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Schwarzbuch Menschenrechte
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eBook244 Seiten2 Stunden

Schwarzbuch Menschenrechte

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Über dieses E-Book

Worüber Österreich schweigt

Die Insel der Seligen: eine kritische Bestandsaufnahme.

Polizeiübergriffe bei Ausländerkontrollen, Vergewaltigung als Kriegswaffe, Folter unter demokratischer Fahne: Nach 60 Jahren ist die konkrete Umsetzung der UN-Menschenrechtsdeklaration selbst in Europa noch konfliktbeladen.

Die für ihre kritische Berichterstattung vielfach ausgezeichnete Journalistin Irene Brickner beleuchtet in diesem Buch die reale Situation in Österreich, die sie aus gründlichen Recherchen kennt. Anhand von eindrücklichen Beispielen berichtet sie über die raue Wirklichkeit bei Abschiebungen und Asyl fragen, schildert skandalöse Fälle von Rassismus und zeigt, wie es um unser Recht auf Meinungsfreiheit, Arbeit und Gleichbehandlung wirklich steht. Sie spricht mit Experten über die Folgen von Traumatisierung ebenso wie Datenmissbrauch und macht deutlich, was die Politik tun muss, um garantierte Rechte im härter werdenden Kampf um Nahrung, Job und Geld zu verteidigen.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum31. Mai 2012
ISBN9783701742868
Schwarzbuch Menschenrechte

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    Buchvorschau

    Schwarzbuch Menschenrechte - Irene Brickbner

    IRENE BRICKNER

    Schwarzbuch

    Menschenrechte

    IRENE BRICKNER

    Schwarzbuch

    Menschenrechte

    Worüber Österreich schweigt

    Mit einem Vorwort von Heinz Patzelt

    RESIDENZ VERLAG

    Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

    Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

    Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    www.residenzverlag.at

    © 2012 Residenz Verlag

    im Niederösterreichischen Pressehaus

    Druck- und Verlagsgesellschaft mbH

    St. Pölten – Salzburg – Wien

    Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

    Keine unerlaubte Vervielfältigung!

    ISBN ePub:

    978-3-7017-4286-8

    ISBN Printausgabe:

    978-3-7017-3171-8

    Ich widme dieses Buch

    meiner Lebensgefährtin Jutta Zinnecker,

    die mir auch in der stressigen Schreibezeit mit Rat,

    Tat und Nervenkraft zur Seite gestanden ist.

    INHALT

    Vorwort von Heinz Patzelt

    Der »Fall Ariana«:

    Von den Tücken der humanitären Selbstverpflichtung

    Vom Umgang mit »Fremden«

    1. Kapitel: Abschiebung

    »Ausländer raus«, von Staats wegen

    Das Problem mit der Pflichterfüllung

    Hungern für die Freiheit

    Widerstand auf der Gangway

    Im Untergrund

    Im Militärflieger nach Tiflis

    2. Kapitel: Asyl

    Asyl – umkämpftes, ertrotztes Recht

    Der lange Atem des Asghar Hashemi

    Walid Kubaev: Wie man ein Trauma privatisiert

    »Der namenlosen Angst der Flüchtlinge einen Namen geben.«

    Interview mit Barbara Preitler, Psychotherapeutin und Traumaexpertin

    Gezielte Indiskretionen:

    Wie PolitikerInnen und Medien die »Ausländerfrage« manipulieren

    3. Kapitel: Diskriminierung

    Gleiche/r unter Gleichen: (k)eine Selbstverständlichkeit

    Rassismus: Die Entmutigung der Louise K.

    »Viele ÖsterreicherInnen haben das Gefühl, dass ihre Heimat am Verschwinden ist.«

    Interview mit Dieter Schindlauer, Antirassismusexperte, Diversity-Trainer und »TäterInnenarbeiter«

    Partizipation: Der große Wahlausschluss

    Lesben und Schwule: Zäher Kampf gegen Diskriminierung

    Gleicher Lohn für gleiche Arbeit?

    Behinderte Menschen: Verenas Traum vom Leben außerhalb des Pflegeheims

    4. Kapitel: Schutz vor Armut

    Das umkämpfte Menschenrecht

    Recht auf Arbeit:

    Frau K., Herr Bucur und das Menschenrecht, nicht arm zu sein

    »Eine herrliche Gelegenheit, um den Sozialstaat zu erwürgen.«

    Interview mit Martin Schenk, Armutsforscher und Experte für soziale Menschenrechte

    5. Kapitel: Meinungsfreiheit

    Ist die Meinungsfreiheit zunehmend in Gefahr?

