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"Aus mir ist ein Mensch geworden ...": Biografische Arbeit am Beispiel von Aussteigern aus der rechtsextremen Szene
"Aus mir ist ein Mensch geworden ...": Biografische Arbeit am Beispiel von Aussteigern aus der rechtsextremen Szene
"Aus mir ist ein Mensch geworden ...": Biografische Arbeit am Beispiel von Aussteigern aus der rechtsextremen Szene
eBook248 Seiten2 Stunden

"Aus mir ist ein Mensch geworden ...": Biografische Arbeit am Beispiel von Aussteigern aus der rechtsextremen Szene

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Über dieses E-Book

Auf Basis von drei narrativen Interviews mit Aussteigern aus der rechtsextremen Szene widmet sich diese Diplomarbeit der Frage, welcher Aufwand an biografischer Arbeit betrieben werden muss, um so einen drastischen lebensgeschichtlichen Bruch wie einen Szene-Ausstieg zu bewältigen.
Im Ringen um soziale Anerkennung stellt die eigene Biografie eine Konstruktionsleistung dar, die nach unterschiedlichen Mustern bewältigt werden kann. Diese Muster werden hier in Form einer Typologie vorgestellt und anhand von Originalzitaten empirisch belegt.
Deutlich wird dabei die besondere Herausforderung, die eine Abkehr vom Rechtsextremismus bedeutet, wenn es gilt, sich gesellschaftlichen Normalitätsansprüchen anzupassen und eine biografische Linearität zu erhalten.
SpracheDeutsch
HerausgeberHirnkost
Erscheinungsdatum1. Feb. 2014
ISBN9783943774801
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    Buchvorschau

    "Aus mir ist ein Mensch geworden ..." - Katrin Wagner

    1. Biografische Arbeit als Merkmal der Moderne

    Auf die Frage „Wer bin ich?" stößt früher oder später jeder¹ einmal. Doch wie geht ein Individuum damit um, wenn es schwer fällt, auf diese Frage mit einer zusammenhängenden Geschichte zu antworten? Oder wenn sich diese Frage durch unterschiedliche und teils auch diskrepante Erzählungen beantworten ließe, da heute die Relevanzstrukturen andere sind als in der Vergangenheit und das Individuum dadurch „anders war als heute? Augenscheinlich versuchen Menschen diese Diskrepanzen im Sinne eines Weges zu deuten und zu erklären, um somit eine Kontinuität herzustellen (vgl. Abels 2006: 387). Es wird der Versuch unternommen, die eigene Biografie in Bezug auf das aktuelle Dasein zu erklären. Das Individuum stellt in einer aktiven Rekonstruktionsarbeit die Verbindung zwischen Vergangenheit und einer möglichen Zukunft selbst her (vgl. ebd.: 246). Es muss seine Erlebnisse zusammen mit den gemachten Erfahrungen fortwährend synchronisieren, um die Konsistenz und Kontinuität seiner Identität zu wahren. Identität und Biografie hängen eng miteinander zusammen. Der lateinische Ursprung des Wortes Identität, „idem, lässt sich mit „dasselbe übersetzen. Er legt den Gedanken nahe, dass jmand dann eine Identität hat, wenn er auf die gleiche Weise bzw. nach festen Prinzipien handelt, sich also über Gleichförmigkeit und Beständigkeit definiert (Fuchs-Heinritz 1995: 286). Doch die heutige Zeit ist durch Faktoren wie zunehmende Arbeitslosigkeit, die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens und die Bereitschaft, sich umzuschulen, häufigeren Scheidungen und dem Erfordernis räumlicher Mobilität geprägt.² Plötzliche Einschnitte oder Unterbrechungen können bei Individuen Identitätsprobleme hervorrufen, welche sich in ihrem Entstehen „auf persönliche Brüche wie auf persönliche Kontinuität und Konsistenz beziehen (Endruweit/Trommsdorff 2002: 219).

