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Der rote Apparat: Chinas Kommunisten
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eBook509 Seiten8 Stunden

Der rote Apparat: Chinas Kommunisten

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Über dieses E-Book

Chinas Kommunistische Partei ist die mächtigste politische Organisation der Welt. Aus dem Verborgenen heraus kontrolliert sie jede noch so kleine kommunale Entscheidung, steuert aber auch mit verblüffender Wirksamkeit die Medien, das Militär, die Industrie, die Geldströme im In- und Ausland. Das wirtschaftlich derzeit erfolgreichste Land der Welt, eine mächtige, stetig expandierende globale Supermacht, besitzt eine intransparente politische Führungsschicht, alle Entscheidungen sind dem Auge der Öffentlichkeit entzogen.

Richard McGregor, über viele Jahre Korrespondent der Financial Times in Peking, enthüllt in seinem unterhaltsamen, anekdotenreichen und präzise recherchierten Buch die Geschichte, Strukturen und geheime Funktionsweisen dieser Partei, die das Schicksal der Volksrepublik lenkt und damit wesentlichen Einfluss auf die Welt nimmt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum25. Apr. 2013
ISBN9783882210989
Der rote Apparat: Chinas Kommunisten

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    Buchvorschau

    Der rote Apparat - Richard McGregor

    China.

    1. DER ROTE APPARAT

    Die Partei und der Staat

    »Die Partei ist wie Gott. Er ist überall. Man kann ihn nur nicht sehen.« (Ein Universitätsprofessor aus Peking)

    Neun Männer schritten zur Bühne in der Großen Halle des Volkes, dem imposanten im sowjetischen Stil erbauten Gebäude an der Westseite des Tiananmen-Platzes im Herzen Pekings. Es war die Schlussveranstaltung des Parteitags der Kommunistischen Partei Chinas im Jahr 2007. Als sie sich aufgestellt hatten, waren sie kaum noch zu unterscheiden. Alle neun trugen dunkle Anzüge und alle, bis auf einen, eine rote Krawatte. Alle zierte eine glatte, tiefschwarze Haartolle, die von der Vorliebe hoher chinesischer Politiker zeugte, sich regelmäßig die Haare zu färben – eine Gewohnheit, die nur durch den Rückzug aus der Politik oder eine Gefängnishaft ein Ende findet. Hätte man die Gelegenheit gehabt, sich ihre Biografien anzuschauen, hätte man noch weitere auffallende Ähnlichkeiten entdeckt. Bis auf einen hatten alle eine Ingenieursausbildung, und bis auf zwei waren alle Mitte sechzig. Welche Tätigkeit die neun Männer nach Abschluss ihres Studiums auch ausgeübt hatten, sie hatten immer parallel dazu eine Funktion in der Partei innegehabt. Sie waren also während ihres ganzen Arbeitslebens Vollzeitpolitiker gewesen, auch wenn sie zwischendurch kurze Zeit für die Durchführung oder Beaufsichtigung beruflicher Aufgaben abgestellt worden waren. Ihre Herkunft variierte leicht. Einige hatten sich aus der Armut nach oben gearbeitet. Andere waren »Prinzen«, also privilegierte Sprösslinge ehemaliger hoher Funktionäre. Sie waren zwar in unterschiedliche Netzwerke eingebunden, aber alle grundlegenden politischen Unterschiede zwischen ihnen waren bei ihrem Aufstieg durch die von ihnen verlangte unerbittliche Parteidisziplin ausgemerzt worden.

    Wie in der kommunistischen Tradition üblich, hatten die neun verhalten klatschend die Bühne betreten und sich für die bevorstehende Zeremonie in einer Reihe aufgestellt. Die Massenmedien und die Regierungsvertreter, die dem Ritual beiwohnten, das mit düsterem theatralischen Pomp durchgeführt wurde, achteten nicht darauf, dass sie, als sie zur Bühne gingen, ein auffallend ähnliches Erscheinungsbild boten und dass sie eine ähnliche Karriere gemacht hatten. Entscheidend war die Reihenfolge, in der sie auftraten, da sie die Hierarchie der obersten Führung für die nächsten fünf Jahre festlegte und die Nachfolge für das gesamte darauffolgende Jahrzehnt, also bis 2022, regelte. Vor einem zwanzig Meter breiten Gemälde, das eine Herbstszene an der Chinesischen Mauer zeigte, blieben die neun stehen. Sie waren in steifer Haltung aufgereiht und warteten darauf, von dem Mann an der Spitze der Reihe, Hu Jintao, dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei, als die gewählten Führer ihres Landes vorgestellt zu werden.

    Vor dem Parteitag hatten die Behörden die bei politischen Großereignissen üblichen Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Die Wachen vor den Botschaften wurden verdoppelt; Polizei wurde an den Kreuzungen der Schnellstraßen postiert, und Dutzende von mürrischen Sicherheitsleuten in Zivil durchstreiften die Straßen rund um die Große Halle des Volkes. Pekinger Intellektuelle erhielten Rundbriefe, in denen sie aufgefordert wurden, ihre Meinung für sich zu behalten. Im September, einen Monat vor dem Parteitag, wurden Rechenzentren durchsucht und Server mit buchstäblich Tausenden von Websites für Wochen abgeschaltet. Am Stadtrand hatten die Behörden das Dorf der Bittsteller aufgelöst, in dem sich viele Leute aus den Provinzen aufhielten, die ihre Beschwerden vorbringen wollten.

    Seit Jahrhunderten unterhält die Zentralregierung in der Hauptstadt eine Nationale Petitionsbehörde, bei der Bürger Beschwerden über das Fehlverhalten von Behörden einreichen können. Doch vor dem Parteitag drohte Peking Politikern in den Provinzen Konsequenzen für ihre Karriere an, sollte es Einwohnern aus ihren Städten gelingen, in die Hauptstadt zu gelangen, um von ihrem Recht Gebrauch zu machen. Für den Fall, dass doch jemand den Sicherheitskordon überwand, hatten die Provinzen eine letzte Verteidigungslinie errichtet, um das Politbüro vor der Öffentlichkeit zu schützen: eine Reihe von »schwarzen«, nicht registrierten Gefängnissen, in denen Bittsteller festgehalten werden können, bevor sie wieder nach Hause geschickt werden. Mit dieser Methode konnte, nach außen hin, die Kriminalitätsrate niedrig gehalten werden.

