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Das Tribunal: Thriller
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eBook737 Seiten9 Stunden

Das Tribunal: Thriller

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Über dieses E-Book

Im 18. Jahr der Herrschaft des Kaisers Tiberius. Der brillante Theophilus hatte Pontius Pilatus im Prozess gegen den Wanderprediger Jesus von Nazareth beraten. Doch die Bilder der Kreuzigung verfolgen ihn auch auf seinem Weg zurück nach Rom, wo er als Anwalt Karriere macht. Verwickelt in riskante politische Ränkespiele gerät er in Lebensgefahr durch einen Tyrannen, der es auf die Frau abgesehen hat, die Theophilus liebt. Als er in Kontakt mit den ersten Christen kommt, spitzen sich die Ereignisse zu: Theophilus steht vor dem berüchtigten Kaiser Nero. Wird es ihm diesmal gelingen, einen unschuldigen Menschen vor der Hinrichtung zu bewahren? Der erste historische Thriller des beliebten Bestsellerautors Randy Singer!
SpracheDeutsch
HerausgeberSCM Hänssler
Erscheinungsdatum10. Juni 2015
ISBN9783775172899
Das Tribunal: Thriller
Autor

Randy Singer

Randy Singer wird von der Fachpresse hoch gelobt. Seine Justiz-Thriller sind "mindestens genauso unterhaltsam wie John Grisham" (Publishers Weekly). Für "Die Witwe" erhielt er sogar den begehrten Christy Award. Dabei kommt Singer aus der Praxis: Im wirklichen Leben arbeitete er als Anwalt. Und die Botschaft von Gottes Liebe "verteidigt" er sonntags auf der Kanzel der "Trinity Church" in Virgina Beach (USA).

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    Buchvorschau

    Das Tribunal - Randy Singer

    Stimmen zu Das Tribunal

    »Singer greift den Gedanken auf, das Lukas-Evangelium und die Apostelgeschichte seien als juristische Unterlagen verfasst worden, um Apostel Paulus gegen den römischen Kaiser Nero zu verteidigen. … Stellen Sie sich vor, James Michener, Autor großartiger historischer Romane, und John Grisham, Autor von Justizthrillern, schrieben zusammen ein Buch – das Ergebnis wäre dieser epische Klassiker von Singer.«

    Publishers’ Weekly

    »Dieses Buch gewährt einen fesselnden Einblick in das antike Rom und weist Parallelen zu unserem gegenwärtigen politischen Klima auf.«

    Romantic Times Book Reviews

    »Alle Bücher von Randy Singer sind großartig, doch das vorliegende ist etwas ganz Besonderes.«

    LifeIsStory

    »Ich vermag mir kaum auszumalen, wie viele Stunden Singer damit verbracht haben mag, seine Geschichte zu schreiben und die Hintergründe zu recherchieren. ›Das Tribunal‹ gehört zu seinen besten Titeln, und ich habe die Gelegenheit, das Buch zu lesen, rundum genossen. Ich hatte ein Jahr darauf gewartet und bin nicht enttäuscht worden.«

    The Christian Manifesto

    [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

    Stimmen zu weiteren Titeln von Randy Singer

    »Mit diesem spannenden, intelligenten Thriller trifft Singer erneut ins Schwarze.«

    Publishers’ Weekly über Der Doktor

    »Mit jedem Roman wird Singer besser, doch mit Der Doktor legt er eine wahre Glanzleistung hin …«

    Faithfulreader.com über Der Doktor

    »Singer verfolgt mit diesem Justizthriller einen völlig neuen Ansatz; er präsentiert tiefgründige Figuren und ethische Fragen auf anspruchsvolle Weise, gekrönt von einer packenden Handlung.«

    Booklist über Der Doktor

    »Singer … liefert einen weiteren Spitzentitel ab … Seine zahlreichen Fans werden die Buchläden stürmen.«

    Booklist über Die Rache

    »Singers neustes Gerichtsdrama bietet unzählige Überraschungen und Wendungen, zweite Chancen und spirituelle Erlösung. Die juristische Erfahrung des Autors macht sich von Anfang bis Ende in den Details und den realitätsgetreuen Darstellungen bemerkbar. Er gewährt dem Leser einen tiefen Einblick in das amerikanische Rechtssystem.«

    Romantic Times über Die Rache

    »Ein Justizthriller, der mit dem Besten von Grisham mithalten kann.«

    Christian Fiction Review über Der Klon

    »Das Thema Klonen, Stammzellforschung, raffgierige Geschäftsführer und Anwälte mit schillerndem Charakter lassen eine fesselnde Geschichte entstehen, welche die Schlagzeilen von morgen vorwegnimmt.«

    Mark Early, ehemaliger Generalstaatsanwalt von Virginia über Der Klon

    »Die Figuren sind so gut ausgearbeitet und die Dialoge so interessant, dass man diesen Thriller kaum aus der Hand legen kann.«

    Bookreporter.com über Der Code des Richters

    »Gekonnt löst Singer Erzählstränge und verknüpft sie neu zu einer Geschichte, die unterhält, überrascht und den Leser dazu bringt, sein Verständnis von Gerechtigkeit und Gnade zu überdenken … Singer beschert uns einen weiteren großartigen Justizthriller, der auch diesmal den Vergleich mit Grisham nicht scheuen muss.«

    Publishers Weekly über Die Staatsanwältin

    Er bot einem Kaiser die Stirn

    und beflügelte einen Glauben.

    [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

    Widmung

    Im Gedenken an Lee Hough, meinen Agenten und Freund

    »Jedes Mal, wenn ich an euch denke, danke ich meinem Gott.«

    Philipper 1,3

    [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

    Personen

    [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

    Teil I

    DER SCHÜLER

    Bild

    1

    IM ELFTEN JAHR DER HERRSCHAFT DES

    TIBERIUS JULIUS CAESAR AUGUSTUS

    Ich war vierzehn Jahre alt, als ich erfuhr, was es bedeutete, gekreuzigt zu werden.

    Jeder der zwölf Schüler Senecas des Jüngeren, zu denen auch ich gehörte, umklammerte ein Kreuz und schleifte es seit nunmehr acht Kilometern über die Pflastersteine der Via Appia. Die Luft an diesem Tag war heiß und trocken. Der Staub setzte sich in unserem Mund und unserer Nase fest; zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen knirschte der Straßendreck. Mit der Zunge fuhr ich über meine staubtrockenen Lippen und versuchte, die zähflüssige, weiße Spucke in meinen Mundwinkeln anzufeuchten. Schweiß lief mir über das Gesicht. Seneca, der nur einen Trinkschlauch im Gepäck hatte und dem die Tunika am kräftigen Rücken klebte, marschierte uns voraus. Auch meine Tunika war schweißgebadet und schmutzig, und meine Sandalen gaben bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch von sich.

    Anfangs hatte ich das Kreuz über meine schmächtigen Schultern gelegt, was ich allerdings nicht lange durchhielt. Mittlerweile zog ich es, wie die meisten anderen Schüler, hinter mir her. Es wog fast so viel wie ich selbst. Das raue Holz schürfte mir den Rücken wund, sodass ich es ständig von einer Schulter auf die andere verlagern musste. Der Einzige, der sein Kreuz nicht über den Boden zog, war Lukian, der zwei Jahre älter als die anderen war und die Statur eines Gladiators besaß. Er trug das Kreuz quer über den Schultern. Doch selbst Lukian begann unter seiner Last den Rücken zu krümmen.