    Da wir nach Abels (vgl. Abels 2006: 15) in der heutigen Zeit, welche er als „fortgeschrittene Moderne bezeichnet, mit der Frage konfrontiert werden, wer wir sind, steht das Individuum vor dem Problem, sich selbst und anderen gegenüber eventuelle Diskontinuitäten und Brüche innerhalb der eigenen Biografie verständlich zu machen und sich als „identisch zu präsentieren. Dem Individuum wird unter den gesellschaftlichen Bedingungen der fortgeschrittenen Moderne eine Vielzahl von Optionen dargeboten, zwischen denen es wählen kann. Die Entscheidungsfindung und Gestaltung des Lebensweges wird aufgrund dieser vielfachen Möglichkeiten schwieriger, da das Individuum nicht von vornherein weiß, ob der eingeschlagene Weg der Beste ist oder ob es später somit verpasste Chancen und Möglichkeiten bedauern wird. Becks Gegenwartsdiagnose (1983, 1986) liefert eine Erklärung für das orientierungslose Individuum: Traditionsmuster lösen sich immer mehr aufgrund der beständigen Wandlung und Flexibilisierung der Gesellschaft auf und die identitätsstiftende Kraft religiöser, politischer und kultureller Schablonen schwindet. Die Herauslösung und die Vereinfachung der Distanzierung des Individuums aus bisher festen sozialen gemeinschaftlichen Verbindungen wie Familie, Nachbarschaft oder Kirche, welche bisher eine Orientierungs- und Unterstützungsfunktion für das Individuum hatten, erhöht nun den Bedarf an biografischer Orientierung. Durch die Ablösung des Individuums von vorgegebenen Lebensentwürfen aufgrund von Prozessen der Pluralisierung, Individualisierung, Entstandardisierung und des Wertewandels muss es nun selbstständig seine Identitätsarbeit aufnehmen und die persönliche Biografie bearbeiten. Identität und die Herstellung dieser ist nicht mehr nur ein einmaliges Ereignis, sondern ein lebenslanger Prozess. Hierbei müssen aktuelle Selbstbeschreibungen hergestellt werden, um sich selbst und andere zu verstehen und eine wechselseitige Orientierung zu ermöglichen.

    Das moderne Individuum sieht sich also mit einer Gesellschaft konfrontiert, die es vor eine Herausforderung an sich selbst stellt:

    Die moderne Gesellschaft ist nicht mehr aus einem Guß, sie ist ein disjunktives Phänomen, voller Widersprüche, Ungereimtheiten. Das moderne Leben ist aufgeteilt, zersplittert in zahlreiche Sektoren und Segmente, jeder Tag impliziert eine Fülle von disparaten Situationen, Ereignissen und Abläufen, die alle ihre eigenen, aber keinen übergreifenden Sinn mehr haben, die durch nichts zusammengehalten werden als dadurch, daß wir sie erleben, durchleben und sie irgendwie […] zusammenbasteln (Gross 1985: 78).

    Beck nimmt ebenfalls Bezug auf die Konsequenzen der Individualisierung für die Biografie des Individuums: Industriegesellschaftliche Lebensformen und die Biografie, welche bisher in traditionale Vorgaben, Sitten und Normen eingebettet waren, werden auf- und abgelöst durch Lebensformen, in denen die Individuen ihre Biografie selbst „herstellen, inszenieren, zusammenflickschustern müssen" (Beck 1993: 150ff). Wo vorher traditionelle Muster und Orientierungen wirkten, beruht die Lebensgestaltung nun auf sozialstaatlichen Regelungen. Diese setzen ein Individuum voraus, das „[…] Akteur, Konstrukteur, Jongleur und Inszenator seiner Biografie, seiner Identität, seiner sozialen Netzwerke, Bindungen, Überzeugungen […]" ist (Beck 1986: 151, Hervorhebung im Original). Jedes Individuum muss nun wichtige Entscheidungen³ für sein Leben selbst treffen und muss damit verbundene, eventuell eintretende Konsequenzen auch sich selbst zuschreiben. Die Notwendigkeit biografischer Arbeit ergibt sich aus immer wieder anstehenden Entscheidungen, welche individuelle biografische Rückblicke des Individuums erfordern, um eine Orientierung zu ermöglichen. Rückblicke ermöglichen die subjektive Fortschreibung der Biografie, da so Bilanzierungen getroffen werden und dadurch eine Fortschreibung der erwünschten Zukunft möglich wird (vgl. Elis 2000: 33 zit. nach Beck/Beck-Gernsheim [1994a]). Kurzum:

    Wo eine gesellschaftliche ausdifferenzierte Situation vorliegt, wo in der kulturellen Moderne plurale Wertorientierungen nicht gegeneinander auszuspielen sind und jeder „auf andere Weise er selbst" sein muß, ist biografische Arbeit zentral (Fischer-Rosenthal 1995: 57).

    Ziel der biografischen Arbeit und somit auch der Identitätsarbeit ist die soziale Anerkennung durch Mitmenschen. Diese stellt nach Taylor ein menschliches Grundbedürfnis dar und deren Fehlen führt beim Individuum „Leiden" herbei (vgl. Taylor 1993: 14).⁴ Das Gelingen dieses Projekts hängt unter anderem auch von individuellen biografischen Kompetenzen ab.