    Die staatlichen Sicherheitskräfte, politische Aktivisten, Regierungsvertreter und ausländische wie chinesische Medien haben mit der Zeit gelernt, den Repressionsrhythmus zu verinnerlichen, der sich nach dem politischen Kalender richtet. Fernsehinterviews mit wichtigen Dissidenten werden am besten Monate vorher durchgeführt. Wenn der große Tag gekommen ist, wird persönlicher und sogar telefonischer Kontakt mit Parteikritikern unterbunden. Wan Yanhai, ein entschiedener Kämpfer gegen Aids, gehörte zu den vielen Aktivisten, die von der Straße weggeholt und vorübergehend in Gewahrsam genommen wurden. Vor dem Jahrestag des brutalen militärischen Vorgehens gegen Demonstranten am 4. Juni 1989 wurde Wan aufgegriffen und ohne Anklage zwölf Stunden lang festgehalten, dann wieder einige Tage im August. «Meine Freiheit wurde eingeschränkt«, sagte er und wiederholte damit genau die Phrase, die die Staatssicherheit benutzt, wenn sie Leute von der Straße wegzerrt. Wan hatte das Gesundheitsministerium verärgert, weil er versucht hatte, die Regierung wegen verseuchter Blutkonserven zu verklagen. Und weil er offen und unerschrocken Freundschaft mit Dissidenten pflegte, blieb er im Visier der Staatssicherheit. Bei jeder Gelegenheit wurde Wan in Hotelzimmern festgehalten und dort von den Behörden über seine Ansichten zur Partei befragt und belehrt. »Es ist ihnen sehr wichtig, unsere Gedanken zu kontrollieren«, resümierte er später.

    In den Jahren und Monaten vor der Wahl der Führung hatte es keine öffentlichen Vorwahlen, Vorentscheidungen oder Stichwahlen gegeben, genauso wenig wie erbitterte Auseinandersetzungen, die im Westen im Vorfeld von Wahlen an der Tagesordnung sind. Das dramatische Ereignis in China zu verfolgen, war ungefähr so, als hätte man vor einer großen, befestigten, von Wassergräben und Wachen umgebenen Burg gestanden und hätte beobachtet, wie die Lichter an und aus gingen und Besucher hinein- und hinaushuschten. Mitunter waren hinter den dicken Mauern laute Stimmen zu hören. Manchmal deutete alles auf einen schwierigen Konflikt hin, dann wurden Verursacher von Korruptionsskandalen, Opfer von Fraktionskämpfen oder Verantwortliche für schiere Misswirtschaft »hinausgeworfen«, das heißt entweder in den Ruhestand oder ins Gefängnis geschickt. Im Vorfeld des Parteitags von 2007 war der Parteichef von Chinas Wirtschaftsmetropole Shanghai gestürzt worden. Einen solchen Skandal, in den hohe Funktionäre verwickelt waren, hatte es in den vorhergehenden zehn Jahren nicht gegeben. Es hatte jahrelanger intensiver Verhandlungen unter Spitzenfunktionären bedurft, um ihn aus der Welt zu schaffen.

    Die Partei stellt ihre neue Führung und damit auch die Führung der Regierung und des Landes der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten auf die gleiche Weise vor. Wie bei jeder wichtigen politischen Kraftprobe gab es komplizierte, nicht-öffentliche Verhandlungen über die Kandidaten, und in manchen Fällen fanden schon lange vorher erbitterte Auseinandersetzungen zwischen den Kandidaten selbst oder Stellvertretern statt, und es wurden politische Debatten über Wirtschaft, politische Reformen und Korruption geführt. Die ausländische Presse und die Presse von Hongkong verfolgten die internen Machtkämpfe so gut sie konnten, aber den lokalen Medien, die naturgemäß besser informiert waren, wurde Schweigen verordnet. Der Schleier, der über das Ereignis gebreitet worden war, machte die Bekanntgabe der neuen Führung zu einem seltenen Vorgang im modernen China – zu einem lebendigen öffentlichen Moment eines wirklich spannenden Politdramas. Für den einfachen Bürger waren die einzelnen Mitglieder und die Verteilung der Positionen der neuen Führung praktisch bis zu dem Augenblick ein Geheimnis, in dem sie unter den Blitzlichtern der Kameras die Bühne betraten.

    Nachdem Hu die Prozession zur Bühne geführt hatte, hielt er eine kurze Ansprache und stellte jeden der neun Männer mit Namen vor. Ein Mitarbeiter des Außenministeriums hatte das Ereignis zuvor als ein »Treffen« mit dem Politbüro beschrieben. »Dann können wir also Fragen stellen?«, erkundigte sich ein Reporter. »Nein«, antwortete der Mitarbeiter, »es ist eine Art Einbahnstraßen-Pressekonferenz.« Am nächsten Tag berichteten die lokalen Medien strikt nach den Vorgaben der Partei über die Pressekonferenz und befassten sich mit den genehmigten und gesäuberten Biografien der neuen Mitglieder des Politbüros, die von den amtlichen Nachrichtenagenturen verbreitet worden waren. Wenn man die chinesischen Zeitungen am nächsten Morgen durchging oder sich ihre Nachrichten im Netz ansah, traute man seinen Augen nicht: Der Wortlaut der Schlagzeilen und Artikel sowie die Auswahl, Größe und Platzierung der Fotos waren überall genau gleich.

    Führende chinesische Politiker reagieren mit Erstaunen, wenn Kritiker meinen, ihr Aufstieg sei nicht gerade demokratisch gewesen. Als Hu Jintao einige Monate später, im Mai 2008, eine Schule für chinesische Kinder im japanischen Yokohama besuchte, wurde er von einem arglosen achtjährigen Schüler gefragt, warum er Präsident sein wolle – ein Amt, das ihm nach seiner Wahl zum Parteichef zustand. Nachdem sich das nervöse Lachen im Klassenzimmer gelegt hatte, antwortete Hu, er habe dieses Amt nicht gewollt. »Es war das Volk im ganzen Land, das mich gewählt hat und mich als Präsidenten wollte. Ich konnte das Volk doch nicht enttäuschen.« Auch Jiang Zemin, Hus Vorgänger als Generalsekretär und Präsident, sagte in einer amerikanischen Fernsehsendung im Jahr 2000, »dass auch er gewählt wurde«, wenngleich er einräumte, dass die Wahlsysteme in den beiden Ländern »unterschiedlich« wären.

