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Labor oder Fließband?: Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern
Labor oder Fließband?: Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern
Labor oder Fließband?: Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern
eBook284 Seiten3 Stunden

Labor oder Fließband?: Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern

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Über dieses E-Book

Freie Musiktheaterprojekte unterscheiden sich in ihren Produktionsbedingungen grundlegend von konventionellen Opernproduktionen: Grundlage ist meist nicht nur ein schriftlich fixiertes Werk, sondern es kommen verschiedene gleichberechtigte Aufführungsmittel (z. B. Musik unterschiedlicher Komponisten und Genres, diverse Texte, Filme) zum Einsatz. Nicht erst sechs Wochen, sondern häufig Monate vor der Premiere wird mit den Proben begonnen. Nicht nur klassisch ausgebildete Opernsänger, sondern vielmehr Darsteller unterschiedlicher Sparten (Schauspieler, Musiker, Tänzer) agieren auf der Bühne.
"Labor oder Fließband?" geht der Frage nach, inwiefern deutsche Opernbetriebe auch diesen Produktionsanforderungen gerecht werden können - ob sie als Fließband für vertraute oder als Labor für neue Musiktheaterformate fungieren können. In Gesprächen mit Sebastian Baumgarten, Heiner Goebbels, Christoph Homberger, Eberhard Kloke, Barrie Kosky, David Moss, Jochen Sandig und Arno Waschk werden die Möglichkeiten und Grenzen traditioneller Produktions-parameter - Sängerensemble, Chor und Orchester, die Guckkastenbühne, die Arbeitsteilung oder das Repertoiresystem - für freie Musiktheaterprojekte ausgelotet.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum3. März 2013
ISBN9783943881462
Labor oder Fließband?: Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern

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    Buchvorschau

    Labor oder Fließband? - Rainer Simon

    Gespräch".

    MUSIKTHEATERFORMEN

    IM VERGLEICH

    BEGRIFF „FREIES MUSIKTHEATER"

    Seit einigen Jahren kursieren in der Musiktheaterwissenschaft sowie in der Musiktheaterpraxis verschiedene Begriffe, um Musiktheaterprojekte wie die eingangs erwähnten zu bezeichnen. Durch ihren Gebrauch wird auf unterschiedliche Aspekte dieser Tendenzen hingewiesen: So rekurriert Clemens Risi mit dem Begriff „Dekonstruktion auf Versuche, Opernpartituren zu fragmentieren, die so entstandenen Teile „neu zu kombinieren[,] [und] durch die Zusammenstellung mit eigentlich nicht zusammengehörigem Material neuen Reibungen auszusetzen – eine Tendenz, die im Schauspiel seit längerem bereits praktiziert wird […].¹ Detlef Brandenburg nimmt die gleichen Musiktheaterformen wahlweise mit den Begriffen „Opernrecycling, „Stückezertrümmerung oder auch „Dekonstruktion in den Blick, wenn er darüber schreibt, wie traditionelle Opernwerke in ihre „recyclingfähigen Bestandteile zerlegt [werden], um aus diesen Fragmenten zeitgemäße theatrale Formen aufzubauen.² Mit Begriffen wie „Genre-, „Sparten- oder „Grenzüberschreitung wird demgegenüber weniger auf den Umgang mit Werktexten als vielmehr auf die „Integration von spartenfremden Phänomenen³ und das Experimentieren an den Genregrenzen, durch welche Aufführungen als Opern-, Theater-, Tanzvorstellung oder Konzert deklariert werden, Bezug genommen. Das Konzept der „Kreationen bezieht sich innerhalb dieser Strömung ganz konkret auf die genreüberschreitenden Musiktheaterprojekte, die unter der Leitung von Gerard Mortier bei der Ruhrtriennale von 2002 bis 2004 produziert wurden.⁴ Da diese Kreationen teils auch durch Verfahren der Dekonstruktion entstanden sind, zeigt sich, dass die einzelnen Begriffe und die so bezeichneten Strömungen nicht eindeutig voneinander unterschieden werden können. Eine weitere Tendenz, die unter dem Konzept der „Genreüberschreitung subsumiert werden könnte, aber in den letzten Jahren durch die Arbeit von Sasha Waltz als eigene Tendenz große Beachtung fand, wird als „choreographische Oper bezeichnet.⁵ Der aus der Rockmusik stammende Begriff „Crossover⁶ wird schließlich ebenso auf grenzüberschreitende Phänomene bezogen, allerdings meist nicht hinsichtlich verschiedener Sparten, sondern verschiedener musikalischer Stile.⁷ Der Hauptgraben, der hierbei in Musiktheaterprojekten, wie zum Beispiel denen von Barrie Kosky, überschritten wird, erscheint im deutschsprachigen Raum noch einmal größer als etwa im angloamerikanischen Raum. Er rührt von der klar gezogenen Grenze zwischen „Ernster und „Unterhaltungsmusikher, wie sie unter anderem Theodor W. Adorno formuliert hat.⁸ Indem in so genannten Crossover-Projekten der Verlauf altbekannter Werke durch Einschübe stilfremder Musik unterbrochen werden kann, wird hier wiederum mit dekonstruierenden Techniken gearbeitet.