    Was passiert nun, wenn das Individuum ein kritisches Lebensereignis in Form eines biografischen Bruchs bewältigen und sinnvoll in seine Biografie integrieren muss? Erfolgt ein Bruch in der Biografie, kann ein bisher gültiger Lebenslauf⁵ mit einer in die Zukunft gerichteten Lebensplanung nicht wie bisher angelegt weiterverfolgt werden. Damit geht eine Veränderung der Lebenssituation einher, welche eine Anpassung der Biografie des betreffenden Individuums erfordert. Habitualisierte Handlungen müssen unterbrochen, modifiziert oder gar abgelegt werden (vgl. Heide-Filipp 1990: 23f). Das Individuum, welches einen biografischen Bruch erleidet, steht vor zwei Problemen. Einerseits muss es den biografischen Bruch für sich selbst verarbeiten. Andererseits muss es diesen und die damit unter Umständen einhergehende Wandlung seiner Identität auch seinen Mitmenschen erklären. Erschwert wird Letzteres durch Merkmale der oben beschriebenen zunehmenden Individualisierung: Das Individuum sieht sich alleingelassen, viele soziale Beziehungen lösen sich und es fehlt an Orientierungspunkten, aber es gibt auch Muster wie die Normalbiografie, deren Missachtung die Verweigerung sozialer Anerkennung durch Mitmenschen zur Folge haben kann.

    Mein Anliegen ist es, den Umgang von Individuen mit Brüchen in ihrer Biografie zu untersuchen. Ein fruchtbares Beispiel bieten Aussteiger aus der rechtsextremen Szene, da ein Ausstieg aus dieser Szene einen biografischen Bruch darstellt. Der Bruch erfordert einen umfassenden Wandel bisheriger Einstellungsmuster und Handlungsweisen. Außerdem gehen damit das Verlassen des bisherigen sozialen Umfeldes und Veränderungen der Wohn- und Arbeitssituation einher, wie in der Literatur von und über Aussteiger beschrieben wird (vgl. Lemmer 2004, Jahnel 2004, Hasselbach 1993, Lindahl 2001, Schröder 2002). Solche Brüche zeigen sich auch bei den von mir interviewten Aussteigern, die sich individuell mit ihrem bisherigen Lebenslauf und ihrer Biografie auseinandersetzen.

    1.1 Die Biografie als individuelle Konstruktionsleistung

    Dass Biografien individuelle Konstruktionen sind, wird u. a. von Dausien (1996) aufgegriffen. Sie geht davon aus, dass der Besitz einer eigenen Biografie keine ontologische Gegebenheit ist (vgl. Dausien 1996: 1). Soziale Institutionen steuern in der Moderne die Vergesellschaftung der Individuen. Dies bedeutet, dass sich der Lebenslauf nicht nur aus biologischen Gegebenheiten begründen lässt (vgl. ebd: 3).

    Biografien werden vom modernen Individuum unter dem subjektiven Druck konkreter Situationen konstruiert, welche sich dabei an normativen Rahmen der Gesellschaft orientieren.⁷ Die Konstruktion ist nicht nur als kognitive Leistung erklärbar, sondern als eine in pragmatische Handlungskontexte eingebundene komplexe Handlung, welche Wirklichkeit schafft und individuelles Handeln in modernen Gesellschaften strukturiert. Ähnlich wie Fischer-Rosenthal (1995: 44) sieht auch Dausien Krisen bzw. die „Erschütterung lebensweltlicher Gewissheiten (Dausien 1996: 4) als Anlass für das Individuum, sich mit der bewussten Auseinandersetzung und Konstruktion seiner Biografie zu beschäftigen. Erschütterungen⁸ können auftreten, wenn das Individuum beispielsweise unter dem Erwartungsdruck beruflicher Flexibilität seine vertraute Umgebung verlassen muss, der Verlust eines Partners zu verarbeiten ist oder eben unter den Gegebenheiten eines Ausstieges aus gewohnten rechtsextremen Szenezusammenhängen und dem damit verbundenen Ablegen dementsprechender Einstellungsmuster und Handlungsweisen. Diese Erschütterungen wirken als konstitutives Element für biografische Konstruktionen und setzen somit „Biographisierungsaktivitäten in Bewegung (Dausien 1996: 4).⁹