    Beim Parteitag 2007 durften die Delegierten – in manchen Fällen mussten sie sogar – mit den Medien sprechen, um der Welt ein transparenteres und freundlicheres Bild der Partei zu vermitteln. Es ist ja nicht so, dass die Partei nichts Interessantes zu bieten hätte, denn seit einigen Jahren kann sie eine breiter gefächerte Mitgliederschar vorweisen. Viele private Unternehmer und Unternehmerinnen, die der Partei beitraten oder sich offen zu ihrer bereits bestehenden Mitgliedschaft bekennen durften, nachdem Jiang Zemin die Partei 2002 für private Unternehmer geöffnet hatte, sind dynamische Persönlichkeiten mit bewegenden Lebensgeschichten, darunter auch die vom Tellerwäscher, der zum Millionär wurde. Aber selbst wenn die Partei sich von ihrer besten Seite zeigen möchte, ist sie ausweichend und misstrauisch.

    Als ich Chen Ailian traf, eine von Chinas neuen Millionärinnen, Parteimitglied und Delegierte, erzählte sie zunächst begeistert von ihrem Unternehmen. Die Geschichte von Chens Unternehmen war so verrückt und wunderbar, wie man sie in China häufig zu hören bekommt. Sie sagte, sie sei Anfang der 1990er Jahre in die Autoindustrie eingestiegen, weil sie »Autos liebte«. Viele Millionen Dollar später war ihr privates Unternehmen zum größten Hersteller von Alufelgen in Asien geworden und hatte auch in den USA Büros eröffnet. Chen besaß einen Rolls-Royce (für besondere Gelegenheiten), einen Mercedes (für den täglichen Gebrauch) und einen Isuzu-SUV für Geschäftsreisen. Doch als das Gespräch auf die Partei kam, wurde sie schlagartig zum Automaten. Selbst auf die harmlosesten Fragen antwortete sie in einem ehrfürchtigen Flüsterton. Ihre Antworten wurden ernst, knapp und trocken und bestanden überwiegend aus offiziellen Parolen.

    An der Spitze des Systems steht Hu. Als Generalsekretär der Kommunistischen Partei, eine Position, die höher ist als seine beiden anderen Ämter als Präsident und Oberbefehlshaber der Streitkräfte, verfügt er über gewaltige Macht und bestimmt die Parameter der Regierungspolitik. Hu, der selbst politischen Insidern Rätsel aufgibt, hatte in seiner ersten fünfjährigen Amtszeit versucht, sich ein an die Kaiserzeit gemahnendes Erscheinungsbild zuzulegen. Das begann 2002, als er sich in der Rolle eines gütigen Kaisers präsentierte, dessen Eingreifen in die Politik ebenso weise und gewichtig wie selten war. Nachdem er einst dem Reformlager zugerechnet worden war, trübte sich die Klarheit, die seine Politik gekennzeichnet hatte, in dem Maße ein, in dem er zu Beginn der neunziger Jahre zum »rechtmäßigen Thronfolger« aufstieg.

    Für einen Mann in seiner Position war es ein Leichtes, sein Image aufzupolieren. Seiner Tante, die ihn ab dem Alter von fünf Jahren aufgezogen hatte und die für einige ausländische Journalisten eine der wenigen Quellen ungefilterter Informationen gewesen war, wurde von örtlichen Funktionären untersagt, mit Reportern zu sprechen, sobald er zum Generalsekretär nominiert worden war. Die Funktionäre hatten sogar alle Kinder- und Jugendbilder von Hu aus ihrem Haus entfernen lassen, damit sie nicht in die Hände von Reportern gerieten und Eingang in eine unabhängige, von der Partei nicht autorisierte Lebensbeschreibung finden würden. Die Bilder des jungen Hu, die 2009, sieben Jahre nach seiner Ernennung, ins Internet gestellt wurden, waren harmlos und nett und zeigten einen jugendfrischen Oberschüler auf Klassenausflügen; doch die örtlichen Funktionäre, die zur Zeit seines Aufstiegs im Amt waren, wollten keine Verantwortung für ihre Veröffentlichung übernehmen.

    Hu war sehr darauf bedacht gewesen, möglichst wenig von sich preiszugeben. In seiner ersten Amtszeit gab er weder der einheimischen noch der ausländischen Presse ein Interview. Im Vorfeld der Olympischen Spiele in Peking im August 2008 gab Hu vor fünfundzwanzig ausländischen Journalisten eine kurze Pressekonferenz, nachdem alle ihre Fragen im Vorfeld sorgfältig geprüft worden waren. Seine Verlautbarungen, die regelmäßig in People’s Daily, dem Sprachrohr der Partei, erscheinen, gewähren nur wenige Einblicke in seine persönlichen Auffassungen. Ein chinesischer Kommentator verglich seine politischen Aussagen mit einer watschelnden Ente: Mit ihren nach außen gerichteten Füßen hält sie unbeholfen ein Gleichgewicht, das nur von fern stabil wirkt.

    Hus konsequente Arbeit an seinem Image hätte wie ein Rückfall in eine frühere, autoritärere Phase des Kommunismus wirken können. Verglichen mit seinen Vorgängern, war Hu eine farblose Gestalt, hölzern und steif. Deng Xiaoping umgab dagegen die Aura eines Revolutionärs, wenngleich er von den jahrelangen Kämpfen gegen die unheilvollen politischen Kampagnen Maos gezeichnet war. Er verwies stolz auf seine Wurzeln im ländlichen Sichuan, und als er zu Anfang der achtziger Jahre Margaret Thatcher in Peking traf, spuckte er geräuschvoll in seinen Spucknapf, während er Margaret Thatcher einen einschüchternden Vortrag über Hongkong hielt. Jiang Zemin, Hus unmittelbarer Vorgänger, sang gerne vor Publikum und gab in englischer Sprache Auszüge aus der Gettysburg Address und anderen kanonischen polithis-torischen Schriften des Westens zum Besten. Und Mao war trotz aller Schrecknisse, die er über das chinesischen Volk brachte, eine charismatische Persönlichkeit, die für ihre einprägsamen Aphorismen bekannt war, die noch heute zum literarischen, politischen und wirtschaftlichen Leben Chinas gehören.

