen, wenn man die Erfahrungen homosexueller Männer berücksichtigt; die Geschichten, die in diesem Buch erzählt werden, werden nur dann verständlich, wenn man Homosexuelle nicht länger aus der Geschichte der Männlichkeit ausklammert. Es gibt viele verschiedene Arten von Männern; aber alle gehören sie derselben Gattung, der Gattung Mann an.

    Immer noch sind Schwule längst nicht überall gesellschaftlich akzeptiert. Wenn sich die Geschichten, die ich erzähle, so nur in den USA oder einem anderen westlichen Land abspielen konnten, dann deswegen, weil Schwule hier mit einer gewissen Selbstverständlichkeit am öffentlichen Leben teilhaben. Dennoch hat mir die Arbeit an diesem Buch immer wieder gezeigt, dass es eigentlich um uralte Fragen geht – um Fragen, die mit der langen Geschichte der Männlichkeit verflochten sind und weit über den Horizont unseres Jahrzehnts oder Jahrhunderts und seiner vergleichsweise emanzipierten Moralvorstellungen hinausreichen.

    Ich schreibe in diesem Buch über Mord, weil ich glaube, dass es wichtig ist, auch die unangenehmen Seiten dieser widersprüchlichen Geschichte auszuleuchten. Dabei habe ich mich bewusst für eine nüchterne Erzählweise entschieden. Deutungen beschränken sich auf ein Minimum; die Sprache des Buches ist direkt, manchem vielleicht zu direkt. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Fälle, von denen ich berichte, jüngeren Datums. Doch verweisen sie alle auf etwas, das weit in die Vergangenheit zurückreicht, etwas, das unausgesprochen bleiben musste. Die Schauplätze und gesellschaftlichen Umstände wechseln, und dasselbe gilt für das sexuelle Selbstverständnis der Beteiligten und die konkreten Mordmotive. Doch genau darauf kam es mir an. Denn weder wollte ich ein politisches Pamphlet schreiben, noch den Gerichtsmedizinern ihre Arbeit abnehmen. Mir ging es darum, die Wirklichkeit so lebensnah wie möglich zu schildern; und eben deswegen habe ich einen literarischen, keinen wissenschaftlichen Zugang gewählt.

    Heterosexuelle Männer werden in diesem Buch nicht ganz so respektvoll und behutsam behandelt, wie sie es (und wahrscheinlich, ohne sich dessen bewusst zu sein) immer noch erwarten. Das weit verbreitete Bild des Mannes als tollpatschiger Trampel ist, wie ich vermute, Ausdruck eines Gefühls der Machtlosigkeit. Und auch ein anderes Klischee, der Mann als gefühlloser Brutalo, dürfte seinen Ursprung in der Wut der Machtlosen auf die Mächtigen haben. Doch wiewohl solche Karikaturen weit verbreitet sind, haben sich heterosexuelle Männer in ihrer gesellschaftlichen Machtposition einrichten können. Sie sind es gewohnt, dass über ihr wahres Ich, über ihre Schwächen, ihre Ängste, ihre Körper und Komplexe ein Mantel des Schweigens gebreitet wird. Wo es darauf ankäme, wird über Männer nur mit der größten Diskretion gesprochen; Männlichkeit ist, zumindest in manchen Kulturen, der Inbegriff katzenhaft entrückter, unantastbarer Würde. Es ist mithin kein Zufall, wenn Vorstellungen, die mit Ehrgefühl, mit einem Gefühl von Würde und der Unantastbarkeit der eigenen Person zu tun haben, eine bedeutende Rolle auch in den Fällen spielen, die in diesem Buch geschildert werden. Hätte ich mich beim Schreiben von denselben Ehrbegriffen leiten lassen, wäre es mir unmöglich gewesen, zum Kern dieser Geschichten vorzustoßen.

    Wenn mich die Befindlichkeiten heterosexueller Männer eher kalt lassen, bedeutet das freilich nicht, dass ich die Mythen schwuler Aktivisten mit Samthandschuhen anfassen würde. Anders als im pädagogisch wertvollen Hollywoodfilm sind die schwulen Männer, die in diesem Buch auftreten, nicht durchgehend die Antithese schwuler Klischees. Einige scheinen ein nachgerade übertrieben stereotypes Leben zu führen, das manchen abgeklärten Hetero dazu bringen dürfte, indigniert die Nase zu rümpfen. Nicht, weil es sich um Homosexuelle handelte (denn wen kümmert das schon), sondern weil es so abgeschmackt wirkt.