    Einerseits zeigt der Begriff der „sozialen Konstruktion, dass ein Akteur aktiv an der Konstruktion seiner Wirklichkeit beteiligt ist. So ist nicht nur die Biografie sozial konstruiert, sondern auch die soziale Wirklichkeit ist eine Folge der individuellen biografischen Konstruiertheit (vgl. ebd.: 572, 578). Andererseits kann der Konstruktionsprozess der eigenen Biografie nicht völlig beliebig und frei vollzogen werden, da diese komplexe Handlung in bestimmte Kontexte, Alheit nennt sie „Handlungsumwelten (vgl. Alheit 1994: 179), eingebunden ist.¹⁰ Daher ist eine deutliche Orientierung des Individuums, sei diese nun intentional oder nicht, an Normalitätserwartungen in Bezug auf die eigene Biografie und der damit verbundenen Abläufe erkennbar:

    Wie ich mein Leben plane, was ich nicht plane und lieber auf mich zukommen lasse, was ich erwarte, hoffe, befürchte oder wie ich vergangene Lebensabschnitte bilanziere, hat auch mit (tradierten) Erfahrungen und Beobachtungen anderer Lebensabläufe in meiner sozialen Umgebung zu tun, mit dem expliziten und impliziten Wissen, was in einem Leben wie meinem „im allgemeinen" zu erwarten ist, was erreicht werden kann, wo mit überwindbaren Widerständen, wo mit unüberwindlichen Grenzen zu rechnen ist (Dausien 1996: 14).

    Welche Funktionen erfüllen soziale biografische Konstruktionen, welche teils intentional, teilweise aber auch nicht-intentional geschehen? Vor dem Hintergrund der mit der Moderne einhergehenden Prozesse der Individualisierung kann der individuellen Konstruktion der eigenen Biografie eine Hilfe zur Organisierung des Werdegangs zugewiesen werden. Das Individuum deutet und erklärt für sich selbst und andere Interaktionspartner seine Lebenserfahrungen im Sinne einer gewissen Kontinuität, eines „sich identisch Bleibens", auch wenn sich äußere Umstände wandeln. Werden neue Lebenserfahrungen gemacht, müssen diese je nach Relevanz in die bisherige biografische Konstruktion sinnvoll integriert werden, welche durch diesen Akt stabilisiert oder gegebenenfalls umgeschrieben wird (vgl. Dausien 1996: 574). Neue Lebenserfahrungen, die sich im biografischen Hintergrundwissen niederschlagen, können als Ressource für die (Neu- bzw. Um-)Gestaltung der individuellen Lebensgeschichte herangezogen werden. So können bisherige Lebensgeschichten gefestigt, aber auch durch die Kombination mit neuen Erfahrungen in bestimmten Punkten erneuert werden. Auf diese Weise ergeben sich neue Interpretationsmöglichkeiten. Eine weitere Funktion biografischer Konstruktion ist die Qualifikation für eine Beziehung zu anderen. Hierin liegt die Chance des Individuums, sich neuen Bezugsgruppen zu nähern und von diesen anerkannt zu werden, oder ein Teil einer Gruppe zu bleiben (vgl. Abels 2006: 400).

    Unterstützt wird die biografische Konstruktion durch Anpassungen an die Normalbiografie. Das Verständnis dessen, was sich hinter der Idee von einer Normalbiografie versteckt, wird über die Betrachtung der Institutionalisierung des Lebenslaufes möglich. Die Institutionalisierung des Lebenslaufes gibt normativ soziale Erwartungen und Anschlüsse vor. So kann man zum Beispiel von einem institutionalisierten System bezüglich des Alters und normativen Erwartungen der aufeinander folgenden Sequenzen im Leben eines Individuums ausgehen. Hierbei reguliert das auf dem Lebensalter basierende System den Lebenslauf über die vom Individuum durchlaufenen Bildungs- und Ausbildungsinstitute, die Berufslaufbahnen und bestimmte Familienzyklen. Die Sequenzregelungen sind gesetzlich oder institutionell verankert und geben so die aufeinander folgenden Wege des Lebenslaufs vor – so kann ein Berufseintritt im Normalfall erst nach dem Bildungs- und Ausbildungsabschluss folgen (Heckhausen 1989: 148). Doch auch Beck merkt schon an, dass im Prozess der Individualisierung die Normalbiografie zur Wahl- bzw. Bastelbiografie wird (Beck 1986: 152).¹¹ Dies muss allerdings nicht bedeuten, dass die normative Bedeutung der Normalbiografie gesunken ist, denn sie kann trotz sozialstruktureller Umbrüche ihre Gültigkeit behalten (vgl. Brose/Hildenbrand 1988: 18). Folgt man dem Gedanken der Normalitätsunterstellung, welche an eine Normalbiografie geknüpft ist, gelangt man zum Kern des Problems, vor welchem Aussteiger aus der rechtsextremen Szene stehen. Sie versuchen, retrospektive ihre eigene Vergangenheit im Sinne einer, wenn schon nicht ganz „normalen", so doch auch nicht zu extrem abweichenden Vergangenheit für sich selbst, aber auch für das Gegenüber deutend zu erklären. Hierbei wird nun ein Blick auf mein Untersuchungsfeld, den Rechtsextremismus, notwendig. Es soll verständlich gemacht werden, warum ein Ausstieg aus der rechtsextremen Szene einen biografischen Bruch darstellt.