    Damit die Erfahrung noch besser der Wirklichkeit entsprach, hatte Seneca einen römischen Legionär mitgebracht, der hinter uns hermarschierte. Ein humorloser Mann, untersetzt und unrasiert, mit schrecklichem Mundgeruch und boshaftem Charakter. Endlich bot sich ihm die Gelegenheit, den Söhnen der Adligen Befehle an den Kopf zu werfen, als wären sie gewöhnliche Sklaven. Wann immer wir stehen blieben, versetzte er uns einen groben Stoß und beschimpfte uns. Immer wieder nahm er große Schlucke aus seinem Trinkschlauch, bemerkte hämisch wie erfrischend das Wasser schmecke, nur um dann das meiste davon auf den Boden zu spucken.

    »Wenn meine Eltern davon erfahren, kann Seneca sein blaues Wunder erleben«, schnaufte Lukian leise.

    Ich war mir sicher, dass Seneca wenig zu befürchten hatte. Schließlich lautete sein Auftrag, uns in junge Männer zu verwandeln, die dem Amt eines römischen Senators, Befehlshabers oder Magistraten gewachsen waren. Das hier war nichts im Vergleich zu der militärischen Ausbildung, der sich viele meiner Altersgenossen in ein paar Jahren stellen müssten. Nichtsdestotrotz waren wir die Söhne von Senatoren und von Equites, also dem Ritterstand Roms, und tauschten entnervte Blicke aus. Für wen hält dieser Mann sich eigentlich, dass er es wagt, uns so zu demütigen?

    Caligula hatte das leichteste Kreuz zugeteilt bekommen. Selbstverständlich. Er war genauso alt wie ich, aber ein paar Zentimeter größer, mit dürren Beinen und einem langen, dünnen Hals. Sein Kopf, der von lockigem, rotem Haar gekrönt war, schien im Verhältnis zu seinem Körper zu groß geraten. Caligula war ein gemeiner Kerl, also versuchte ich, mich von ihm fernzuhalten. Es galt das ungeschriebene Gesetz, ihn niemals zu erzürnen – nicht etwa, weil wir den verzogenen jungen Mann selbst fürchteten, sondern weil wir uns vor seiner Familie in Acht nahmen.

    Sein voller Name lautete Gaius Julius Caesar Germanicus. Auf einem Schlachtfeld in Gallien hatte er das Licht der Welt erblickt, als Sohn des großen Feldherrn Germanicus und seiner Frau Agrippina. Die Soldaten hatten ihm den Spitznamen Caligula verpasst, was so viel bedeutete wie »kleine Sandalen« und das Schuhwerk der Legionäre beschrieb. Er wurde zum Maskottchen für die Truppen des Germanicus, und sie ließen ihn, geschützt in den hintersten Reihen, mit in die Schlacht ziehen. Er war der Großneffe des Kaisers und würde eines Tages vielleicht selbst in dieses Amt erhoben, falls es seiner Mutter gelingen sollte, alle im Weg stehenden Verwandten zu vergiften.

    Er war ein echter Tyrann.

    Zu Beginn unseres Marsches hatte er meinen Freund Marcus verhöhnt und damit seinen Frust an dem Kleinsten in unserer Gruppe ausgelassen. Mittlerweile war er einfach nur noch erschöpft.

    »Das ist unerhört«, verkündete er immer wieder. Anders als Lukian beschwerte er sich laut genug, sodass Seneca es mitbekam. Doch unser Lehrer beachtete ihn nicht und lief einfach weiter. Ein paar Mal blieb Caligula stehen und wurde von dem Legionär geschubst, allerdings nicht so hart wie wir anderen.

    Ich hielt den Blick auf den Boden geheftet und konzentrierte mich auf jeden Schritt, während ich bis hundert zählte, um dann wieder von vorne anzufangen. Wie üblich lief ich an der Spitze der Gruppe, dicht hinter Seneca.

    Es war fast Mittag, als Seneca endlich an einer offenen Weide am Wegesrand neben einem kleinen, kühlen Bach anhielt. Ich ließ mein Kreuz fallen, beugte mich vornüber, stützte die Hände auf die Knie und rang nach Atem.

    Seneca erlaubte uns, aus dem Bach zu trinken, und wies uns an, auf unseren Kreuzen Platz zu nehmen. Dann stellte er sich so in der Mitte unserer kleinen Gruppe auf, dass die Sonne uns blendete, wenn wir zu ihm aufsahen.

    Nachdem Seneca sich den Schweiß aus den Augen gewischt hatte, begann er mit dem Unterricht. Neben ihm hatte sich der Legionär aufgestellt – breitbeinig und mit verschränkten Armen.

    »Ihr alle habt schon vom Dritten Sklavenkrieg gehört«, begann Seneca, »als Spartacus zwei Jahre lang einen Aufstand der Sklaven gegen Rom anführte. Der Senat nahm diesen Aufstand zunächst nicht ernst, bis klar wurde, dass Rom selbst bedroht war.«

    Einige meiner Freunde rutschten unruhig auf ihren Kreuzen hin und her, um nach dem langen Marsch eine bequeme Sitzposition zu finden. Ich dagegen lauschte Seneca gebannt und rührte mich nicht vom Fleck. Den ganzen Tag lang könnte ich ihm zuhören, der mit seinem lockigen Haar, dem runden Milchgesicht und den kleinen blauen Augen so harmlos wie ein Kind wirkte, doch dessen Stimme einen ehrfurchtgebietenden Klang besaß, und dessen Scharfsinn und Zynismus ich die gleiche Verehrung entgegenbrachte, die in meiner Vorstellung Ciceros Schüler für ihren Lehrer empfunden hatten. Menschen wurden von Armeen zerstört und von Gladiatoren unterhalten, doch Männer wie Cicero und Seneca waren ihre Inspirationsquellen. Auch ich wollte eines Tages in ihre Fußstapfen treten.

    »Marcus Licinius Crassus war der reichste Mann im Senat, vielleicht der reichste Mann in der Geschichte Roms«, fuhr Seneca fort. »Er besaß über fünfhundert Sklaven und war ein begnadeter Architekt. Er wusste, wie man Brände kontrollierte, indem man brennende Gebäude zerstörte, um die Ausbreitung des Feuers auf Nebengebäude einzudämmen. Wann immer es in Rom brannte, eilte Crassus mit seinen Männern zum Schauplatz und machte den Eigentümern der umliegenden Häuser ein Angebot. Sie konnten ihr Haus dem jungen Crassus an Ort und Stelle zu einem Spottpreis verkaufen oder dabei zusehen, wie ihr Heim in Flammen aufging. Sobald sie in den Handel eingewilligt hatten, löschten Crassus’ Sklaven das Feuer und Crassus strich seinen Gewinn ein.«

    »Brillant«, bemerkte Caligula.

    Seneca warf ihm einen missbilligenden Blick zu, doch ich wusste, dass er bei Caligula kaum Wirkung zeigte.