    Aktivisten und Anwälte verwenden gerne Begriffe wie »hate crimes« und »gay panic defense«, um Gewalttaten gegen Schwule zu erklären. Das Motiv für die Tat hat dann wahlweise ein diffuser Schwulenhass oder aber das panische Umsichschlagen zu sein, mit dem heterosexuelle Männer zwangsläufig auf Annäherungsversuche von Männern reagieren. Nun mögen diese Begriffe, als erster Ansatzpunkt für weitergehende Überlegungen, ihren Zweck durchaus erfüllen. Nur treffen sie, meiner Ansicht nach, nicht, worauf es eigentlich ankommt (und das nicht zuletzt deswegen, weil in den hier geschilderten Fällen sehr unterschiedliche Typen von Männern, in sehr unterschiedlichen Situationen aufeinandertreffen). Dabei geht es mir nicht darum, eine bestimmte politische Position zu verfechten; vielmehr ist es mein Anliegen, die allgemein menschliche Dimension dieser Gewalttaten in den Blick zu rücken. Auch deswegen habe ich mich für den etwas exotischen Begriff »Ehrenmord« entschieden, denn diese Bezeichnung kommt, so fragwürdig das klingen mag, dem Motiv dieser Gewalttaten am nächsten. Die amerikanische Gesellschaft ist kein Geflecht von Clans, Stämmen oder Großfamilien, sondern besteht aus Individuen, die sich aufgrund geteilter Überzeugungen und Werte zu größeren Gruppen zusammenschließen. Die Träger männlichen Ehrgefühls sind, in ihrer Zugehörigkeit zu religiös oder ethnisch definierten Gemeinschaften, Einzelpersonen – Einzelpersonen allerdings, die sich darin gleichen, dass sie Homosexualität, die Missachtung der Regeln des Anstands und den Verfall der guten Sitten als denkbar schwerste Bedrohung ihrer Ehre empfinden. Die Mörder, um die es mir geht, gerieten nicht deswegen außer sich, weil sie angemacht wurden. Vielmehr verstanden sie sich als rächende Glieder einer kämpfenden Kirche, als Statthalter und Siegelbewahrer einer bedrohten Männlichkeit.

    Auslöser der Gewalt war in all diesen Fällen jene dunkle, explosive Spannung, wie ich sie an jungen Männern (und nicht zuletzt auch an mir) immer wieder beobachtet habe. Ursache dieser Spannung dürfte ein anhaltendes und tiefgehendes Gefühl der Verunsicherung sein: Man befürchtet, kein richtiger Mann zu sein, als unmännlich oder schwul zu gelten – oder es, schlimmer noch, tatsächlich zu sein. Befördert werden solche Ängste vielfach durch ein Übergewicht religiös oder kulturell verankerter Verhaltensmaßregeln, durch Gebote, die einem immer wieder eingehämmert werden, und die Sorge, dass es bei Wegfall derselben nichts mehr gäbe, was einen vor der Fahnenflucht, vom Geschlechtsverkehr mit einem anderen Mann abhalten könnte. Was dann zur explosiven Entladung drängt, ist das Gefühl der Ratlosigkeit, ist die Wut über das eigene Verunsichertsein. Manchmal schlägt diese Spannung um in eine Art panischer Angst vor Verunreinigung, vor Berührung mit dem, was junge Männer, die hart daran arbeiten, ihren Platz in der Welt zu finden, für eine Bedrohung ihrer eigenen Identität halten. Wie die Kriminalpsychologin Karen Franklin argumentiert, fürchten sie die Erosion eben jener Traditionen, auf deren Aneignung sie so große Mühe verwendet haben. Kehrseite dieser Angst ist ein unkontrollierter Hass auf gesellschaftlich marginalisierte Gruppen, von denen man meint, dass sie die öffentliche Ordnung gefährden, Gruppen, von denen man sich mit allen Mitteln zu distanzieren versucht, weil man befürchtet, ansonsten mit ihnen verwechselt werden. Solche Gefühle kennen wir alle, Frauen und homosexuelle Männer eingeschlossen. Aber sie betreffen vor allem junge Männer, ob sie nun homo- oder heterosexuell sind, und sie sind immer dort mit im Spiel, wo es zu Gewalttaten kommt.