    Hu besitzt weder Dengs bodenständige Energie noch Jiangs clownhafte Jovialität noch Maos natürliche, Furcht einflößende Autorität. Er hat keinen Akzent, der auf seine regionalen Wurzeln verweist, und auf ihn gehen auch keine Zitate zurück, die in den Rang von Volksweisheiten erhoben wurden. Beim G8-Gipfel im schottischen Gleneagles im Jahr 2005 bereitete ein britischer Diplomat ein informelles, zwangloses Treffen der führenden Politiker vor, an dem auch Hu teilnehmen würde. Als es um die Gestaltung des geplanten Treffens ging, wurde der Diplomat von seinem chinesischen Gesprächspartner kurzerhand abgefertigt: »Für so etwas ist Präsident Hu nicht zu haben.« Hu, der Inbegriff des Berufspolitikers und Parteibürokraten, war stets auf Konsens bedacht und ging dabei umsichtig zu Werke, er war ein »hao haizi« oder »good boy«, wie es seine Kritiker formulierten. Doch Hus unauffälliges und bescheidenes Auftreten hatte beileibe nichts Altmodisches, er passte sehr gut in seine Zeit. Unter den heute in China herrschenden komplexen Bedingungen wollen die Partei, Hus gleichgestellte Genossen und auch das Volk nicht mehr von einer starken Hand regiert werden, wie es unter Mao und Deng der Fall war, die zu ihrer Zeit an der Macht über der Partei standen. Trotz seiner Machtfülle lebte Hu im Schatten der Partei – nicht umgekehrt.

    Dass er sich vor seiner Beförderung zum Parteisekretär eher im Hintergrund aufhielt, zeigte, dass die Partei auf Kosten ihrer Führer wuchs. Als Hu nach seiner Aufnahme in den Ständigen Ausschuss des Politbüros 1992 zum Anwärter auf den Posten des Generalsekretärs aufstieg, konnte er sich keinen Fehler im Wettbewerb um dieses Amt leisten, da er im Politbüro über keine Machtbasis verfügte. Als er zehn Jahre später das Amt übernahm, hatte er nur wenige loyale Weggefährten und kein politisches Programm, das die Bürokratie verinnerlichen und als Richtschnur für ihr Handeln nehmen konnte. Erst in seiner zweiten Amtszeit bekam er den großen Parteiapparat sowohl in Peking als auch im übrigen Land fest in den Griff. Die meisten amerikanischen Präsidenten werden in den letzten Jahren ihrer Amtszeit zu »lame ducks«. Das politische System in China funktioniert dagegen dergestalt, dass Hu, genau wie Jiang Zemin vor ihm, seine Macht erst konsolidieren konnte, als seine Amtszeit sich ihrem Ende zuneigte.

    Da die Öffentlichkeit vom offiziellen politischen Betrieb ausgeschlossen ist, waren die neun Männer im inneren Zirkel des Politbüros, die sich am Ende des Parteitags auf der Bühne aufstellten, nur wenigen Bürgern bekannt. Hus Gesicht war den Leuten vertraut, auch wenn sie über ihn selbst so gut wie nichts wussten. Wu Bangguo, die Nummer zwei und Vorsitzender des Legislativorgans, war ein farbloser Funktionär aus Shanghai, der es nach oben geschafft hatte, ohne besonders aufzufallen. Wen Jiabao, Premierminister und die Nummer drei, hatte sein Image als ein Mann des Volkes sorgsam gepflegt, im Gegensatz zu seiner Ehefrau und seinem Sohn, die wegen ihrer Geschäfte traurige Berühmtheit erlangt hatten.

    Jia Qinglin, die Nummer vier, war ein großer, bullig wirkender Mann mit einem geröteten Gesicht. Sein Anzug spannte so sehr, dass man meinen konnte, er habe an zu vielen Banketten teilgenommen. Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen war Jia bekannt, und zwar nur deswegen, weil er als korrupt galt. Jia regierte die Provinz Fujian, als es dort zu einem schlimmen Korruptionsskandal kam, zum Fall Yuanhua, einem Zollbetrug, bei dem es um sechs Milliarden Dollar ging. Zahlreiche Amtsträger wurden wegen ihrer Verbrechen schon hingerichtet oder kamen ins Gefängnis, aber Jia und seine Frau, die ebenfalls unter Verdacht steht, wurden niemals zur Rechenschaft gezogen, entweder, weil die Beweise gegen sie nicht ausreichten, oder – was wahrscheinlicher ist – weil sie politische Rückendeckung bekamen. Wie er so dastand und auf die versammelten Medien blickte, von denen viele erwartet hatten, er würde im Vorfeld des Parteitags gestürzt werden und in Ungnade fallen, zeigte Jias gerötetes Gesicht das trotzig-höhnische Lächeln eines triumphierenden, gut genährten politischen Überlebenskünstlers.

    Andere Mitglieder des Ständigen Ausschusses, darunter zwei Mittfünfziger, die als Hus Nachfolger gehandelt werden, waren in den Provinzen, die sie regiert hatten, kaum aufgefallen. Als Xi Jinping, die Nummer sechs und zum »rechtmäßigen Thronfolger« gekürt, in den Ständigen Ausschuss aufgenommen wurde, war er weniger bekannt als seine Ehefrau, eine berühmte Sängerin mit militärischem Rang in der Volksbefreiungsarmee. Einige der Männer waren in den ihnen unterstellten Bereichen, wie Medien und Polizei, hervorgetreten, aber für die meisten Chinesen war das Politbüro ein abgehobenes Gremium, das zwar viel Macht besaß, aber ansonsten ein anonymes Gebilde war.