    »Auf dem Höhepunkt seines Wohlstands verfügte Crassus über ein Vermögen von über zweihundert Millionen Sesterze. Und weil er seinen Besitz auf Kosten von Sklaven angehäuft hatte, war es ihm ein besonderes Anliegen, Spartacus’ Aufstand zu zerschlagen. Da Roms beste Feldherren in fremden Ländern kämpften, stellte Crassus sein eigenes Heer auf die Beine, um gegen Spartacus und die aufständischen Sklaven in den Krieg zu ziehen. Die ersten Schlachten verliefen nicht gut für Crassus. Beim ersten Anzeichen für Ärger ließen seine Männer ihre Waffen fallen und nahmen Reißaus. Um die Moral zu heben, bediente sich Crassus der althergebrachten Praxis der Dezimierung. Lukian, was bedeutet das?«

    »Tut mir leid, Meister Seneca. Was bedeutet was?«

    Seneca ließ ein paar Sekunden verstreichen, um zu zeigen, wie ungehalten er war, bevor er antwortete: »Dezimierung. Was ist der Ursprung dieses Wortes?«

    Lukian runzelte die Stirn. »Das weiß ich nicht.«

    »Irgendjemand anderes?«, fragte Seneca.

    Ich kannte die Antwort, wusste aber aus Erfahrung, dass es manchmal besser war, den Mund zu halten. Und so schaute ich weiter zu Boden, während Seneca seinen Blick über die Gruppe schweifen ließ.

    »Dezimieren lässt sich vom Stammwort decimare ableiten, was so viel bedeutet wie ein Zehntel wegzunehmen beziehungsweise zu zerstören«, erklärte Seneca. Er trat näher an uns heran, sodass die Sonne in seinem Rücken ihm selbst einen Lichtglanz verlieh. »Also teilte Crassus seine Truppen in Zehnergruppen ein und ließ die Männer Lose ziehen. Derjenige, den das Los traf, musste seine Rüstung abgeben und wurde von den anderen neun zu Tode geprügelt. Danach verbesserte sich der Kampfgeist seiner Truppen schlagartig. Crassus hatte demonstriert, dass sie ihn mehr zu fürchten hatten als ihre Feinde.«

    Mittlerweile hörten Seneca alle gebannt zu. Im Geiste stellte ich mir vor, wie wir zwölf Lose zogen und der Verlierer dann von den anderen totgeschlagen wurde. Ich konnte mir nicht vorstellen, mich dazu durchzuringen, einem solchen Befehl Folge zu leisten.

    »Schließlich schafften es Crassus’ Männer, Spartacus und seine Truppen in die Enge zu treiben. Spartacus wollte Crassus Mann gegen Mann bezwingen und metzelte sich seinen Weg zu dem General durch. Doch dessen Armee war den Sklaven zahlenmäßig haushoch überlegen. Spartacus fiel, bevor er Crassus erreichen konnte. Sechstausend Sklaven wurden gefangen genommen.«

    Von frühester Kindheit an hatte man mich gelehrt, Spartacus und seine blutige Revolte zu verachten. Der Aufstand galt als Beleidigung gegenüber jedem römischen Bürger. Doch schon immer wollte etwas in mir sich auf die Seite der Sklaven schlagen und sich für die Schwachen einsetzen. Insgeheim wünschte ich, Spartacus wäre sein Spießrutenlauf gelungen und er hätte Crassus zu einem Kampf Mann-gegen-Mann herausgefordert, wie es sich für echte Männer gehörte.

    »Crassus wollte sicherstellen, dass kein Sklave im Kaiserreich jemals wieder auf den Gedanken käme, sich aufzulehnen«, erklärte Seneca, »und so perfektionierte er die Kunst der Kreuzigung.«

    An dieser Stelle hielt er inne, um seine Worte wirken zu lassen, und wir alle wussten, dass wir Zeugen etwas Ungewöhnlichen werden würden. Aus diesem Grund zahlten unsere Eltern bereitwillig das beachtliche Schulgeld für unsere Ausbildung. Seneca war bekannt für seine einprägsamen Lektionen.

    »Auch wenn ihr noch nicht alt genug seid, um den Spielen beizuwohnen und den dort vollzogenen Hinrichtungen mit eigenen Augen zu folgen, gehe ich davon aus, dass jeder von euch schon einen Kriminellen gesehen hat, der außerhalb der Stadtmauern am Kreuz hing. Trotzdem dachte ich mir, es wäre vielleicht interessant, wenn Gallus euch erklärt, wie es gemacht wird.«

    Der Legionär namens Gallus ging ein paar Schritte vor, bis er genau vor mir stand. Warum musste immer ich dran glauben? Ich starrte auf die schwarzen Haare an seinen Beinen, seine abgewetzten Sandalen und schwieligen Füße.

    »Steh auf!«, befahl er schroff.

    Ich erhob mich und schaute ihm direkt in die Augen.

    Er hievte mein Kreuz hoch und legte es in der Mitte der Gruppe auf den Boden. Dann zog er einen Hammer aus seinem Gürtel und holte einen langen spitzen Nagel aus dem Sack hervor, den er bei sich trug.

    »Leg dich auf den Balken«, forderte er mich auf, »die Arme auf dem Holz ausgestreckt.«

    Ich blickte zu Seneca hinüber, der unmerklich mit dem Kopf nickte.

    »Brauchst du vielleicht Hilfe?«, fragte Caligula den Legionär.

    »Willst du vielleicht seinen Platz einnehmen?«, schoss Gallus zurück.

    »Nicht wirklich.«

    »Dann halt die Klappe.«

    Ich legte mich mit weit ausgestreckten Armen auf den Balken, wobei ich Gallus immer im Auge behielt. Der Legionär kniete neben mir nieder, den Hammer in der einen, den dicken Nagel in der anderen Hand. »Wir benutzen fünfzehn Zentimeter lange Nägel«, sagte er, während er die Spitze in mein linkes Handgelenk drückte.

    »Komm her und halt das«, sagte er zu einem anderen Schüler. Es war Marcus, mein spindeldürrer Freund. Weil er sich so schwer damit getan hatte, das Kreuz zu schleppen, war er fast den ganzen Morgen lang von Gallus beschimpft worden.

    Marcus stand auf und hielt den Nagel über meinem Handgelenk fest. Seine Hände zitterten.

    »Nervös?«, wollte Gallus wissen.

    »Ja, ein wenig.«

    »Du hast nichts zu befürchten. Aber dein Freund hier sollte sich Sorgen machen.«

    Gallus stieß ein schnaubendes Lachen aus, doch ich war unbesorgt. Ich wusste, dass Seneca es niemals so weit treiben würde. Vielleicht ließ der Soldat ein paar Tropfen Blut fließen, doch Seneca würde auf keinen Fall zulassen, dass er einen Nagel durch mein Handgelenk trieb.