    Paragraf 278: Eine Strafbestimmung als Falle

    #unibrennt und der aufgedoppelte Terrorverdacht

    Der TierschützerInnenprozess* und seine Auswüchse

    Internationale Verfolgungsspirale

    Wer fragt, schafft an:

    Lehren aus dem TierschützerInnenprozess für eine Gerichtsreform

    »Wer nichts zu verbergen hat, muss sich noch lange nicht nackt ausziehen lassen.«

    Interview mit Hans G. Zeger, Obmann der ARGE Daten, Mitglied des österreichischen Datenschutzrates und Evaluator für die EU

    Nachbemerkung

    Anmerkungen

    Der Paragraf 278 StGB im Wortlaut

    Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

    UNO-Resolution 217 A (III) vom 10. Dezember 1948

    * Im Folgenden wird bei Bezeichnungen von Personengruppen durchgängig das Binnen-I verwendeet. Laut der Gleichbehandlungsanwältin des Bundes, Ingrid Nikolay-Leitner, stellt das Binnen-I »die gleichberechtigste und gleichzeitig lesbarste gendergerechte Schreibform dar«.

    VORWORT

    Die Verwirklichung der Menschenrechte steht oder fällt mit dem Wissen über sie. Also mit Informationen über das Woher und das Warum: Was waren die Entwicklungen, die zum historischen Schritt der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 führten?

    Sie steht oder fällt mit dem Wissen über die Inhalte der Bestimmungen, aber auch über die Mittel und Wege zu ihrer Umsetzung: Wer wo und wie um diese verbrieften, unteilbaren, universellen Rechte kämpft, die allen Menschen zustehen. Die aber vielfach erst umgesetzt, also gelebte Realität, werden müssen.

    Denn auch, wenn die Menschenrechte 63 Jahre nach der historischen Verkündung am 10. Dezember 1948 in Paris inzwischen weltweit als verbindlich gelten: Sie sind noch lange nicht überall und immer Praxis – nicht einmal in einem Staat wie Österreich, in dem Menschenrechte im weltweiten Vergleich jedenfalls überdurchschnittlich gut verwirklicht sind. Amnesty International, eine der ältesten, weltweit für Menschenrechte aktive regierungsunabhängige Organisation, kann das bezeugen.

    Was haben Menschenrechte mit dem Leben der Menschen zu tun, wie wirken sich menschenrechtliche Defizite konkret aus? Und welche Chancen eröffnen neue Bestimmungen – etwa die Konvention über die Rechte von Behinderten? Wie können sie das Leben Betroffener verbessern, ganz konkret, im Alltag? Auch das sind Fragen, denen in diesem Buch nachgegangen wird – vor allem aus österreichischer, aber auch europäischer Perspektive.

    In Österreich galt die menschenrechtliche Auseinandersetzung lang als rein universitäre, professorale, in internationalen Gremien zu diskutierende Angelegenheit. Die Notwendigkeit, vor der eigenen Tür zu kehren – etwa dann, wenn AusländerInnen Gewaltvorwürfe gegen die Polizei erhoben –, wurde kaum gesehen. Das hat sich heute tendenziell zum Besseren gewandelt. Doch immer noch ziehen sich politische MandatarInnen vor Gesetzesbeschlüssen mit Menschenrechtsbezug gern auf Klubzwänge zurück, statt sich ein eigenes, selbstverantwortliches Bild zu machen und ihrem Gewissen zu folgen, so, wie es ihrem freien Mandat entsprechen würde.

    Das war bei mehreren Antiterrornovellen so, deren Folgen in diesem Buch geschildert werden, aber auch beim Außenhandelsgesetz über Waffenexporte – und vor allem bei den Asyl- und Fremdenrechtsnovellen, die uns in Jahresabständen heimsuchen. Allzu gerne wird darauf »vergessen«, Übergangsregelungen für jene Fälle vorzusehen, die noch nach alten Bestimmungen in Arbeit sind. Das gilt allerdings auch für Bereiche, die nicht unmittelbar mit Menschenrechten, wohl aber mit Rechtssicherheit und Vertrauen in die Regierung zu tun haben.

    Hier existiert eine Vielzahl schwarzer Flecken, über die die Verantwortlichen in Österreich lieber schweigen: Vor allem Flüchtlinge und MigrantInnen, aber auch Einheimische in Notlagen verheddern sich in den Netzen der Bürokratie, verzweifeln an institutionalisiertem Misstrauen gegen Fremdes oder sozial Schwächere. Über die Auslegung von Verordnungen und Gesetzen wird länger gefeilscht, als über die Lage der Betroffenen diskutiert. Das ist auf Dauer nicht hinnehmbar.