    Hus Rede war kurz und bestand fast nur aus Parolen, unter denen man sich schwer etwas vorstellen kann und die alle offiziellen politischen Diskurse beherrschen: »wissenschaftliches Entwicklungskonzept«, »harmonische Gesellschaft«, eine »fortgeschrittene sozialistische »Kultur« usw. In Partei- und Intellektuellenkreisen durchaus von Gewicht, weil diese Schlagworte Hus politische Linie kennzeichnen, sind sie für die breite Bevölkerung weitgehend bedeutungslos. Nach seinen Ausführungen geleitete Hu seine acht Kollegen von der Bühne. In den kommenden Jahren sollte der innere Zirkel des Politbüros nur selten noch einmal als Gruppe in der Öffentlichkeit auftreten. Die ganze Zeremonie hatte gerade einmal zehn Minuten gedauert.

    Auf den Schreibtischen der Leiter der fünfzig größten chinesischen Staatsbetriebe steht inmitten von Computern, Familienfotos und anderen Utensilien, die eine moderne Führungskraft so braucht, ein rotes Telefon. Für die Führungskräfte und ihre Mitarbeiter, die sofort zur Stelle sind, wenn es klingelt, ist es der »rote Apparat«; vielleicht weil die Bezeichnung »Telefon« ihm nicht gerecht wird. »Wenn der ›rote Apparat‹ klingelt«, sagte mir eine hochgestellte Führungskraft einer Staatsbank, »sollte man sofort abheben.«

    Der »rote Apparat« ist kein normales Telefon. Er hat nur eine vierstellige Nummer. Er stellt nur eine Verbindung zu ähnlichen Telefonen mit vierstelligen Nummern innerhalb ein und desselben abhörsicheren Telefonnetzes her. Diese Nummern sind heiß begehrt. Für die Führungsspitzen der staatlichen Unternehmen, die über alle modernen Kommunikationsmittel verfügen, ist der »rote Apparat« ein Zeichen dafür, dass sie es geschafft haben – nicht nur an die Spitze des Unternehmens, sondern auch in die höheren Ränge von Partei und Regierung. Die Telefone sind das ultimative Statussymbol, da sie nur an Leute vergeben werden, die mindestens den Rang eines stellvertretenden Ministers haben. »Sie sind sehr praktisch und auch sehr gefährlich«, sagte ein leitender Angestellter eines großen staatlichen Rohstoffunternehmens. »Man sollte genau wissen, wie man zu der Person steht, die man anruft.« Am unteren Endes des Flurs, in dem die Büros der Führungskräfte liegen, befindet sich ein zusätzlicher Raum für die interne Kommunikation, der von hohen Funktionären genutzt wird. Hier gehen gesicherte Faxe aus Zhongnanhai, dem Sitz der Führung, sowie aus anderen Bereichen des Regierungs- und Parteiapparats ein.

    »Rote Apparate« sind über ganz Peking verteilt; sie stehen in den Büros von Funktionären mit dem erforderlichen Rang, auf den Schreibtischen von Ministern und stellvertretenden Ministern, von Chefredakteuren der Parteizeitungen, des männlichen und weiblichen Führungspersonals der wichtigsten Staatsbetriebe und der Vorsitzenden von unzähligen von der Partei kontrollierten Gremien. Die Telefone und Faxe sind nicht nur verschlüsselt, um die Kommunikationsflüsse von Partei und Regierung vor dem Zugriff ausländischer Nachrichtendienste zu schützen, sie sollen auch verhindern, dass irgendjemand, der außerhalb des Partei- und Regierungssystem steht, herumschnüffelt. Der Besitz des »roten Apparats« bedeutet, dass man sich für die Mitgliedschaft in dem verschworenen Zirkel qualifiziert hat, einer kleinen Gruppe von – vornehmlich – Männern, die einen Staat mit einem Fünftel der Menschheit lenkt.

    Die moderne Welt ist voller Beispiele für Netzwerke von Eliten, die hinter den Kulissen eine Macht ausüben, die über ihre rein zahlenmäßige Stärke hinausgeht. Großbritannien hatte das »old boy network«, ein Begriff, der ursprünglich geprägt wurde, um die Verbindungen zwischen ehemaligen Schülern von Privatschulen zu beschreiben, die überwiegend von Mitgliedern der Oberschicht besucht werden. Frankreich hat »les énarques«, die Absolventen der exklusiven Ecole Nationale d’Administration in Paris, die einen Großteil des Führungspersonals in Wirtschaft und Politik stellen. Japan hat die Todai-Elite, Absolventen der Law School der Universität Tokio, die ein Sprungbrett in die langjährige Regierungspartei LDP, das Finanzministerium und die Wirtschaft darstellt. In Indien symbolisiert der exklusive Gymkhana Club die Elite, die eine englische Bildung genossen hat. Die USA haben die Eliteuniversitäten an der Ostküste, den Beltway, K Street und eine ganze Reihe anderer Adressen, die auf den von außen kaum erkennbaren Einfluss gut vernetzter Insider verweisen.

    Doch keine dieser Gruppen kann es mit der Kommunistischen Partei Chinas aufnehmen, die die Netzwerkbildung der herrschenden Klasse auf eine ganz neue Ebene hebt. Der »rote Apparat« verschafft dem Parteiapparat eine Direktverbindung zu dem weit verzweigten Geflecht des Staates, einschließlich der staatseigenen Firmen, die China überall auf der Welt als eigenständige Wirtschaftsunternehmen betreibt und fördert. Man stelle sich vor, welche Empörung es gegeben hätte, wenn Dick Cheney, der Vizepräsident unter George W. Bush und Verteidigungsminister unter dessen Vater George Bush, dem man Verbindungen zur Energieindustrie nachsagte, und der Vorstandsvorsitzende von Exxon Mobil sowie die Chefs anderer amerikanischer Energiekonzerne abhörsichere Telefone auf ihren Schreibtischen gehabt hätten, die eine ständige Kurzwahlverbindung zwischen ihnen ermöglicht hätten. Und um das Beispiel weiterzuführen: Was wäre wohl losgewesen, wenn der Vorstandsvorsitzende von Exxon Mobil ständig Partei- und Regierungsdokumente erhalten hätte, so wie die Führungskräfte chinesischer Staatsunternehmen sie aufgrund ihres Amtes und ihres Ranges erhalten? Der »rote Apparat« mit allem, was daran hängt, erfüllt genau diese Funktionen.