    Obgleich mit diesen Begriffen wichtige Strömungen innerhalb des zu untersuchenden Feldes benannt und sie im Folgenden zur Bestimmung desselben herangezogen werden, wird in dieser Studie ein anderer Begriff verwendet, um auf diese Tendenzen zu verweisen: der des „freien Musiktheaters beziehungsweise der „freien Musiktheaterproduktion. Zum einen kann dieser Begriff weit genug interpretiert werden, um die dekonstruierenden, genreüberschreitenden und Crossover-Tendenzen fassen zu können.⁹ Zum anderen trägt er aber vor allem dem Untersuchungsfokus auf die Produktionsbedingungen Rechnung: Freie Musiktheaterproduktionen stellen demnach Arbeiten dar, die von gewissen Produktionskonventionen, die traditionellen Opernaufführungen zugrunde liegen und die im Folgenden noch genauer skizziert werden, unabhängig beziehungsweise frei sind. Diese Freiheit hat selbstverständlich auch ihre Grenzen, die in einer kritischen Auseinandersetzung mit Arnold Jacobshagens Definition freier Musiktheaterproduktionen offengelegt werden können:

    Frei zu produzieren, bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß zu Beginn der Produktion keine Voraussetzungen für sie gegeben sind. Diese werden erst im Hinblick auf das künstlerische Werk, dessen Aufführung produziert werden soll, geschaffen und zwar speziell für diese Produktion. Im Gegensatz dazu steht die Produktionsweise der deutschen Stadt- und Staatstheater sowie der Landesbühnen, die zwar kontinuierlich über Produktionsvoraussetzungen verfügen, dadurch aber zugleich mit einschränkenden Vorgaben umzugehen haben.¹⁰

    Entgegen Jacobshagens absolutem Freiheitsbegriff, dem zufolge Freiheit mit Voraussetzungslosigkeit gleichgesetzt wird, findet in dieser Untersuchung ein Freiheitskonzept Anwendung, nach dem jede Entscheidung, jede Handlung stets Voraussetzungen hat – ob natürliche, soziale oder ökonomische. So bildet die Finanzierung der Musiktheaterprojekte von Christoph Schlingensief oder Sasha Waltz eine maßgebliche Bedingung dafür, wie und wo das Projekt realisiert werden kann. Produktionsfreiheit ergibt sich dementsprechend dann, wenn einzelne Handlungen innerhalb eines verschiedenerlei bedingten Optionskorridors ohne Beeinträchtigung durch äußere Umstände nach dem eigenen Wollen vollzogen werden.¹¹ Hierbei ist aufgrund diverser Bedingungen nie von einer absoluten Freiheit gegenüber allen Voraussetzungen, wie sie Jacobshagen annimmt, sondern stets von einer relativen Freiheit bezüglich gewisser Umstände – hier: bestimmter traditioneller Produktionskonventionen – auszugehen. Ein derartiger Begriff von „freiem Musiktheater" impliziert die Möglichkeit, dass dessen Produktion gewissen Zwängen ausgesetzt ist, von denen wiederum traditionelle Opernproduktionen unabhängig sind. Nur ein solch relativer Freiheitsbegriff lässt eine Untersuchung sinnvoll erscheinen, die eine gegenseitige und nicht nur eine einseitige positive Beeinflussung von traditionellem durch freies Musiktheater in Betracht zieht.