    Doch will ich gar nicht so tun, als ginge es bei diesen Geschichten nicht auch um Fragen der sexuellen Orientierung. Was aber besagt es, wenn man Gewalttaten auf die Angst vor schwulen Avancen zurückführt? Das Argument, dass die Täter kaum anders als panikartig auf entsprechende Annäherungsversuche reagieren konnten, gehört (unabhängig davon, ob Richter sie teilen) zu jenen eingeschliffenen Denkfiguren, die immer dann ins Spiel gebracht werden, wenn es in Konflikten zwischen heterosexuellen und homosexuellen Männern zu Gewalttaten kommt. Die Geschichte geht dann ungefähr so: Ein Perverser hat sich an einen anständigen, jungen Amerikaner herangemacht und bei ihm, verständlicherweise, Schock und Empörung ausgelöst, starke Gefühle, die mit trauriger Notwendigkeit zu jener schrecklichen Gewalttat und dem anschließenden Tod des Perversen führen mussten.

    Der weit verbreitete Glaube, dass von panischer Angst vor Schwulen nur der befallen wird, der seine Homosexualität unterdrückt, ist falsch. Doch liegt genau diese Vorstellung dem Begriff »Homosexuellenpanik« zugrunde. Erstmals verwendet wurde er in einem Artikel, der 1920 in der Zeitschrift Psychopathology erschien. In diesem Artikel analysiert Edward J. Kempf psychische Probleme von Soldaten, die sich einem lähmenden Konflikt zwischen homosexuellem Begehren und heterosexuellen Normen ausgesetzt sahen. Aber die von Kempf beschriebenen Fälle haben nur wenig gemein mit der Verteidigungsstrategie, Mandanten unter Verweis auf ihre selbstverständliche, panische Angst vor Schwulen von der vollen Verantwortung für ihre Taten zu entlasten.

    Gleichlautende Einlassungen gehören wahrscheinlich schon lange zum Repertoire von Anwälten. Explizit jedoch wurde dieses Argument erstmals 1967 vorgebracht, in der Sache The People v. Rodriguez, einem Fall, der in Kalifornien zur Verhandlung kam, als in den Medien gerade über die ersten Anfänge der Schwulenbewegung berichtet wurde. Der Beklagte, Rodriguez, hatte sich draußen mit Freunden getroffen, von denen einer soeben einen Handtaschendiebstahl begangen hatte. Als dann ein älterer Herr in der Seitenstraße, in der sie sich aufhielten, nach dem Rechten sehen wollte, wurde er von Rodriguez zuerst bedroht und dann mit einem Ast niedergeschlagen, sodass er wenig später seinen Verletzungen erlag. Vor Gericht behauptete Rodriguez, dass er gerade damit beschäftigt gewesen sei, sein Wasser abzuschlagen, als sich der ältere Herr von hinten genähert, ihn angefasst und nach seinem Penis gegriffen habe. Die Geschworenen glaubten ihm kein Wort.

    Während der 70er gab es ein paar weitere Versuche dieser Art (People v. Parisie 1972, State v. Thornton 1975 sowie Commonwealth v. Shelley 1978), ins öffentliche Bewusstsein jedoch gelangte die »gay panic defense« erst sehr viel später. 1995 kam es, anlässlich des sogenannten »Jenny Jones«-Mordes, zu einer breiten öffentlichen Diskussion über »Schwulenpanik«, die wieder aufwallte, als in einer Reihe von Gerichtsverfahren zwischen 1998 und 1999 mit demselben Argument versucht wurde, dem Opfer die Schuld dafür zuzuschieben, dass es einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Zu diesen Verfahren gehörte auch der Prozess gegen den Mörder von Matthew Shepard (wobei der Richter, in diesem Fall, das Argument nicht zuließ).