    Ein stellvertretender Minister erzählte mir, dass es bei mehr als der Hälfte der Anrufe, die er auf dem »roten Apparat« erhielt, darum ging, hohen Parteifunktionären einen Gefallen zu tun: »Kannst du meinem Sohn, meiner Tochter, meiner Nichte, meinem Neffen, Cousin oder guten Freund eine Stelle verschaffen?« Mit den Jahren hatte er eine Strategie entwickelt, mit diesen persönlichen Anfragen umzugehen: Er bejahte sie überschwänglich, fügte dann allerdings hinzu, dass der potenzielle Bewerber erst die schwierige Prüfung ablegen müsse, die für die Zulassung zum Staatsdienst erforderlich war und der sich nur wenige unterziehen wollten. Doch der »rote Apparat« hatte noch andere Verwendungszwecke. Als es noch keine Handys gab, nutzten gut vernetzte Investmentbanker, die nicht bis zu den Spitzenfunktionären vordrangen, den »roten Apparat« leihweise, wenn der Chef gerade nicht im Büro war, und riefen einen potenziellen erstklassigen Kunden direkt an. So altmodisch er im Zeitalter ausgeklügelter Mobiltelefone auch anmuten mag, der »rote Apparat« bleibt ein mächtiges Symbol für den beispiellosen Zugriffsradius der Partei, für strenge Hierarchien, eine minutiöse Organisation und eine obsessive Geheimhaltung. Das revolutionäre Rot des Telefons ist ebenfalls bedeutungsträchtig. In politischen Krisen macht sich die Partei Sorgen über die »sich verändernde Farbe« Chinas, eine Chiffre für den Machtverlust der roten Kommunisten.

    Ranghohe Parteimitglieder haben ein gesellschaftliches Ansehen, das über den Respekt hinausgeht, den Funktionäre in einem Land mit tief verwurzelten bürokratischen Traditionen ohnehin genießen. Als hätten sie einen diplomatischen Status in ihrem eigenen Land, leben sie in bewachten Wohnvierteln; indes sind auch ihre Möglichkeiten, ins Ausland zu reisen, beschränkt, und ihr Umgang mit Menschen außerhalb der offiziellen Zirkel und mit ihren engsten Familienmitgliedern unterliegt strengen Sicherheitsvorschriften. Wird ihnen eine Straftat zur Last gelegt, müssen sie sich zuerst vor der Partei und nicht vor den Justizorganen des Landes verantworten. Aber die Vorteile haben einen Preis, der über den persönlichen Stress und die Beeinträchtigung des Familienlebens hinausgeht, über die sich Funktionsträger auf der ganzen Welt beklagen. Die Mitgliedschaft in der Partei ist eine bindende Verpflichtung: Die Chinesen, die auf höhere Positionen befördert werden, müssen jede ihnen zugewiesene Aufgabe übernehmen und können die Partei nicht ohne gravierende Konsequenzen verlassen. Ab einer gewissen Ebene ähneln hohe Funktionäre Michael Corleone in Der Pate, der jedes Mal, wenn er versucht hatte, aus den Mafiageschäften der Familie auszusteigen, »zurückgeholt wurde«.

    Es kommt nicht von ungefähr, dass der Vatikan einer der wenigen Staaten ist, mit denen China seit der Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 keine diplomatischen Beziehungen unterhält. Der Stadtstaat, das Verwaltungszentrum der katholischen Kirche und Wohnsitz des Papstes, ist die einzige Organisation, die sich mit der Kommunistischen Partei Chinas vergleichen lässt, nur dass der Vatikan weltweit agiert; bei beiden spielen Rituale und Geheimhaltung eine ähnlich wichtige Rolle. Die Partei wacht ebenso akribisch und selbstgerecht über die Befolgung ihres Katechismus, wie der Vatikan seine Autorität in Glaubensfragen verteidigt. Nach jahrelangen immer wieder aufgenommenen und abgebrochenen Gesprächen vermochte es der Vatikan nicht, sein weltweites Recht auf Ernennung der Bischöfe gegen die Wünsche der Partei auch in China durchzusetzen. Bei den Verhandlungen zwischen Rom und Peking mangelte es nicht an selbstkritischem schwarzem Humor: Einer der inoffiziellen chinesischen Gesprächspartner Roms machte sich über die frappierenden Ähnlichkeiten zwischen der Partei und der katholischen Kirche lustig, als er 2008 den Vatikan besuchte. »Wir haben die Propagandaabteilung, und Sie haben das Evangelium. Wir haben die Organisationsabteilung, und Sie haben das Kardinalskollegium«, sagte er zu einem Mitarbeiter des Vatikans. Dieser fragte: »Was ist dann der Unterschied?« Der chinesische Gesprächspartner antwortete: »Sie sind Gott, wir sind der Teufel!«, was bei allen Beteiligten herzliches Lachen hervorrief.

    Wie der Vatikan hat auch die Partei immer dafür gesorgt, dass auf höchster Ebene getroffene Entscheidungen in der Familie bleiben. Hus abwegige Vorstellung, er sei vom »ganzen Land« gewählt worden, ließ die Tatsache außer Acht, dass die Delegierten des Parteitags von 2007 und früherer Parteitage die einzigen Bürger waren, die wählen durften. Außerdem konnten die etwas über 2200 Delegierten 2007 nicht zwischen mehreren Kandidaten wählen. Im Vorfeld des Parteitags waren bei chinesischen Politikwissenschaftlern falsche Hoffnungen geweckt worden: Es gab Vorschläge, wonach die Delegierten eine Kandidatenliste erhalten sollten, die es ihnen erlauben würde, in einer echten geheimen Abstimmung Kandidaten zu streichen, bis nur neun übrig bleiben würden. Intern wurde auch ein noch radikalerer Vorschlag diskutiert, der sich an die Entscheidung anlehnte, die die Kommunistische Partei Vietnams auf ihrem Parteitag in Hanoi im Jahr 2006 getroffen hatte: Um das Amt des Generalsekretärs sollten sich zwei Kandidaten bewerben. Beide Optionen wurden stillschweigend begraben, es wurde so gewählt, wie es bei Kommunisten von jeher üblich war.