    »Wir haben festgestellt«, erklärte Gallus, während er zu den anderen Jungen aufblickte, »dass es dem Gefangenen unsagbare Schmerzen bereitet, wenn wir den Nerv durchtrennen, der zum Handgelenk führt. Außerdem steckt der Nagel dann so zwischen zwei Knochen, dass er nicht einfach wieder aus dem Arm herausgerissen werden kann.«

    »Der Schmerz ist dermaßen unerträglich«, fügte Seneca hilfsbereit hinzu, »dass ein neues Wort erfunden wurde, um ihn zu beschreiben. Unser Wort cruciatum verwenden wir nicht mehr nur, um eine bestimmte Hinrichtungsmethode zu beschreiben, sondern auch bei grausamem, qualvollem Schmerz.«

    Gallus fuhr mit der genauen Beschreibung der weiteren Vorgehensweise fort. Auf welche Weise die Füße festgenagelt wurden. Wie der Gefangene buchstäblich erstickte, während sein Körper vom eigenen Gewicht nach unten gezogen wurde, sobald er die Kraft verlor, sich gegen die Nägel zu stemmen, um Luft zu holen. »Üblicherweise lassen wir sie ungefähr drei Tage hängen. Die meisten sterben am zweiten Tag, dann kommen die Vögel am dritten zum Festmahl. Gibt es Fragen hierzu?«

    Niemand meldetet sich.

    Gallus schwang seinen Hammer. Ich schloss die Augen und verkrampfte mich. Ein paar Zentimeter über dem Nagel hielt er inne und lachte. Er ließ mich aufstehen und auf wackeligen Knien an meinen Platz zurückkehren, während er die verschiedenen Variationen beschrieb, die er und seine Kameraden bei der Kreuzigung von Gefangenen nutzten.

    »In Ordnung«, meinte Seneca schließlich, »ich denke, ihr könnt euch ein Bild machen.«

    Gallus trat zurück und Seneca fuhr mit dem Unterricht fort. »Crassus hält noch immer den Rekord«, sagte Seneca. »Er ließ sechstausend Männer ans Kreuz nageln, jeden einzelnen Sklaven, den er gefangen genommen hatte, und stellte sie entlang der Via Appia aus – von hier, den ganzen Weg bis nach Rom zurück.«

    Der Lehrer schwieg, damit wir uns der Ungeheuerlichkeit dieser Worte bewusst werden konnten. Wir waren kilometerweit gelaufen. Und zu einem bestimmten Zeitpunkt war die gesamte Strecke von sterbenden Männern gesäumt.

    »Crassus und seine Männer ritten durch die Gasse der Gekreuzigten, während die Sklaven um Gnade schrien, darum bettelten, von einem Speer durchbohrt zu werden. In Rom wurde Crassus von einer jubelnden Menge empfangen, die ihn mit einem Lorbeerkranz krönte und als vir triumphalis feierte. Er opferte einen weißen Bullen im Tempel des Jupiter und die ganze Stadt feierte tagelang. Es heißt, dass selbst drei Tage nachdem die Leichen der Sklaven entsorgt worden waren, der Gestank von Verwesung noch immer in der Luft hing.«

    Seneca schaute über unsere Köpfe hinweg die Via Appia hinunter, als würde er sich die Szene vor seinem inneren Auge ausmalen. »Ist es in Ordnung, dass Römer Menschen kreuzigen? Ist das ein angemessenes Verhalten für die fortschrittlichste Zivilisation, die die Welt je gesehen hat?«

    Mein Blick war auf Seneca gerichtet, dennoch bekam ich Gallus’ Reaktion aus den Augenwinkeln mit. Allein die Andeutung, seine hochgeschätzte Methode der Hinrichtung könne fragwürdig sein, ließ ihn stocksteif werden.

    Ich hoffte, Seneca würde jemand anderen aufrufen. Alles in mir schrie, dass der Brauch der Kreuzigung nicht mit der Herrlichkeit Roms zu vereinbaren war. Wie konnten wir unsere Feinde nur auf solch abscheuliche Weise foltern? Was unterschied uns noch von den Barbaren, wenn wir solche Gräueltaten verübten? Und was war mit all den unschuldigen Männern, die zu Unrecht zum Tode verurteilt wurden? Unser Rechtssystem war schließlich nicht vollkommen.

    Auf der anderen Seite wollte ich nicht, dass meine Klassenkameraden mich für einen Schwächling hielten. Senecas kleine Darbietung, mit Unterstützung von Gallus, sollte uns zeigen, wie schrecklich es war, auf solche Weise sterben zu müssen. Nichtsdestotrotz waren wir Römer. Man erwartete von uns, nicht vor dem Anblick des Todes zurückzuschrecken, egal wie abscheulich dieser aussehen mochte. Diese Art Gräuel auszuhalten, ja sogar zu genießen, galt als Anzeichen wahrer Männlichkeit.

    »Diese Frage kann ich beantworten«, sagte Caligula und erhob sich.

    »Nun denn, Gaius«, erwiderte Seneca, der niemals den Spitznamen seines Schülers verwendete.

    »Hat es seit Crassus’ Sieg über Spartacus jemals wieder einen Sklavenaufstand gegeben?«, erkundigte sich Caligula. Die Frage war natürlich rein rhetorisch, eine Argumentationstechnik, die Seneca uns gelehrt hatte.

    »Ich wurde auf einem Schlachtfeld geboren«, fuhr Caligula fort. »Ich habe Kriege gesehen. Männer sterben. Ihnen werden die Köpfe abgeschlagen und die Gedärme herausgerissen. Nur die Starken überleben. Daran gibt es nichts zu beschönigen und nichts, was philosophisch zu diskutieren wäre.«

    Die letzte Bemerkung war als Spitze gegen Seneca gemeint, und ich fragte mich, wie er darauf reagieren würde. Wie üblich verzog unser Lehrer keine Miene.

    »Das einzige, was man Crassus vorwerfen könnte«, fuhr Caligula fort, »ist, dass er so viel gutes Holz für Sklaven verschwendet hat.«

    Stolz auf seine scharfsinnige Bemerkung blieb er einen Moment stehen. Dann grinste er hämisch und nahm wieder Platz.

    Seneca ließ seinen Blick über die jungen Gesichter vor ihm schweifen. »Gibt es irgendjemanden, der dieser Meinung widersprechen würde?«, fragte er.

    Ich wusste, dass ich besser sitzen bleiben sollte. Sich mit Caligula anzulegen war nie eine gute Idee. Ohne Zweifel würde Lukian sich für Caligula stark machen – wenn nicht jetzt, dann später, wenn Seneca nicht hinsah. Andere würden sich ihnen anschließen, wenn auch nur, weil sie die beiden fürchteten.

    Der einzige Schüler, der offen meine Meinung teilen würde, wäre der kleine Marcus, und ihn auf meiner Seite zu haben, bedeutete manchmal mehr Ärger als Nutzen.

    Aber keine Stellung zu beziehen stand auch nicht zur Debatte. Wenn ich in dieser Situation schwieg, wie würde ich mich dann erst verhalten, wenn etwas wirklich Wichtiges auf dem Spiel stand?

    Im Bewusstsein, dass Caligula die Augen verdrehen würde, erhob ich mich. »Ich bin anderer Meinung«, verkündete ich mit so viel Nachdruck, wie ich nur aufbringen konnte.

    »Aus irgendeinem Grund, Theophilus«, meinte Seneca, »überrascht mich das nicht im Geringsten.«

    2

    Seneca zugewandt versuchte ich die anderen Jungen aus meinem Blickfeld zu verdrängen. Ich wusste, dass ich vorsichtig vorgehen musste, weil Caligula launisch war und es nicht ertragen konnte, bloßgestellt zu werden. Doch sobald ich ein Publikum hatte, fiel es mir schwer, nicht ein wenig anzugeben.