    Heinz Patzelt, Jänner 2012

    DER »FALL ARIANA«:

    Von den Tücken der humanitären

    Selbstverpflichtung

    Ariana¹ hat sich Österreich nicht ausgesucht – sondern Österreich sie. Sie wurde im Rahmen einer internationalen Mission der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) zu ihrem eigenen Schutz hierher geholt, im Jahr 2000, als sie 16 Jahre alt war: Eine Minderjährige aus dem heutigen M., ein Opfer langjähriger Kinderprostitution und Mädchenhandels, die sich in akuter Lebensgefahr befand.

    Dennoch hat Ariana zwölf Jahre danach in Österreich weder Aufenthaltssicherheit noch eine Zukunftsperspektive. Weil die humanitäre Selbstverpflichtung der Republik einen Haken hatte. Dem Mädchen wurde die Zuflucht unter der Bedingung des Wohlverhaltens gewährt. Das aber verfehlte es: Zweimal wurde Ariana wegen Betrugs rechtskräftig verurteilt.

    Das Aufenthalts- und Niederlassungs- sowie das Staatsbürgerschaftsgesetz verlangen, dass Fremde, die in Österreich bleiben oder die Staatsbürgerschaft erwerben wollen, keine Vorstrafen aufweisen dürfen: eine klare, eindeutige Bestimmung. Aber kann man das auch von einem Menschen verlangen, den die Republik freiwillig aufgenommen hat, wissend, dass dieser Mensch von klein auf Willkür und Ausbeutung ausgesetzt war und dadurch niemals gelernt hat, richtig von falsch zu unterscheiden? Von einem Menschen, der lernen musste, in Ungesetzlichkeit zu überleben – mit tiefgreifenden psychischen und sozialen Folgen für die Persönlichkeit?

    Fragen wie diese betreffen die strengen »Fremden«-Gesetze, die Österreich im vergangenen Jahrzehnt beschlossen hat, aber auch die Verpflichtungen eines modernen Rechtsstaats. Wie weit geht die Verantwortung eines Staates für Opfer humanitärer Verbrechen in Drittstaaten? Ist diese Verantwortung international? Und wenn sie, wie im »Fall Ariana«, ausdrücklich übernommen wurde: Was umfasst sie?

    Wer der jungen Frau, deren Verbleib in Österreich so viele Fragen aufwirft, gegenübersitzt – sagen wir in einem Kaffeehaus in Wien – sieht eine hübsche, blonde Person mit dunkelbraunen Augen. Eine schlanke, vollbusige Frau in engem Top und Minirock, die in ihrem Caffè Latte rührt und sich gefällig im Spiegel gegenüber betrachtet: »Alles Natur!«, kommentiert sie und lacht. Gutmütigkeit und Humor strahlt sie aus – wenn es ihr gut geht.

    Das ist Arianas helle Seite, die starke, alltagsfitte. Diejenige, die sie durch Kindheit, Jugend und junges Erwachsenenleben hinweg ins Heute retten konnte. Die Seite, welcher sie es zu verdanken hat, dass sie, die mit 16 Jahren als Analphabetin nach Österreich kam, Lesen, Schreiben und Rechnen lernte, und zwar alles auf Deutsch. Dass sie, trotz schwerer psychischer Einbrüche, zäh am Ziel des Hauptschulabschlusses festhielt und diesen im Jahr 2006 auch schaffte.

    Die andere, schwer verletzte Seite der jungen Frau wird aus einer Reihe von Arztkurzbriefen und Befunden sichtbar. PsychiaterInnen schildern Arianas Depressionen, ihre Ängste, verfolgt zu werden. Etliche Male hat sich die junge Frau in den vergangenen Jahren freiwillig in Psychiatrien einweisen lassen – oder wurde eingewiesen: Wenn sie mit ihren Gefühlen nicht mehr zu Rande kam, weil etwas aus dem Vergessen auftauchte: Situationen, in denen sie außer sich gerät, so dass sie danach den Eindruck hat, eine »andere Person« habe aus ihr gesprochen. Was Ariana als Kind und Jugendliche miterleben musste, kann man nur durch Abspaltung überleben.