    Die Namen der Gremien, durch die die Partei Macht ausübt – das Politbüro, das Zentralkomitee, das Präsidium und dergleichen –, verweisen auf ein Merkmal des modernen chinesischen Staates, das am häufigsten übersehen wird – er arbeitet noch mit sowjetischer Hardware. Wladimir Lenin, der Anführer der russischen Revolution, schuf ein System, in dem die herrschende Partei den Staat auf allen Ebenen durchdringt. Lenin selbst inszenierte sich zwar als Erlöser der Arbeiterklasse, aber die von ihm geschaffene Struktur war durch und durch elitär. An der Spitze des Systems wollte Lenin »so viel Zentralisierung wie möglich«, was es den selbsternannten Berufsrevolutionären erlaubte, nach unten durchzuregieren und einer Arbeiterklasse, der man nicht zutraute, sich über die Mühsal des Alltags zu erheben, ihren Willen aufzuzwingen. Auf der untersten Ebene des Systems, in den Fabriken und Parteiorganisationen an der Basis, wollte Lenin dagegen »so viel Dezentralisierung wie möglich«, sodass das Zentralkomitee auch über die kleinsten Vorgänge informiert war. Lenin schrieb: »Damit das Zentrum das Orchester tatsächlich dirigiert, muss es wissen, wer wo die Violine spielt, wer warum eine falsche Note spielt (wenn die Musik anfängt, den Ohren weh zu tun) und wie und warum es nötig ist, jemanden umzusetzen, um die Dissonanz zu beseitigen.«

    Das Zentralkomitee ist für die chinesische Partei eine Art erweiterter Vorstand, wie es ihn in Unternehmen gibt. Es umfasst 370 hauptamtliche und nebenamtliche Mitglieder, zu denen Minister, hohe Funktionäre in Aufsichtsbehörden in Peking, Oberhäupter von Provinzregierungen und großen Städten sowie eine große Anzahl von Militärs gehören. Einige Leiter der staatseigenen chinesischen Großkonzerne sind ZK-Mitglieder. Die übrigen Mitglieder kommen aus einer Vielzahl von Gruppen, die den Leviathan des chinesischen Staates ausmachen: von Vertretern der Minderheiten, wie den Tibetern, bis hin zum Leiter von Hu Jintaos Zentraler Personenschutzeinheit, des Geheimdienstes der Partei (im Volksmund Leibwächtertruppe genannt). Das Zentralkomitee wählt, oder um es genauer zu sagen, bestimmt die Mitglieder des Politbüros, das etwa fünfundzwanzig Mitglieder hat. Das Politbüro wiederum bestimmt die Mitglieder des Ständigen Ausschusses, des inneren Führungszirkels, der zur Zeit aus neun Mitglieder besteht.

    Die neun Männer, die 2007 auf der Bühne standen, waren die einzigen Kandidaten auf der den Delegierten vorliegenden Liste; nur sie galten als geeignet für die höchsten Führungspositionen. Dennoch war dies ein bedeutsamer Augenblick, da alle Hebel der politischen Macht, derer sich die Partei bedient, um ihre Kontrolle über die Regierung, das Land und die 1,3 Milliarden Menschen zählende Bevölkerung aufrechtzuerhalten, in den Händen dieser kleinen Gruppe lagen. Der innere Zirkel des Politbüros hat nicht die Aufgaben, die man vom höchsten Führungsgremium des Landes erwarten würde, jedenfalls nicht, wenn man sich die täglichen Verlautbarungen der Zentralregierung in Peking anhörte. Das Politbüro gibt die allgemeine politische Richtung für die Wirtschaft und die Diplomatie vor und war in den letzten Jahren mit den gigantischen Herausforderungen beschäftigt, vor denen China steht: eine rasant wachsende Nachfrage nach Energie, beispiellose Umweltverschmutzung und -zerstörung sowie die Lenkung der mobilen 700 Millionen zählenden Landbevölkerung. Die Mitglieder des Politbüros kennen sich in diesen Fragen aus und sind letztlich für die entsprechenden politischen Maßnahmen verantwortlich, aber sie leiten keine Ressorts, die sich mit tagespolitischen Aufgaben befassen, wie es Minister in einem Kabinett tun.

    Die Prioritäten des Politbüros liegen woanders. Es sichert den Zugriff der Partei auf den Staat, die Wirtschaft, den Staatsdienst, das Militär, die Polizei, das Bildungssystem, gesellschaftliche Organisationen und die Medien. Ferner lenkt es die offizielle Selbstdarstellung Chinas als eines Landes, das von einer geschwächten, zerrissenen und von Ausländern gedemütigten Macht wieder zu einem mächtigen Staat mit einer neu erblühten Kultur aufgestiegen ist. Mehr als ein Jahrhundert nach der Erfindung des kommunistischen Modells und zwei Jahrzehnte nach dessen Zusammenbruch in Moskau und in den osteuropäischen Satellitenstaaten weist das chinesische System bei allen durch die inneren Verhältnisse erzwungenen Veränderungen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Lenins ursprünglichem Konzept auf. Selbst der »rote Apparat« hat sowjetische Vorläufer. Die Russen verwendeten ein abhörsicheres internes Telefonsystem – vertushka genannt, was übersetzt »internes Telefon mit direkter Verbindung« bedeutet –, das die Angehörigen der Parteielite miteinander verband.

    Mao übernahm zwar sowjetische Institutionen, betrachtete die dortige Partei aber stets als bürokratisch und zu wenig revolutionär. In den fünfziger Jahren beklagte er sich darüber, dass die Funktionäre »sich mit Trippelschritten vorwärts bewegten, wie Frauen mit gebundenen Füßen, und sich dann immer darüber beschwerten, dass andere für sie zu schnell gingen«. Mao beschloss, dass nicht die Partei das Volk überwachen, sondern dass das Volk die Partei überwachen sollte, eine Philosophie, die 1966 das zehn Jahre andauernde Wüten der Kulturrevolution auslöste, in der die Roten Garden ermächtigt waren, jeden zu terrorisieren, der ihrer Ansicht nach vom rechten revolutionären Weg abgekommen war. Mao setzte die »Revolutionierung einer Revolution in Gang, die nicht revolutionär genug war«, wie ein Dokumentarfilm diese Zeit beschreibt. Nach Maos Sturz und seinem kurz darauf folgenden Tod kehrte die Partei zu ihren Grundprinzipien zurück. Deng Xiaoping warf die Ideen Maos, die katastrophale Folgen gehabt hatten, über Bord und führte die Partei zu ihren leninistischen Wurzeln zurück – sie war eine aufgeklärte Elite, die das Recht hatte, die Massen zu führen.