    Ich richtete mich zu voller Größe auf und setzte meine Rednerstimme so ein, wie Seneca es mir beigebracht hatte.

    »Man darf aber auch nicht auf diejenigen hören, die meinen, man müsse den Feinden heftig zürnen, und die Auffassung vertreten, dass ein innerlich unabhängiger und tapferer Mann dazu verpflichtet sei«, sagte ich, »denn nichts ist so lobenswert und nichts entspricht dem Wesen eines großen und bedeutenden Mannes so sehr wie die Bereitschaft zu Versöhnung und Vergebung.«

    Einige meiner Schulkameraden stöhnten angesichts meines eloquenten Vortrags entnervt auf. Doch davon ließ ich mich nicht beirren; Seneca hatte mich gelehrt, mich nicht von einem feindseligen Publikum aus der Fassung bringen zu lassen.

    »Dies sind die Worte Ciceros, und außerdem Worte voller Wahrheit und Verstand«, sagte ich stolz. »Die römischen Tugenden sollten sich nicht in Gerechtigkeit und Mut erschöpfen, sondern sich auch auf Vergebung und Gnade erstrecken.«

    »Gesprochen wie einer, der noch nie in eine Schlacht zog, nie zusehen musste, wie ein Freund von einem Barbaren enthauptet wurde«, konterte Seneca. Er begann, auf und ab zu laufen, während er die Gesichtsausdrücke seiner Schüler musterte. »Nicht von ungefähr hat auch Cicero niemals ein Schlachtfeld gesehen. Hat unser junger Gaius vielleicht doch nicht ganz unrecht mit seiner Meinung? Schließlich hat Rom die Welt nicht mit guten Manieren und Senatsbeschlüssen erobert. Wir haben die Verbreitung unserer Zivilisation und die von uns so stolz gepflegte Einhaltung des römischen Rechts mit brutaler Gewalt durchgesetzt.«

    Seneca blickte mir direkt in die Augen. »Wie kann man behaupten, die Gesetze zu ehren und gleichzeitig die Form der Strafen verdammen, die dafür sorgen, dass andere sich an diese halten?« Er wies mit dem Finger auf die Via Appia hinter mir. »Straßen wie diese tauchen nicht plötzlich aus dem Nichts auf, sie werden gebaut. Von Sklaven. Wie auch das Anwesen deines Vaters, Theophilus. Es gibt keinen Fortschritt ohne Zivilisation, keine Zivilisation ohne Ordnung und keine Ordnung ohne Bestrafung.«

    Mir war nicht klar, ob Seneca wirklich so dachte oder mich einfach nur intellektuell herausfordern wollte. Mit Schülern wie mir, die sich behaupten konnten, war er schon immer hart umgesprungen. Meiner Meinung nach ließ er Schüler wie Caligula viel zu leicht vom Haken, einfach weil sie nicht bereit waren, sich anzustrengen.

    Ich wollte anmerken, dass auch Seneca niemals eine Schlacht bestritten hatte. Wahrscheinlich würde er einen Gewaltmarsch keinen einzigen Tag durchhalten. Er besaß den schlaffen Körper eines Philosophen, sein Geist jedoch war hart wie Stahl.

    »Gaius Julius Caesar Germanicus war einer der größten Generäle, die Rom je gesehen hat«, entgegnete ich. Ich sprach hier von Caligulas Vater, einem hochverehrten Krieger, der vergiftet wurde, als Caligula gerade einmal sieben Jahre alt war, und ich merkte, wie Caligula unruhig wurde. Er machte ein finsteres Gesicht und lehnte sich vor, als hätte ich nur durch die Erwähnung des Namens seines Vaters irgendein Tabu gebrochen.

    »Germanicus wurde dank seines Sieges in Germanien zum Konsul ernannt. Doch als er nach Alexandrien reiste, sah er wie die Menschen dort hungerten und öffnete die Getreidespeicher, damit sie zu essen hatten. Sie verehrten ihn wie einen Pharao, und wäre er geblieben, hätten sie ihn vielleicht zu einer Gottheit erhoben. Doch Caesar war wütend, weil Rom nun weniger Getreidevorrat erhalten würde.«

    »Wird das jetzt eine Geschichtsstunde«, fragte Seneca nach, »oder hast du etwas zu sagen?«

    »Auf Folgendes will ich hinaus: Es ist die Mildtätigkeit des Germanicus und nicht die Brutalität des Crassus, die am deutlichsten zeigt, wo das Herz Roms schlägt. Germanicus hätte diese Sklaven nicht gekreuzigt. Man kann Barbaren bekämpfen, ohne selbst einer zu werden.«

    Zufrieden mit meiner kleinen Ansprache stand ich mit stolzgeschwellter Brust vor Seneca. Auch wenn es ein ungeschriebenes Gesetz unter uns gab, nie über die verdächtigen Umstände von Germanicus’ Tod zu sprechen, dachte ich, es sei in Ordnung seinen Namen in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Mein Argument war besonders gerissen, weil sein eigener Sohn Caligula sich so aggressiv für die Kreuzigung der Sklaven ausgesprochen hatte. Vielleicht würde selbst Caligula nun seine Meinung überdenken.

    Das Ganze wäre vielleicht gut gegangen, wenn Seneca die Diskussion damit beendet hätte. Doch der Mann gewährte uns niemals auch nur einen Moment an rednerischem Triumph. Wann immer wir besonders stolz auf unsere Argumentationen waren, stutzte er uns zurecht und zog uns den Boden unter den Füßen weg.

    »Da hast du ein interessantes Beispiel gewählt, Theophilus. Doch eines muss ich dich fragen: Waren Germanicus’ Taten legal? Durfte er überhaupt in Alexandrien sein? Oder beruht dein Argument auf der Verletzung der Gesetze, die wir deiner Meinung nach ehren sollen?«

    Wir alle kannten die Antworten auf diese Frage, dennoch wollte ich sie nicht laut aussprechen. Der verwaiste Sohn des Germanicus saß keine vier Meter von mir entfernt.

    Doch was war die Wahrheit? Das war die Frage, die Seneca mir in den vergangenen zwei Jahren meiner Ausbildung eingetrichtert hatte. Wann immer wir uns verzettelten, lag es seiner Aussage nach daran, dass wir uns auf unwichtige Dinge konzentrierten, die unser Urteilsvermögen trübten. Sein Rat lautete, die Wahrheit zu finden und daran festzuhalten. Er gab uns eine Frage mit auf den Weg, die wir stellen sollten, eine Frage, die uns bei der Findung der Antworten zu den schwersten Themen des Lebens leiten sollte.

    Was ist die Wahrheit?

    »Er handelte gesetzeswidrig, Meister Seneca. Alexandrien lag Germanicus am Herzen, weil er ein Nachkomme des Marcus Antonius war. Doch laut den von Caesar Augustus erlassenen Gesetzen durfte kein Mitglied der Adelsschicht nach Alexandrien einreisen.«

    »Also war Germanicus ein Krimineller?«

    Ich antwortete ohne zu zögern: »Das war er.«

    Es war die Wahrheit. Aber manchmal hat die Wahrheit unbeabsichtigte Folgen.