    Andererseits lassen sich auch Gemeinsamkeiten zwischen Jacobshagens Begriff von freien Musiktheaterproduktionen und dem hier verwendeten feststellen. So grenzt Jacobshagen ihn ebenfalls gegenüber Produktionsformen an staatlichen Opernbetrieben ab. Zudem gebraucht er ihn nicht synonym mit „freien Institutionen oder „freien Produktionsstätten. In Artikeln über „freies Theater"¹² oder die „freie Szene"¹³, in denen auch Tanz- und Sprechtheater einbezogen sind, werden freie Produktionen insbesondere der Jahre um die Jahrtausendwende oft über die Institutionen, an denen sie entstehen – zum Beispiel am HAU in Berlin, auf Kampnagel in Hamburg oder am Tanzquartier in Wien – bestimmt. Da es nur wenige vergleichbare Institutionen für freie Musiktheaterproduktionen gibt,¹⁴ und diese oft eher an Schauspielhäusern (Heiner Goebbels oder Christoph Schlingensief) oder Opernbetrieben (Sasha Waltz oder Sebastian Baumgarten) herausgebracht werden, ergäbe eine solche Gleichsetzung hier keinen Sinn. Außerdem wäre eine derartige Synonymität speziell im Kontext dieser Untersuchung kontraproduktiv: Denn hier wird nicht der Frage nach einer möglichen Inkompatibilität von Institutionen, sondern von Produktionsbedingungen nachgegangen, die im einen Fall über die traditionellen Opernbetriebe, im anderen Fall allerdings nicht institutionell rückgebunden werden können.

    Worin genau bestehen nun diese traditionellen Produktionskonventionen und die davon unabhängigen, freien Produktionsformen? Eine erste lakonische Antwort lieferten die anfänglichen Stichpunkte zu den Differenzen zwischen Heiner Goebbels’ Arbeit und den Produktionsformen an traditionellen Opernbetrieben, die im Folgenden aufgegriffen und zu einem umfassenderen und systematischeren Vergleich ausgearbeitet werden. Vergleichspunkte bilden hierbei Produktionsparameter, die für Musiktheaterproduktionen konstitutiv erscheinen, und an denen die Differenzen zwischen den beiden Produktionsweisen besonders hervortreten: Text und Aufführung, Solisten, Kollektive (Chor und Orchester), Aufführungsmaterialien, Aufführungsraum und -ort, Produktionsablauf, Spielbetrieb, Finanzierung. Da sich die Produktionssysteme auch von freier zu freier Produktion beziehungsweise von Opernbetrieb zu Opernbetrieb in diesen Parametern unterscheiden – so bietet zum Beispiel ein Opernhaus wie die Komische Oper Berlin wesentlich längere szenische Probenzeiten als die meisten anderen traditionellen Opernhäuser –, werden im Folgenden nur Tendenzen beschrieben, denen sich der Einzelfall unter Umständen nicht genau zuordnen lässt. Aus heuristischen Gründen wird die Tendenzbeschreibung traditioneller Produktionsformen paradigmatisch anhand deutscher Opernbetriebe durchgeführt.¹⁵

    TEXT UND AUFFÜHRUNG

    Die Bandbreite von Vorstellungen an traditionellen Opernhäusern ist groß. Sie reicht von Aufführungen, in denen versucht wird, die Bedeutungen eines Werktextes eindeutig – meist historisierend – zu bestimmen und dementsprechend auf der Bühne „eins zu eins zu realisieren, bis hin zu solchen, die pauschal mit dem Etikett „Regietheater in der Oper versehen und in denen die Texte (Libretto und Partitur) unter Bezugnahme auf unsere heutige Gegenwart radikal interpretiert werden.¹⁶ Obwohl sich die jeweiligen Protagonisten der einen oder anderen Seite jeweils mit unterschiedlichen Begründungen gegenseitig Treulosigkeit gegenüber den Werktexten attestieren,¹⁷ lassen sich beide Aufführungspraktiken insofern als dem Text gegenüber treu bezeichnen, als dass er das zentrale Fundament für die Produktion ihrer Aufführungen darstellt. Egal ob von Franco Zeffirelli oder von Peter Konwitschny inszeniert, eine Textausgabe der Aida bildet in beiden Fällen sowohl die musikalische als auch die szenische Grundlage, wird im einen Fall szenisch zwar radikal befragt,¹⁸ aber keineswegs in seiner Dramaturgie grundsätzlich verändert. So erzählt Konwitschny in Graz oder Leipzig zwar eine andere Version der Aida als Zeffirelli in Verona, aber aufgrund der Beibehaltung und der Treue gegenüber der textlichen Basis ähneln sich die beiden Inszenierungen hinsichtlich der Handlung, der Figuren und der Musik dennoch nach wie vor.¹⁹