    Historisch gesehen gibt es für diese Art Verbrechen nur ein sehr schmales Zeitfenster. Denn Schwulenpanik konnte es erst geben, nachdem »schwul« zu einem identitätsbestimmendem Merkmal wurde, und folgt man den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft, dann war dies vor dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert nicht der Fall (der genaue Zeitpunkt ist umstritten). Erst seit vergleichsweise kurzer Zeit ist (zumindest theoretisch) denkbar, dass junge Männer allein deswegen in Panik geraten, weil sie fürchten, für homosexuell gehalten zu werden – und nicht, weil sie Angst vor Verführung oder Vergewaltigung hätten. Doch wird sich dieses Zeitfenster, wie es scheint, bald wieder schließen. Denn Verbrechen aus Schwulenangst kann es nur solange geben, wie die Allgemeinheit Schwulsein für etwas derart Schreckliches hält, dass damit verbundene Ängste nur allzu verständlich sind. Und es scheint, als zeigten Richter und Geschworene immer weniger Verständnis für gewalttätige Angstreaktionen.

    Zumindest für die Vereinigten Staaten ist absehbar, dass sich Gewalttäter nicht mehr lange auf »Schwulenangst« werden berufen können. Dies dürfte nicht zuletzt auch daran liegen, dass die Erfahrung, die der Begriff schlicht zu benennen vorgibt, im Aussterben begriffen ist. Schwulsein ist nicht länger das Stigma, das es einmal war. Ein junger Mann, der mit Wut und heiligem Zorn auf das Begehren eines anderen reagiert, wird, zumindest unter aufgeklärten Menschen, nicht länger mit einem verständnisvoll wissenden Nicken belohnt. Doch sind, fürchte ich, die Dinge, um die es mir in diesem Buch geht, von solchen Veränderungen gänzlich unberührt. Selbst wenn »Schwulsein« plötzlich zu etwas würde, für das sich kein Mensch mehr interessierte, über das sich niemand mehr aufregte, das gesellschaftlich irrelevant wäre, müsste ich an dem Geschriebenen so gut wie nichts ändern. Denn in diesem Buch geht es um junge Männer und ihre nützlichen Selbsttäuschungen, um Stolz und Angst, Arroganz und Ignoranz, Wut und Dummheit.

    Wenn man so will, spielen meine Geschichten bereits in einer Zeit nach Ende der Schwulenpanik. Denn die Morde in diesem Buch passen nicht in dieses Schema, dafür sie sind zu kompliziert, zu atavistisch. Ich nenne sie »Ehrenmorde«, weil es um Ehre geht, um Männlichkeit und Begehren. Selbstverständlich bekommt das Wort Ehre, sobald es im Zusammenhang mit »Ehrenmorden« verwendet wird, einen negativen Beigeschmack; man hat den Eindruck, es mit einer Perversion des Ehrbegriffs zu tun zu haben. Doch sollte man nicht vergessen, dass es, im neunzehnten Jahrhundert, ohne eine Kritik am überkommenen Ehrbegriff, nie zur öffentlichen Ächtung des Duells gekommen wäre. Und sieht man sich an, mit welchen Vorstellungen sich Sex auch heute noch verbindet, dann erinnern die Taten, um die es in diesem Buch geht, nicht von Ferne nur an Duelle.

    Unter all den Fällen, mit denen ich mich befasst habe, gab es nur einen, den ich für einen authentischen Fall von Schwulenpanik halten würde, den »Jenny Jones«-Fall von 1995. Jonathan Schmitz war ein psychisch labiler junger Mann; schon zweimal hatte er versucht, sich das Leben zu nehmen. Scott Amedure hatte sich in ihn verliebt und beschlossen, ihm das auf eine Weise zu zeigen, die in romantischen Komödien als besonders »süß« gilt. Aber wie viele Frauen nur allzu gut wissen, verträgt nicht alles, was im Kino zum Träumen einlädt, die Übertragung von der Leinwand in die Wirklichkeit. Zusammen mit einer Freundin hatte Amedure Schmitz dazu gebracht, mit ihnen in der Jenny Jones Show aufzutreten. Während der Aufzeichnung der Sendung, einer beliebten Nachmittagstalkshow, gestand Amedure Schmitz dann seine Liebe. Einige Tage lang versuchte Schmitz, sich mit dem, was er als öffentliche Bloßstellung, als Blamage empfunden hatte, abzufinden. Doch irgendwann hielt er es nicht mehr aus – er geriet, wenn man so will, in Panik, erschoss Amedure mit einer Schrotflinte, meldete sich bei der Polizei und legte noch am Telefon ein umfassendes Geständnis ab.