    3

    Sein Angriff kam aus dem Nichts.

    Mit wilden Flüchen ging Caligula von der Seite auf mich los. Er riss mich zu Boden, setzte sich auf mich und schlug mir mit der Faust ins Gesicht, bevor ich überhaupt reagieren konnte. Ich riss die Arme hoch, um die Schläge abzuwehren, doch er zog einen Arm weg. Ich konnte mich nicht wehren. Seine Faust donnerte auf meinen Kiefer – mit dem dumpfen Geräusch von Knochen auf Knochen. In meinem Mund schmeckte ich Blut, vor meinen Augen tanzten Sterne.

    Ich drehte den Kopf zur Seite und versuchte die Schläge abzuwehren, doch blind vor Wut prügelte Caligula mit seiner rechten Faust weiter auf mich ein. Die anderen Jungen hatten einen Kreis um uns gebildet, und ich meinte, Marcus versuchte, mir zu helfen. Doch jemand hielt ihn zurück.

    Seneca?

    Niemand würde mir zu Hilfe eilen, am liebsten hätte ich geweint. Caligula hockte über mir und schlug immer weiter auf mich ein. Es gelang mir, meinen Unterarm schützend vor meinen Kopf zu schieben und mich zu einer kleinen Kugel auf die Seite zu rollen. Die Embryonalstellung würde ihn mit Sicherheit dazu bringen, aufzuhören. Stattdessen trat er mir in die Rippen und schlug mit der Faust gegen mein Ohr. Ich spürte etwas knacken und mich durchfuhr ein stechender Schmerz. Laut schrie ich auf.

    Irgendwie gelang es Marcus, sich loszureißen und Caligula in den Rücken zu stoßen, sodass dieser zur Seite fiel. Lukian packte Marcus und schleuderte ihn von uns weg. Doch mein Freund hatte mir genug Spielraum verschafft, um auf die Beine zu kommen und auf Caligula loszugehen.

    Dieses Mal war ich das wild gewordene Tier. Ich hatte mein eigenes Blut geschmeckt und war gedemütigt worden. Jetzt gab es nichts mehr zu verlieren. Meine Eltern hatten mich regelmäßig zum Ringen und Turnen geschickt, und obwohl Caligula fast sechs Kilo mehr wog, war ich drahtig und barst fast vor Wut. Ich warf ihn zu Boden und manövrierte ihn in einen Wiegegriff, den ich perfekt beherrschte. Einen Arm schlang ich um seinen Kopf, den anderen um seine Beine. Er versuchte, mich zu kratzen, doch ich drückte ihn noch fester und verlagerte mein gesamtes Gewicht auf seinen Körper, während ich ihm mit dem gleichen Arm, der um seine Beine geschlungen war, kurze Schläge ins Gesicht verpasste.

    »Genug!«, blaffte Seneca.

    Abrupt ließ ich los und sprang auf die Füße, während ich mir das Blut vom Mund wischte. Gleich würde Caligula aufspringen und mich erneut angreifen. Ich durfte ihn keinen Moment lang aus den Augen lassen.

    Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen begann sein Körper zu zucken. Zunächst nur leicht, doch schon bald wurde er von einem heftigen Krampfanfall geschüttelt. Seine Hände verzogen sich mit nach vorne geneigten Handgelenken in eine unnatürliche Haltung, während seine Finger in die Luft griffen. Ich stand einfach nur da und starrte ihn mit offenem Mund an. Er hatte den Kopf nach hinten gerissen, vor seinem Mund bildete sich Schaum.

    »Macht Platz«, rief Seneca, der in den Kreis trat und neben seinem Schüler niederkniete.

    Ich wich zurück, entsetzt darüber, was ich getan hatte. Würde er sterben?

    Seneca legte eine Hand unter Caligulas Kopf, sodass dieser noch weiter zurückfiel. Dann zog er seinen Trinkschlauch hervor, klemmte ihn Caligula zwischen die Zähne und griff nach dessen Zunge.

    »Morbus comitialis, die Versammlungskrankheit«, schnaufte Seneca atemlos, »wir müssen sofort einen Arzt rufen.«

    Einen Moment lang starrte ich völlig entsetzt und von Schuldgefühlen geplagt auf die beiden hinunter. »Komm schon«, rief ich Marcus zu, nachdem ich mich wieder gefangen hatte, und rannte los, die Via Appia hinunter in Richtung Stadt. Ich war wahrscheinlich der schnellste Junge der Klasse. Außerdem fühlte ich mich persönlich verantwortlich für das, was auch immer Caligula gerade durchmachte. Hatte ich etwa gerade den Großneffen des Kaisers umgebracht?

    Schon bald hatte ich Marcus weit hinter mir gelassen. Angetrieben von meiner Angst lief ich so schnell, dass meine Lungen brannten. Ich rannte an einer Gruppe Reisender vorbei – Händler mit Karren, die von Mauleseln gezogen wurden, ein einsamer Reiter, eine erschöpft aussehende Familie, die sich den Weg entlangschleppte, eine Gruppe von Schauspielern, ein kleines Regiment von Soldaten. Bei jeder Gruppe fragte ich atemlos nach, ob einer von ihnen Arzt sei oder ob sie wüssten, wo ich einen finden könnte. Dabei drosselte ich meine Geschwindigkeit gerade genug, um die Antwort noch mitzubekommen. Das Bild von Caligula, wie er sich mit nach hinten gerollten Augen am Boden wand, wollte mir einfach nicht aus dem Kopf gehen. Ich lief noch schneller, mit durstiger, ausgetrockneter Kehle, während meine Muskeln mir langsam den Dienst versagten. »Ich brauche einen Arzt!«, schrie ich jedem, dem ich begegnete, entgegen.

    Ich weiß nicht, wie lange ich rannte. Vielleicht waren es zehn Minuten, vielleicht auch dreißig. Endlich traf ich in einer kleinen Karawane auf einen Mann, der behauptete, Arzt zu sein. Völlig außer Atem erklärte ich ihm, was passiert war.

    Als ich Caligulas Namen erwähnte, schossen die grauen Augenbrauen des Arztes in die Höhe und er fiel mir ins Wort. »Meinst du etwa Caligula, den Sohn des Germanicus?«

    »Ja! Und er erleidet gerade einen Anfall!«

    Schnell holte sich der Mann die Erlaubnis einer Familie ein, die in einer Sänfte reiste, zog mich hinter sich auf sein Pferd und trieb das Tier im Galopp die Straße hinunter. Ich hielt mich, so gut es ging, fest, während wir an Marcus vorbeiflogen, der in die entgegengesetzte Richtung unterwegs war. Ich rief ihm zu, und er drehte sich mit großen Augen und ausgestreckten Handflächen zu uns um. Mit Handgesten forderte ich ihn auf, uns schnell zu folgen.

    Auf dem Weg zurück zu meiner Klasse rasten mir die Gedanken in Windeseile durch den Kopf – schneller als das Pferd, das mich trug. Ich ging vom Schlimmsten aus. Caligula war tot. Ich war schuld. Und auch Seneca würde dafür verantwortlich gemacht werden, dass er nicht vorher eingeschritten war. Ich betete zu den Göttern, dass sie gnädig genug waren, Caligulas und mein Leben zu verschonen.