    In vielen freien Musiktheaterproduktionen wird gerade diese Vorherrschaft des zusammenhängenden dramatischen Textes in Frage gestellt. So konstatiert Jürgen Schläder, „dass in avancierten zeitgenössischen Theaterproduktionen der Text nur eines unter mehreren gleichberechtigten Darstellungsmitteln"²⁰ sei und konkretisiert diese Aussage anhand der eingangs erwähnten Musiktheaterproduktion Eraritjaritjaka von Heiner Goebbels: Dieser Produktion läge „kein geschlossener Text mit den signifikanten Merkmalen dramatischer Literatur zugrunde"²¹. Vielmehr bildeten Passagen aus acht verschiedenen Canetti-Texten sowie aus acht verschiedenen Streichquartetten zusammen mit anderen Aufführungsparametern, wie zum Beispiel Filmsequenzen und Bühnenbild, den Materialbestand der Produktion. Auch Äußerungen der Musiktheaterregiestudenten der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin belegen Schläders Urteil: Die von Tatjana Gürbaca befragten Studenten fassen ein Stück als Produktionsmaterial auf, das jederzeit gekürzt, umgestellt, umgeschrieben und mit anderen Texten und Medien kombiniert werden darf.²² Dass das Infragestellen des Textprimats weder eine Neuerung der letzten Jahre noch ausschließlich eine Regiekonzeption darstellt, demonstriert unter anderem die 1998 vom Komponisten, Dirigenten und damaligen Leiter der Nürnberger Oper, Eberhard Kloke, veranstaltete Reihe Ohne Oper: Mit dem Begriff „Oper" bezog sich Kloke hierbei einerseits auf das Nürnberger Opernhaus, das aufgrund von Sanierungsarbeiten eine halbe Spielzeit lang nicht bespielt werden konnte, andererseits aber auch auf die abendfüllende Stückgrundlage, auf die in den Aufführungen der Reihe Ohne Oper zugunsten der Zusammenstellung und Verknüpfung verschiedener Stücke verzichtet wurde.²³

    Eine wesentliche Strömung zeitgenössischen Musiktheaters, welche die traditionelle Hegemonie der Stückvorlagen in Frage stellt, indem sie die klassischen Operntexte fragmentiert, um sie anschließend neu und anders zusammenzusetzen, wurde bereits als Dekonstruktion bezeichnet. Ein wichtiger Antrieb für diesen Materialumgang liegt in der Frage, „ob die ungebrochene Geschlossenheit tradierter Werke den fragmenthaften Wirklichkeits- und Selbsterfahrungen der [Post]Moderne noch gerecht [wird]."²⁴ Zudem entspringt der dekonstruierende Ansatz dem Bedürfnis, der Vorhersehbarkeit traditioneller Opernaufführungen, deren Stückgrundlagen meist vorab bekannt sind, etwas Neues, Überraschendes und Irritierendes entgegenzusetzen. Dementsprechend äußert sich Sebastian Baumgarten:

    Es ist alles so miefig. Man weiß, jetzt kommt da wieder diese Stelle in dem Stück, o. k. – doch die ist für das, was ich heute mit dem Stück erzählen will, nicht interessant. Ich baue sie konzeptionell so hin, daß sie vorbeigeht. Dabei sollte man lieber sagen: Strich, Seite runter!²⁵

    Dass das Dekonstruktionskonzept weiter ausgelegt werden kann, als der Rekurs auf wenige Regisseure wie Sebastian Baumgarten, David Marton oder Michael von zur Mühlen in der Musiktheaterpraxis glauben machen will, demonstriert Detlef Brandenburg anhand seiner Unterscheidung von drei verschiedenen Dekonstruktionsformen: Die erste, die wohl am ehesten den Arbeiten Sebastian Baumgartens entspricht, besteht im Re-Arrange ment einzelner Werke. So wurden in Baumgartens Tosca an der Berliner Volksbühne oder in seinem Requiem an der Komischen Oper Berlin Stückpassagen gekürzt, umgestellt, umgeschrieben und mit werkfremdem Textmaterial konfrontiert. Der zweiten Form, verschiedene Stücke zu einer Aufführung zu kombinieren, ließe sich zum Beispiel Eberhard Klokes Reihe Ohne Oper zuordnen. Das Kombinieren diverser Streichquartette, Texte und Filmpassagen in Heiner Goebbels’ Eraritjaritjaka scheint wiederum der dritten Form, „Material-Collagen unterschiedlichster historischer und gattungstypologischer Provenienz"²⁶, zu entsprechen. Während Brandenburg diese Collagen traditionellen Kompositionen entgegensetzt, begreift sich Goebbels selbst sehr wohl als Komponist im ursprünglichen Sinne, der verschiedene Klänge und Materialien zu etwas Neuem zusammensetzt (componere).²⁷ Durch diesen begrifflichen Rückgriff, wird sowohl an die klassische Musiktradition angeknüpft, als auch das produktive Potential dieser Collageverfahren betont, welches durch den Begriff „Dekonstruktion" eher vernachlässigt zu werden scheint.