    Das öffentliche Interesse am »Jenny Jones«-Fall war groß. Die Medien überschlugen sich, gleich mehrere Sender berichteten Tag für Tag aus dem Gerichtssaal. In Folge der intensiven Berichterstattung entstand bald der trügerische Eindruck, dass man alles, was es über diesen Fall zu wissen gab, bereits wusste. Jeder neuen Entwicklung, jedem neuen Detail wurde eine kurze Zusammenfassung des bisher Geschehenen vorausgeschickt, und mit jedem Prozesstag wurden die Zusammenfassungen kürzer und formelhafter. Nachdem ich beschlossen hatte, über diesen Fall zu schreiben, war ich natürlich gezwungen, mich noch einmal mit all diesen, scheinbar längst bekannten Fakten zu befassen. Das Ergebnis war vollkommen unerwartet.

    Statt sich mit dem Fall auseinanderzusetzen, ergingen sich die seriösen Zeitungen bald schon in moralisierenden Klagen über das Unterschichtsfernsehen. Und wie so oft wurde auch in diesem Fall darüber spekuliert, ob Schmitz nicht womöglich selbst schwul gewesen sei. Doch er war nicht schwul. Er hatte eine Reihe schwuler Freunde, zu denen auch Amedure zählte, und ein eher entspanntes Verhältnis zu Homosexualität; er wirkte verletzlich, und vielleicht fanden ihn deswegen Frauen wie Männer erotisch anziehend. Sein einziges Problem war ein übersteigerter Ehrbegriff. Ich habe Schmitz zweimal geschrieben; leider er hat auf die Bitten, sich zu meiner Darstellung zu äußern, nicht reagiert.

    Das Studio der Jenny Jones Show in Chicago, an einem Sonntagmorgen. Die Produzentin Karen Campbell und der Koproduzent Ron Muccianti steckten in Vorgesprächen mit den Gästen der nächsten Sendung. Wie immer ging es darum, die großäugig staunenden Neuankömmlinge sicher durch den hektischen Zeitplan der Show zu lotsen.

    Kurz nach seiner Ankunft im Studio ließ sich Jonathan Schmitz ein Bier geben, um seine Nerven zu beruhigen, und wollte dann von Karen wissen, um wen es sich denn nun eigentlich handele – als läge der Anruf, bei dem er eingeladen worden war, an einer Show zum Thema »Heimliche Verehrer« teilzunehmen, nicht schon Monate zurück. Schmitz sagte, er hoffe, dass es kein Typ sei. Karen teilte ihm, wie sie später angab, mit, dass es ein Typ oder ein Mädchen oder auch ein Hund sein könne. »Ich sagte ihm: Jon, mach dir keine Sorgen, alles wird gut. Entspann dich. Es wird dir Spaß machen. Irgendjemand da draußen mag dich, ist das nicht schön?«

    Jon, wie ihn alle Welt nannte, war klein; in seinem nagelneuen, kragenlosen Hemd sah er fast übertrieben gut aus. Die ziemlich vollen, geschwungenen Lippen und der breite Kiefer erinnerten unweigerlich an die Kennedys; seine Augenbrauen waren perfekt geformt und so schwarz, dass sie wie aufgemalt wirkten. Auch die altmodische Fönfrisur konnte den überwältigenden Gesamteindruck nicht stören, aber das Beste war der verblüffend helle Grünton seiner Augen. Ein Filmstar.

    Jons Vater, Allyn, war später darum bemüht, die Kindheit seines Sohnes vor den Blicken Unbefugter zu schützen. Jon sei ein »ganz normales Kind« gewesen, vollkommen unauffällig, seine Probleme seien erst aufgetreten, als er vielleicht achtzehn Jahre alt war. Die Probleme waren Alkohol, Depressionen, plötzliche Wutanfälle. Da sich psychische Krankheiten oft erst in der Pubertät bemerkbar machen, kann eine genetische Veranlagung nicht ausgeschlossen werden; Jons Großmutter mütterlicherseits war manisch-depressiv, und 1988 musste Jon, wegen einer akuten Depression, eine Woche im Krankenhaus verbringen. Die Diagnose lautete auf bipolare Störung. Er hatte kurz zuvor versucht, sich das Leben zu nehmen – seine Freundin Kristen hatte mit ihm Schluss gemacht.