    Als wir ankamen, fiel mir ein Stein vom Herzen. Caligula und die anderen saßen einfach nur da und unterhielten sich, als sei nichts geschehen. Schwitzend und zitternd stieg ich vom Pferd. Vor Stress und Erschöpfung wären mir fast die Beine weggeknickt.

    Seneca nahm den Arzt beiseite und unterhielt sich kurz mit ihm. Caligula würdigte mich keines Blickes.

    Doch meine Erleichterung sollte nur von kurzer Dauer sein. Nach Meinung des Arztes könne man erst mit Gewissheit sagen, dass der Krampfanfall überstanden sei, nachdem man den Patienten zur Ader gelassen und das schlechte Blut entfernt habe. Als er ein Operationsmesser und ein Gefäß aus der Satteltasche zog, bemerkte ich, wie Caligula blass wurde.

    Er versicherte Seneca, dass es ihm wieder gut gehe, und verlangte, in Ruhe gelassen zu werden. Doch Seneca beachtete ihn nicht. Der Arzt strahlte jene entschlossene, aber beruhigende Autorität aus, die mit dem Alter kam. Caligula machte ein finsteres Gesicht, warf mir einen hasserfüllten Blick zu und tat, wie ihm geheißen wurde.

    Der Arzt setzte sich neben Caligula und hielt dessen linkes Handgelenk fest. Dann wies er ihn an, wegzuschauen. Seneca hielt eine Schüssel unter Caligulas Unterarm. Mit dem Messer nahm der Arzt einen präzisen Schnitt in den Arm vor, bei dem mir allein schon vom Zusehen schlecht wurde. Caligula zuckte zusammen, versuchte aber, den harten Kerl zu markieren.

    Grellrotes Blut sprudelte in die Schüssel des Arztes, bis dieser zufrieden war, dass Caligula genug gelitten hatte. Er drückte ein Tuch auf die Wunde, welches sofort eine dunkelrote Farbe annahm und die Hände des Arztes besudelte.

    Ich schaute weg. Mein Magen verknotete sich und alles begann sich zu drehen. Nach allem, was bereits schiefgelaufen war, wollte ich nicht auch noch vor meinen Freunden ohnmächtig werden. Also setzte ich mich hin, steckte den Kopf zwischen die Knie, starrte auf den Boden und zwang mich, an etwas anderes zu denken.

    Plötzlich spürte ich die Hand des Arztes in meinem Nacken.

    »Einfach tief durchatmen«, riet er mir.

    Ich schaute auf. Obwohl sich die Welt noch verschwommen um mich drehte, schaffte ich es, bei Bewusstsein zu bleiben. Mein rechtes Auge war halb zugeschwollen, und mein Ohr schmerzte. Genau wie mein Wangenknochen, und ich fragte mich, ob er wohl gebrochen war.

    Nach einer kurzen Untersuchung stellte der Arzt fest, dass ich keine ernsthaften Verletzungen davongetragen hatte.

    Seneca dankte dem Mann und bezahlte ihn fürstlich. Dann zwang er Caligula und mich, uns die Hände zu reichen und uns beieinander zu entschuldigen.

    Ich schaute Caligula direkt in die Augen und sagte ihm, dass es mir leidtue, schlecht über seinen Vater gesprochen zu haben. Sein Händedruck war schwach, und auch wenn er ein paar Zentimeter größer war, schämte ich mich dafür, was ich ihm angetan hatte. Er hatte nur versucht, seinen Vater zu verteidigen, der von einem Feigling ermordet worden war.

    »Ich weiß, dass du nur die Fragen beantwortet hast, die dir gestellt wurden«, erwiderte Caligula. Er sprach langsam, sein Gesicht war noch immer weiß von Blutverlust, und ich spürte seine Verbitterung unter der Oberfläche lauern. »Tut mir leid, dass ich dich verprügelt habe«, sagte er.

    Die Bemerkung war ein Manöver, um sein Gesicht zu wahren. Eine Erinnerung daran, dass Caligula mich fertiggemacht hätte, wäre Marcus nicht eingeschritten.

    Doch niemand der Anwesenden würde den Zwischenfall so in Erinnerung behalten. Ich hatte ihn zu Boden gerungen, und er war von Krampfanfällen heimgesucht worden. Er war es, der einen Arzt gebraucht hatte, nicht ich.

    »Entschuldigung angenommen«, antwortete ich selbstbewusst.

    Doch der Ausdruck in Caligulas Gesicht verriet mir, dass in dieser Sache noch nicht das letzte Wort gesprochen war.

    4

    In der folgenden Nacht, die wir in den Baracken verbrachten, schlief ich unruhig. Die Gedanken an mögliche Folgen der Ereignisse des Tages wollten mir einfach keine Ruhe lassen. Meine Gefühle waren zwiegespalten. Ich war stolz darauf, mich gegen Caligula behauptet zu haben, dennoch hatte ich Mitleid mit ihm. Ihm zusehen zu müssen, wie er sich auf dem Boden wand, während ihn alle angafften, war keine angenehme Erfahrung gewesen. Wir mussten versprechen, niemandem von seiner Krankheit zu erzählen, doch ich wusste: Es war schwierig, das geheim zu halten.

    Mein schmerzendes Gesicht und meine geschwollenen Ohren erinnerten mich daran, dass mir keine andere Wahl geblieben war, als zurückzuschlagen. Schon bei anderen Gelegenheiten hatte Seneca die Situation ähnlich gehandhabt, indem er seinen Schülern erlaubte, die Streitigkeit durch einen Kampf auszufechten und sich später die Hände zu reichen. Meiner Meinung nach wusste Seneca, dass ich Caligula gewachsen war, oder vielleicht war er auch der Meinung, ich müsse ein wenig abgehärtet werden. Aber jetzt, Stunden später, lag das Problem nicht länger bei mir. Caligula war derjenige, der die Sache nicht auf sich beruhen lassen wollte.

    Den Rest des Tages hatte er mir deutlich gezeigt, wie sehr er mich verachtete. Ich sah ihn mit Lukian und anderen zusammensitzen und Pläne schmieden, während er immer wieder in meine Richtung blickte. Alle Zeichen deuteten auf einen Vergeltungsschlag, und die anderen Jungen hielten Abstand von mir – natürlich mit Ausnahme meines kleinen Freundes Marcus, der mir wie ein Schatten folgte.

    Da ich davon ausging, dass Caligula und seine Freunde im Schutze der Dunkelheit zuschlagen würden, entschloss ich mich, die ganze Nacht wach zu bleiben. Doch die Ereignisse des Tages waren ermüdend gewesen, und die gleichmäßigen Atemgeräusche der anderen Jungen erschwerten mir meinen guten Vorsatz. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wann genau ich einschlief, doch irgendwann konnte mein erschöpfter Körper den Befehlen keine Folge mehr leisten, die er von meinem von Verfolgungswahn geplagten Verstand erhielt.

    An das Erwachen hingegen erinnere ich mich noch, als wäre es gestern geschehen.