    In diesem weiten Sinn von Collage, Dekonstruktion oder Komposition lassen sich auch Crossover-Projekte als solche begreifen. So verwendet Barrie Kosky in seiner Poppea-Produktion, die im Dezember 2003 am Wiener Schauspielhaus Premiere hatte, Claudio Monteverdis Musik ebenfalls als Material, das er für drei Celli und Klavier arrangiert und mit Songs von Cole Porter kombiniert. Heiner Goebbels begründet den Einbau von Pop und Rock in Arbeiten wie Die Wiederholung. Hashirigaki gerade über eines der Hauptargumente vieler Dekonstrukteure – zeitgenössisches Musiktheater müsse unseren brüchigen und fragmentartigen Selbst- und Wirklichkeitserfahrungen Rechnung tragen:

    Verglichen mit der entwicklungsorientierten Neuen Musik sind die Strukturen der Rockmusik, der Subkultur und der kommerziellen Musik – unabhängig von ihrer Ästhetik – in ihrer musikalischen Sprache, Organisation und Textur weitaus zeitgenössischer und innovativer. Sie reflektieren das Tempo und die Brüche der gesellschaftlichen Entwicklung deutlicher.²⁸

    Mit dem Einsatz von Pop, Rock, Jazz und Improvisation wird die zentrale Stellung des Textes innerhalb von Musiktheaterproduktionen nicht nur dadurch relativiert, dass seine Dramaturgie aufgebrochen und dekonstruiert wird. Vielmehr verliert er gegenüber diesen Musikstilen seine Funktion als Vorlage. Denn hier liegen anstelle sakrosankt erklärter Urtexte oft nur viele verschiedene, gleichwertige und formbare Textversionen oder aber überhaupt keine schriftlichen Fixierungen, sondern lediglich Audio-Aufzeichnungen, mündliche Tradierungen sowie die Musikerfahrungen der Musiker zugrunde. So lotet der Stimm-Performer David Moss in Stücken wie Monk und Chunk, die er mit seinem Improvisationstrio denseland erarbeitet hat, die Möglichkeiten der menschlichen Stimme unabhängig von einer Notenvorlage aus. So schreibt Heiner Goebbels über das Klangmaterial von In einer Minute: „Vieles davon […] läßt sich in Noten nicht ausdrücken oder verlöre, von Noten abgespielt, seine Intensität."²⁹

    Durch diese vielseitige Infragestellung und sogar Loslösung von der Textgrundlage tritt gleichzeitig eine andere Dimension von Musiktheater besonders hervor: die Aufführung in ihrer Einmaligkeit und Flüchtigkeit. Erika Fischer-Lichte bestimmt jede Form von Aufführung als einmalig und transitorisch. So kann auch eine traditionelle Opernaufführung aufgrund der je spezifischen Wechselwirkungen zwischen Akteuren und Zuschauern nicht wiederholt werden, sondern erschöpft sich in ihrem Werden und Vergehen.³⁰ Eine gewisse Kontinuität wird bei traditionellen Opernaufführungen aber dennoch durch die ihnen zugrundeliegenden Werke garantiert, deren Konstanz durch die über längere Zeiträume hinweg existierenden Texte bezeugt zu werden scheint. Dementsprechend weist Nicholas Cook in seinem Aufsatz „Between Process and Product" nicht nur auf den Prozess-, sondern auch auf den Produktcharakter von Musikaufführungen³¹ hin:

    the real-time process of performance routinely leaves […] the sense that we have experienced a piece of music, an imaginary object that somehow continues to exist long after the sounds have died away.³²