    Die Vorstellung, dass eine Partei die Regierung kontrolliert, ist schwer zu begreifen, vor allem dann, wenn dieselbe Partei faktisch die Regierung ist. Als ich von 2000 an vier Jahre lang in Shanghai lebte, riet ich Besuchern, die über dieses Konzept verwirrt waren, auf die Staatskarossen zu achten, die die Stadtoberen zum Sitz der Spitze der Stadtverwaltung in der Kanping Road brachten, einem strengen Flachbau aus grauem Marmor in einer der eleganten, von Bäumen gesäumten kleinen Seitenstraßen der alten französischen Konzession. Anhand dieser Autos konnte man mühelos eine erste Lektion in Sachen chinesische Politik – Leninismus-Grundkurs für Anfänger – lernen, denn an den Nummernschildern ließen sich die in der Stadt existierenden Hierarchien ablesen. Das Nummernschild des Parteisekretärs von Shanghai zeigt die Zahl 00001; das des Bürgermeisters und stellvertretenden Parteisekretärs 00002, und das des stellvertretenden Bürgermeisters und des nächsthöheren Mitglieds des Parteikomitees der Stadt 00003 usw. Diese Nummernschilder sind ein banales aber sehr anschauliches Beispiel für das wichtigste Leitprinzip der chinesischen Politik: die Herrschaft der Partei über den Staat. Die politische Sprache spiegelt die Hierarchien getreu wider, da in allen offiziellen Verlautbarungen von der »Partei- und Staatsführung« die Rede ist.

    Auf der politischen Bühne – oder in Lenins »Orchester« – agieren die Regierung und andere staatliche Organe, die weitgehend das Gleiche tun wie die in vielen anderen Ländern. Das Finanzministerium stellt jedes Jahr einen Haushalt auf, begleitet vom ewigen Gerangel konkurrierender Ressorts um begrenzte Mittel. Die Minister treten als Kabinett zusammen und ringen um die politischen Prioritäten. Die vielen guten Wissenschaftler in chinesischen Denkfabriken verfassen umfangreiche und häufig einflussreiche und scharfsinnige Forschungsberichte. Die Gerichte sprechen Urteile in den ihnen vorliegenden Fällen. Die Universitäten lehren und vergeben akademische Grade. Die Journalisten schreiben Artikel. Und die Priester in den staatlich zugelassenen Kirchen lesen feierlich die Messe und spenden die Sakramente. Doch hinter der Bühne, in den Parteigremien, spielt die eigentliche Musik, hier wird der politische Ton angegeben.

    Hinter dem Politbüro existiert das ausgedehnte und weitgehend geheime Parteisystem, das den gesamten öffentlichen Sektor, einschließlich des Militärs, kontrolliert sowie das Leben der Funktionäre, die auf den fünf Ebenen der chinesischen Regierung arbeiten, angefangen in Peking. Die Partei entsendet ihre Leute mithilfe eines ausgeklügelten und undurchsichtigen Systems in die Ministerien und Behörden, gibt ihnen durch Komitees, die hinter den Kulissen arbeiten, politische Anweisungen und lenkt ihre politische Ausrichtung und ihre öffentlichen Verlautbarungen durch das Propagandanetzwerk. Die Funktionäre, die in öffentlichen Institutionen tätig sind, erhalten vor ihrer Beförderung in regelmäßigen Abständen Schulungen in den 2800 über das ganze Land verteilten Parteischulen. Wird ihnen Bestechung, Betrug oder ein anderes Vergehen vorgeworfen, ermittelt zuerst die Partei gegen sie und übergibt sie nur dann den staatlichen Justizorganen, wenn sie es für richtig hält. Aber auch dann muss die gegen sie verhängte Strafe von den Parteiorganen abgesegnet werden, die die Richter direkt und die Anwälte indirekt durch Anwaltskammern und die Vergabe von Zulassungen kontrollieren.

    China hat viele formale Institutionen, die ihm den Anschein eines Landes mit einem pluralistischen System verleihen – eine Regierung, ein Parlament und Gerichte. Aber die Allgegenwart der Partei hinter den Kulissen bedeutet, dass die Rolle, die diese Einrichtungen nach außen hin spielen, permanent nach der realen, weitgehend unsichtbaren Macht ausgerichtet werden muss. Die Tentakel des Staates und damit der Partei reichen weit über die Regierung hinaus. Die Parteiorgane kontrollieren nicht nur staatseigene Unternehmen und Aufsichtsbehörden, sondern auch wichtige Expertenkommissionen, die Gerichte, die Medien, die zugelassenen Religionen, die Universitäten und andere Bildungseinrichtungen, und üben direkten Einfluss auf nichtstaatliche Organisationen und einige private Unternehmen aus. Die Partei kontrolliert auch Chinas acht sogenannte »demokratische Parteien«, indem sie deren Vorsitzende ernennt und deren Etat finanziert.

    Die Rollen, die vor und hinter den Kulissen gespielt werden, gehen in der Regierung ineinander über, da die meisten im Verborgenen wirkenden ranghohen Akteure der Partei auch öffentliche Rollen spielen. Hu Jintao ist Generalsekretär, trägt aber auch den weniger bedeutsamen Titel des Staatspräsidenten. Ebenso steht das von Hu geleitete Politbüro über dem Staatsrat, der in etwa einem Kabinett entspricht und an dessen Spitze Premierminister Wen Jiabao steht, der auch im Politbüro sitzt. Wenn Hu Washington und andere westliche Hauptstädte besucht, wird er immer als Präsident und Staatsoberhaupt und nicht als Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas angekündigt, was eigentlich seine wichtigste Position ist. Seinen Parteititel betont Hu nur, wenn er

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