    Sie zerrten mich von meinem Lager und warfen mich zu Boden, noch bevor ich überhaupt wusste, was los war. Jemand drehte mir die Hände hinter den Rücken, während ein anderer Angreifer mir ein Stück Stoff in den Mund stopfte. Ein Dritter verband mir die Augen. Ich versuchte zu schreien, doch meine Schreie wurden durch das Tuch in meinem Mund gedämpft. Jemand drückte mir mit voller Wucht sein Knie ins Kreuz, und ein weiterer Junge presste meinen Kopf mit seinem Ellenbogen zu Boden. Meine Angreifer banden mir hastig die Handgelenke hinter dem Rücken zusammen, wobei sie sich die ganze Zeit flüsternd unterhielten. Dann fesselten sie meine Fußgelenke und zogen den Knebel fest, indem sie das Tuch hinter meinem Kopf zuknoteten.

    Vor Angst schlug mir mein Herz bis zum Hals.

    Sie drehten mich auf die Seite und jemand trat mir in den Magen. Ich rang nach Luft.

    Dann zogen sie an den Seilen, die an meinen Füßen und Handgelenken befestigt waren. Ich trat und zappelte, doch meine Bewegungen erhöhten nur den Druck von allen Seiten. Starke Hände hielten mich, drückten mich zu Boden. Jemand zog die Fesseln an meinen Handgelenken und Knöcheln zu einem großen Knoten hinter meinem Rücken zusammen. Ich hörte auf, mich zu winden, und versuchte, einfach nur zu atmen.

    Sie packten mich an Armen und Beinen und trugen mich, mit dem Gesicht nach unten, zur Tür der Baracke hinaus und die Straße hinunter. Dem Geräusch der Schritte nach musste es sich um mindestens zehn oder zwölf Jungen handeln. Ich konnte sie flüstern und leise lachen hören, als sie diskutierten, welche Richtung sie einschlagen sollten.

    Ich versuchte, mich zu beruhigen, indem ich mir all die Streiche vor Augen hielt, die wir einander gespielt hatten. Da ich meistens mit Lernen beschäftigt war, nahm ich nur selten an solchen Späßen teil, war aber schon oft genug das Opfer gewesen. Ich redete mir ein, diesmal werde es nicht anders ablaufen. Seneca hatte uns im Stoizismus unterrichtet; ich wusste, wie ich mich von Leid oder Demütigungen lösen konnte.

    Zumindest in der Theorie.

    Doch in Wirklichkeit raste mir ein angsterfüllter Gedanke nach dem anderen durch den Kopf. Was mochten meine Klassenkameraden wohl mit mir vorhaben? Angesichts der entsetzlichen Demütigung, nun als Zielscheibe für ihre Schikanen zu dienen, füllten sich meine Augen unter der Augenbinde mit Tränen. Sie lachten mich aus und amüsierten sich köstlich. Ich war der Junge, der nie gelernt hatte, wie man dazugehörte. Der Junge, der nur einen einzigen wahren Freund an der ganzen Schule hatte.

    Es kam mir vor, als würden sie mich eine Ewigkeit tragen, wobei sie ab und zu haltmachten, um sich abzuwechseln. Schließlich hielten sie an und legten mich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden. Sie rollten mich auf die Seite und durchschnitten die Seile, die meine Hand- und Fußgelenke aneinanderfesselten. Allmählich spürte ich, wie das Blut wieder in meine Hände zurückkehrte und ich die Beine ausstrecken konnte. Als sie meine Handfesseln auftrennten, riss ich sofort meine Arme los und schlug wild um mich, doch meine Gegner waren mir zahlenmäßig weit überlegen und umklammerten meine Arme mit eisernem Griff. Ohne mir die Augenbinde oder den Knebel abzunehmen, drehten sie mich herum. In meinem Rücken spürte ich einen Balken.

    Plötzlich wurde mir klar, was sie vorhatten. Ich sollte gekreuzigt werden!

    Das Flüstern wurde aufgeregter, und ich meinte, ein paar der Stimmen zu erkennen. Mein Herz schlug wie verrückt, doch ich schaffte es einfach nicht, mich zu befreien. Einer von ihnen musste diesem Wahnsinn doch ein Ende bereiten! Sie würden darüber lachen, was für einen Riesenschrecken sie mir eingejagt hatten, nachdem sie mich – gedemütigt, aber unverletzt – laufen ließen. Sie würden mich nicht wirklich an ein Kreuz nageln.

    Oder doch?

    Als ich hörte, wie jemand von einem Hammer sprach, lief es mir eiskalt den Rücken herunter und jeder Muskel in meinem Körper verspannte sich. Der Knebel verwandelte meine Hilfeschreie in ein gedämpftes Stöhnen. Ich hörte sie einen kleinen Holzblock an den vertikalen Balken des Kreuzes nageln, irgendwo unter meinen Füßen. Mittlerweile weinte ich hemmungslos, meine Atmung war nur noch ein abgehacktes Schluchzen. Sie rissen mir die Arme zu den Seiten hoch und bogen sie über den Querbalken. Dann fixierten sie meine Handgelenke mit Seilen, sodass meine Trizepse auf dem Holz ruhten. Meine Beine banden sie an dem vertikalen Balken fest, wobei mir die Seile kurz unter den Knien und an den Knöcheln ins Fleisch schnitten.

    »Versetzt den Block ein wenig nach oben«, sagte eine Stimme. Doch die anderen meinten, seine Position müsse nicht geändert werden.

    Es stand außer Frage: Dies war kein Dummejungenstreich mehr. Seneca hatte uns erzählt, dass manche Gefangenen mehrere Tage an ihren Kreuzen hingen, während andere schon nach ein paar Stunden starben. Mein Gefühl der Scham und Erniedrigung wurde von echter Todesangst abgelöst. Ich war vierzehn Jahre alt. Warum musste ich so etwas durchmachen?

    Plötzlich wurde meine schreckliche Angst von einem kurzen Hoffnungsschimmer durchbrochen. Ich lag zwar auf dem Kreuz, an den Querbalken und vertikalen Balken gefesselt, geknebelt und mit verbundenen Augen, aber ich spürte keine Hände mehr auf mir. Vielleicht würden meine Peiniger mich einfach hier zurücklassen, bis mich irgendein Vorübergehender entdeckte. Dann wäre zwar meine Demütigung vollkommen, aber zumindest müsste ich in diesem Fall nicht befürchten, wie ein gewöhnlicher Krimineller zu sterben.

    Ich merkte, dass sich meine Angreifer einen Moment zurückgezogen hatten und etwas diskutierten. Würden sie mich losschneiden und weglaufen, bevor ich die Augenbinde abnehmen konnte? Gingen sie davon aus, dass ich meine Lektion gelernt hatte?

    Doch dann schien sich jemand über mich zu beugen. Ich fühlte, wie mir etwas Scharfes in die Seite ritzte, und wusste in dem Moment, dass sie mir meinen Subligar, den geknoteten Lendenschurz, den ich zum Schlafen trug, durchtrennt hatten. Nun lag ich komplett nackt da, vollkommen erniedrigt, und wünschte verzweifelt, ich könnte irgendwie meine Blöße bedecken.

    Einige Jungen hoben das Kreuz an und drehten es herum, sodass mein Gesicht zum Boden gewandt war. Dann entfernten sie die Augenbinde und den Knebel. Es war noch dunkel draußen, fast pechschwarze Nacht,

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