    Die Ärzte diagnostizierten eine Persönlichkeitsstörung² als Folge schwerer traumatischer Erlebnisse. Worin diese Erfahrungen bestanden, schildert Ariana nur in Bruchstücken. Erinnerungen aus ihrer Kindheit, die in ihr auferstehen, haben den Charakter von Albträumen und Zwangsgedanken: »Ich bin in einem Keller aufgewachsen, habe niemand gehabt außer einer älteren Frau, die alle paar Tage gekommen ist.« – »Manchmal waren andere Kinder dort, von den Prostituierten. Ich habe gesehen, wie Kinder getötet wurden. Wegen des Organhandels, damit hatte meine Familie auch zu tun.«

    Besagter Keller gehörte zu einem Haus, in dem sich ein Bordell befand. Mit fünf Jahren sei Ariana von ihrem eigenen Vater dorthin »vermietet« worden, in einen westeuropäischen Staat, steht in einem Schreiben des Wiener Jugendamts aus dem Jahr 2001. Woher diese Informationen kamen, weiß dort heute niemand mehr, und Ariana selbst hat die genauen Daten ihres kindlichen Leidensweges nicht aufschreiben können.

    Wer die Erwachsenen waren, die ein kleines Mädchen zu Sexzwecken quer durch Europa schickten, ist hingegen einem Mailverkehr aus 2001 zu entnehmen, den sich Ariana in ausgedruckter Form aufgehoben hat. »Wir haben keinen Zweifel, dass die lokale Mafia in den ›Verkauf‹ dieses Mädchens involviert war«, schreibt ein OSZE-Entsandter mit dem Decknamen »Stanislaw« an Eva Kaufmann von der Interventionsstelle für Betroffene des Frauenhandels (Lefö/IBF) in Wien.

    Kaufmann, eine von Arianas ersten Betreuerinnen in Österreich, hatte den Wunsch ihrer Schutzbefohlenen, mehr über ihre Herkunft zu wissen, damals an Kontaktleute in M. weitergeleitet. »Stanislaw« war daraufhin in Arianas Geburtsort gefahren, hatte unter einem Vorwand – und, wie er betont, ohne sich dabei beobachten zu lassen – im dortigen Standesregister auf der Gemeinde Einsicht genommen. In seinem Mail warnt er: »Sollten wir versuchen, über die dort herrschenden Mafiafamilien weitere Informationen einzuholen, riskiert sowohl das OSZE-Team als auch die Familie des Mädchens ihr Leben.«

    Die Mafiafamilien hatten Ariana bis zu ihrem 16. Lebensjahr in der Gewalt. Zwar floh sie mit 13 aus dem ersten westeuropäischen Bordell: »Es war ganz nah an der österreichischen Grenze«, erzählt sie. Doch in einem Bordell befand sie sich erneut, als sie in W. drei Jahre später, am 22. Juni 2000, durch multinationale Polizeikräfte aufgegriffen wurde, die dort nach einem entführten Buben suchten. »Sie stand offensichtlich unter Drogeneinfluss und war vergewaltigt worden. Die Minderjährige wurde im Rahmen eines Prozesses als Zeugin befragt, sie identifizierte die Täter. In der Folge wurde ihr Aufenthalt ausfindig gemacht, und es wurden auf sie Schüsse abgegeben in der Absicht, sie als Tatzeugin zum Schweigen zu bringen«, steht in dem oben erwähnten Wiener Jugendamtsschreiben.

    Danach war klar: Das Mädchen musste aus W. weg, diskret und unbürokratisch, ohne Pass und Visum, die man offiziell beantragen muss und die die Mafia daher auf ihre Spur bringen konnte. Das war eine Situation, die eine Reisefreiheit erforderte, wie sie sonst nur Angehörige des diplomatischen Dienstes genießen, denn nur dieser konnte Staatsgrenzen und Aufenthaltsgesetze unwirksam machen. »Wir haben in diesen Jahren mehrfach Frauen, die als Opfer des Menschenhandels gefährdet waren, mit OSZE-Hilfe in andere Staaten gebracht«, bestätigt Helga Konrad, ehemalige österreichische Frauenministerin der SPÖ und von 2000 bis 2004 Vorsitzende der Anti-Trafficking Force in der OSZE mit Schwerpunkt Balkan.

    Auch Österreich habe sich zu derlei humanitären Rettungsaktionen bereit erklärt, schildert Konrad. »Trotz unklarer Rechtslage« habe man sich im Innenministerium dafür stark gemacht.