    Keiner der Mitarbeiter der Fernsehshow wusste, wie labil Jon war. Nach dem kurzen Vorgespräch ging Karen Campbell in eins der Nebenzimmer, in dem Jons heimlicher Verehrer wartete. Scott Amedure wirkte aufgekratzt und wollte alles ganz genau wissen. (»Ist das hier der Greenroom?«) Sein Gesicht war gerötet. Nachdem sie eine Weile entspannt mit Scott geplaudert hatte (unauffällig brachte sie ihn dazu, noch einmal durchzuspielen, was er in der Sendung sagen würde), machte Karen ein kurze Notiz für Jenny Jones: Scott glaubt, dass Jon bisexuell ist. Jon wird vor Scham sterben, wenn er Scott sieht! Sie faltete den Zettel zusammen und ließ ihn der Moderatorin bringen.

    In einem dritten Zimmer saß Donna Riley, Scotts gute Freundin, und wurde von Ron Muccianti interviewt. Sie sollte ebenfalls in der Show auftreten, denn sie war es gewesen, die Scott und Jon miteinander bekannt gemacht hatte, daheim in Michigan. Auf dem Tisch stand eine offene Flasche Absolut Vodka, daneben ein paar Gläser. Ob die Gäste aufgeputscht oder entspannt werden sollten, war nicht klar; Donna jedenfalls sagte später aus, dass der Wodka mit keinem Wort erwähnt worden sei. Die Flasche stand einfach nur da.

    Ron Muccianti fragte sie dann: »Und du glaubst, dass Jon sich ebenfalls für Scott interessiert?«

    »Also ein bisschen schwul ist er auf alle Fälle, das glauben wir beide«, sagte Donna.

    In der Sendung – oder zumindest dem Teil, den ich mir angesehen habe – grinst Scott derart breit, dass ihm die Wangen wehgetan haben müssen. Das Publikum johlt. Er trägt eine dunkle Weste und hat blasse Haut; offenbar wird er schnell rot. Die dünnen Haare sind zurückgegelt und immerhin so blond, dass der Schnurrbart, den er sich gerade stehen lässt, jungenhaft wirkt. Er sieht gut aus. Etwas zappelig vielleicht, aber gepflegt, und dank seines Grinsens wie einer dieser bösen Buben, die von allen angehimmelt werden. (Ein Freund von ihm erinnerte sich später, dass Scott jeden Typen bekam, den er wollte.)

    Scott ist der geborene Selbstdarsteller. Er gibt den Schüchternen, der nur dank der überschäumenden Begeisterung des Publikums den Mut findet, sich zu seiner heimlichen Liebe zu bekennen. Und alle sind auf seiner Seite. Er schildert seine erste Begegnung mit Jon: »Dieser zierliche Körper, der unter ihrem Auto steckte.« Jon hatte seiner Nachbarin Donna angeboten, ihren Wagen zu reparieren, auf dem Parkplatz der Manitou-Lane-Apartments, wo sie beide wohnten. Nach dieser ersten Begegnung, mit dem noch kopflosen Jon, verliebte sich Scott in den nächsten Tagen immer mehr in ihn. Er gab Donna ein Freundschaftsbändchen für Jon mit, aber das Geschenk wurde verschmäht, Jon ließ es bei Donna liegen. Jon sagte Scott, dass er hetero sei. Doch so leicht wollte sich Scott nicht geschlagen geben. Als er in einer Schwulenbar einen Werbeflyer fand (Heimlich verknallt, in dasselbe Geschlecht?), beschloss er, sich an die Jenny Jones Show zu wenden.

    Jon hatte sich schon bereit erklärt, an der Show mitzuwirken (er fieberte seinem Auftritt entgegen, weil er hoffte, es könne sich um seine Ex-Freundin Kristen handeln), als ihn eine plötzliche Vorahnung überkam. Er sprach mit Donna und Scott, um sicherzustellen, dass nicht etwa Scott sein heimlicher Verehrer war. Nein, sagten Scott und Donna, auf gar keinen Fall.

    Als die Moderatorin ihn dann drängt, dem Publikum von seinem Traumdate mit Jon zu erzählen (wahrscheinlich hatte er auch mit Karen Campbell darüber gesprochen, wenige Minuten zuvor), macht Scott einen etwas unwilligen Eindruck. »Ich würde ihn gern fesseln, in einer Hängematte.« Das Publikum lacht und applaudiert, immer noch begeistert. Scott atmet tief durch, wirft der Moderatorin einen fragenden Blick

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