    1.2 Rechtsextremismus als empirisches Untersuchungsfeld

    Wie die verschiedenen rechtsradikalen bzw. rechtsextremen Organisationen in Deutschland zeigen, können rechte Einstellungen¹² sehr unterschiedlich sein. Es gibt daher nicht DIE rechtsextreme Einstellung, sondern ein komplexes Muster, welches sich aus zumeist sechs grundlegenden Bestandteilen zusammensetzt:

    Den Autoritarismus, also die Bereitschaft, sich unter Stärkere, nicht zur Herrschaft legitimierte Personen(-gruppen) zu unterwerfen bzw. die Bereitschaft, Schwächere beherrschen zu wollen. Den Nationalismus, wobei das eigene Denken und Handeln nach der Stärkung der eigenen Nation ausgerichtet werden soll. Fremdenfeindlichkeit, deren Grundlage die höhere Bewertung der „eigenen Volksgruppe gegenüber anderen darstellt. Den Wohlstandschauvinismus, welcher Angehörigen „fremder Volksgruppen die Teilhabe am Wohlfahrtsstaat verwehren soll. Den Antisemitismus, welcher sich gegen die „Volksgruppe der Juden" richtet und diese als minderwertig einstuft und Pronazismus, welchem eine Verharmlosungs- und Verherrlichungsfunktion des Nationalsozialismus inne wohnt (vgl. Stöss 1999: 26f).

    Sind diese Bestandteile im Bewusstsein eines Individuums erfassbar, verfügt dieses über ein geschlossenes rechtsextremistisches Einstellungsmuster. Die Abwendung und das anschließende Ablegen dieses geschlossenen rechtsextremistischen Einstellungsmusters markieren den biografischen Bruch sehr deutlich.¹³ Rechtsextremistische Einstellungen sind dem sozialen Handeln jeweils vorgelagert und sie werden auch als „latenter Rechtsextremismus bezeichnet, da tendenziell nur ein geringer Teil der rechtsextremistisch denkenden Personengruppe in zweckgerichteten Organisationen politisch aktiv ist. Zeigen sich rechtsextremistische Einstellungen im konkreten Handeln, spricht man vom „manifesten Rechtsextremismus (ebd.: 155).

    Entgegen den Vorschlägen wissenschaftlicher Literatur über Rechtsextremismus bevorzuge ich zur Bezeichnung der sichtbaren Folgen, also menschlicher Aktivitäten, den Begriff der „Handlungsweisen, wie ihn auch Heitmeyer benutzt (vgl. Heitmeyer 1993: 13). Der Begriff des „Verhaltens ist zu allgemein, wohingegen sich „Handeln und so auch „Handlungsweisen durch die explizite Orientierung an einem Handlungspartner erklärt (vgl. Weber 2006 [1922]: 30). Das auf diese Einstellungen folgende Handeln kann verschiedener Art sein: Es kann sich in legalem Handeln, wie dem Wählen oder der Mitarbeit in einer rechtsextremen Partei, welche nicht verboten ist, zeigen. Illegale Handlungsweisen sind davon abzugrenzen, wobei hier gewalttätiges oder gar terroristisches Handeln gemeint ist (vgl. Stöss 1999: 155).

    Erworbene politische Einstellungen und daraus resultierende Handlungsweisen sind die Folge eines lebenslangen Lernprozesses, welcher in der Regel in der Kindheit seinen Anfang nimmt. Dieser Lernprozess wird von verschiedenen Agenten beeinflusst, insbesondere durch die Familie, das Erziehungs- und Bildungssystem, Peergroups und die Massenmedien. Die Sozialisationsagenten haben je nach Zeitpunkt des Lebens für das Individuum unterschiedliche Bedeutung. Der Prozess der politischen Sozialisation kann als multivariabler Prozess angesehen werden, in

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