    So bekam Österreich für die humanitäre Rettung Arianas den Zuschlag – und das Mädchen eine Überlebenschance in einem westeuropäischen Staat. Ende Juli 2000 wurde sie mit Hilfe der OSZE unter falschem Namen nach Wien gebracht. »Ich bin damals zum ersten Mal geflogen«, erinnert sie sich.

    Doch diese gute Tat hatte einen Haken: »Ob ich nach Österreich wollte, hat mich keiner gefragt«, sagt Ariana. Die unfreiwillige Rettung belastet ihr Verhältnis zum Aufnahmeland bis heute: »Was soll ich in Österreich? Ich will nach M. zurück!«, behauptet sie in Situationen erhöhten Stresses: Kein einnehmendes Verhalten für jemanden, der Vorstrafen aufzuweisen hat und auf den Goodwill des Aufnahmelandes angewiesen ist. Vielmehr selbstgefährdend: Von Habenichtsen wie Ariana verlangt das österreichische Fremdenwesen bedingungslose Regelbefolgung.

    Dabei beruht Arianas starke Ambivalenz auf einem grundlegenden Problem: Dass Österreich für sie keine wirklich passenden Angebote hatte. Die zuständigen Behörden und Einrichtungen gerieten mit der Problemlage der 16-Jährigen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, sie waren für einen solchen »Fall« nicht wirklich gewappnet.

    Das Mädchen wurde in einer geschützten Wohnung der Interventionsstelle für Betroffene des Frauenhandels (Lefö/IBF) in Wien untergebracht. Aber Ariana habe dort nicht hingepasst, schildert Grace Latigo, eine damalige Betreuerin. Unter den anderen erwachsenen Frauen sei ihr der verstörte Teenager völlig fehl am Platz vorgekommen: »Niemand hatte wirklich Zeit für sie. Sie war total verloren, sprach keine Sprache wirklich, versuchte, sich mir irgendwie verständlich zu machen. Mir war unklar, warum man sie in diese Institution, nicht etwa in eine Wohngemeinschaft für minderjährige Flüchtlinge, gebracht hatte.« Eva Kaufmann, damals wie heute beim Lefö/IBF in leitender Funktion, sieht das anders: »Wir nehmen Frauen ab 16 Jahren auf. Ich kann mich an keine Probleme mit Ariana erinnern.«

    Da waren die Demarchen bei den Fremdenbehörden, die Ariana nur befristete Aufenthaltsbewilligungen aus humanitären Gründen gewährten. Zuerst am 10. August 2000 für ein Jahr, verlängerbar nach Ermessen, dann wieder für zwölf Monate, dann für zwei Jahre – mit der unsicheren Aussicht, danach erstmals ein einjähriges, »echtes« Aufenthaltsrecht zu ergattern. Jedes Jahr Bittgänge, lange Episteln von Eva Kaufmann an Ministerialverantwortliche, ans fremdenpolizeiliche Büro Wien, an die für Aufenthaltsangelegenheiten in Wien damals zuständige MA 20: »Die Entscheidungsmacht lag allein auf Behördenseite, im Endeffekt beim Innenminister selbst«, erläutert Eva Kaufmann. Denn bis 2009, als auf einen Verfassungsgerichtshof-Entscheid hin ein Antragsrecht auf humanitären Aufenthalt eingeführt wurde, habe in diesen Belangen das Prinzip Gnade geherrscht³.

    Keine Option für Ariana: Mit jahrelanger Aufenthaltsunsicherheit, einer Art fremdenrechtlicher Bewährungsprobe, kann eine Verfolgte, Traumatisierte, eine Art weiblicher »Kaspar Hauser« ohne innere moralische Festigung nicht umgehen. Wäre Ariana eine Opernsängerin – im Interesse der Republik wäre Entgegenkommen bis hin zur Einbürgerung möglich gewesen. Eine Notaufnahme im Rahmen eines Friedenseinsatzes hingegen sieht diese Möglichkeit nicht vor.

    Erfüllt ein Staat auf diese Art eine freiwillig eingegangene Verpflichtung? Wohl kaum. Schon wegen des Fehlens eines Auffangnetzes für den Fall, dass etwas schiefgeht. Denn das tat es, im Jahr 2004. Ariana zog aus der geschützten Wohnung aus und lernte einen jener Männer kennen, die Liebe mit Ausbeutung verbinden. Mit einer Bankomatkarte beging sie einen Betrug. Er nahm das Geld, sie fasste sechs Monate bedingte Haft aus. »Wir bitten, die gravierende Traumatisierung unserer Klientin bei der Beurteilung ihrer Handlungsweise

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