    So nehmen wir in traditionellen Opernaufführungen nicht nur an vergänglichen Ereignissen teil, sondern erfahren auch Giuseppe Verdis Aida oder Giacomo Puccinis La Bohème, die sowohl vor als auch nach der Aufführung – wohl in veränderter Form, aber dennoch weiterhin – existieren. Indem in freien Musiktheaterproduktionen gerade dieses kontinuitätsstiftende Produktionselement an Bedeutung verliert, tritt vor allem das Prozesshafte, Transitorische und Einmalige an ihnen hervor. So sieht Stefan Keim die Freiheit der Ruhrtriennale-Kreationen gerade in ihrer Vergänglichkeit begründet – in dem fehlenden Druck, für eine scheinbare Ewigkeit in publizierter Notenform oder zumindest für ein paar Jahre im Repertoire produziert werden zu müssen:

    Viele Stücke, die er [Gerard Mortier] in Auftrag gab, sollten überhaupt nicht nachgespielt werden. Manche dieser Kreationen waren einmalige Ereignisse, geschaffen von einem bestimmten Team an einem bestimmten Ort, unverpflanzbar, vergänglich.³³

    In ihrer Ästhetik des Performativen legt Erika Fischer-Lichte dar, dass in den verschiedenen Künsten seit den sechziger Jahren ein Performativitätsschub zu beobachten sei,³⁴ der sich darin zeige, dass zunehmend nicht mehr Kunstwerke – darunter lassen sich im Musiktheater Werktexte fassen –, sondern vor allem flüchtige und einmalige Ereignisse als Dreh- und Angelpunkt des Kunstschaffens fungieren.³⁵ In diesem Sinne lässt sich seit einigen Jahren auch in freien Musiktheaterproduktionen ein solcher Performativitätsschub beobachten.

    SOLISTEN

    „Bei Aufführungen des Musiktheaters steht der Solosänger als Träger des dramatischen Geschehens im Mittelpunkt."³⁶ Diese Eingangsbemerkung in der Berufsbeschreibung des Solosängers vom Deutschen Bühnenverein gilt mit Sicherheit für traditionelle Opernaufführungen: Solosänger bilden neben dem Text einen der zentralen Produktionsbestandteile traditioneller Opernaufführungen. Voraussetzungen für den Erfolg von Sängern auf der Opernbühne sind vor allem gesanglicher Natur – so zum Beispiel eine „hohe Musikalität, „außergewöhnliche stimmliche Qualitäten sowie eine professionelle Gesangsausbildung.³⁷ Der Bühnenverein betont richtigerweise auch die schauspielerischen Anforderungen,³⁸ die heute insbesondere von Regisseuren des „Regietheaters in der Oper" an Sänger gestellt werden. Dass diese allerdings in der Produktionspraxis häufig eher als sekundär eingestuft werden, zeigt sich bereits in den Sänger-Castings, die weniger – wie zum Beispiel in Musicalbetrieben üblich – als Auditions, in denen die Bewerber singen, sprechen und tanzen müssen,³⁹ als vielmehr als reines Vorsingen durchgeführt werden.⁴⁰ Ausgewählt, engagiert und besetzt werden die Sänger vornehmlich nach dem Fach, dem ihre Stimme zugeordnet wird und in dem sie ausgebildet wurde (Sopran, Mezzosopran, Alt, Tenor, Bariton, Bass).⁴¹

    In der Regel besitzen die deutschen Opernbetriebe feste Ensembles. Allerdings unterscheidet sich die Besetzungspraxis nach der Größe und damit der Finanzkraft der Häuser. Während große Opernbetriebe immer häufiger teure Stars als Gäste für einzelne Produktionen hinzuziehen, besetzen vor allem kleinere und mittlere Häuser ihre Produktionen vornehmlich aus ihrem Sängerensemble heraus. Durch feste Ensembles wird einerseits die Besetzungsflexibilität der Häuser je Produktion eingeschränkt, andererseits aber das Entstehen eines Kollektivs sowie eine langfristige künstlerische Zusammenarbeit ermöglicht.⁴² Mit einem großen und vielseitigen Ensemble können zudem Doppelbesetzungen einstudiert werden, wodurch sowohl die langfristige Disposition durch verschiedene Besetzungsmöglichkeiten flexibler gestaltet werden kann als auch einzelne Sänger im laufenden Spielbetrieb kurzfristig durch die jeweilige Zweitbesetzung ersetzt werden können.

    Von diesem Darstellereinsatz unterscheiden sich viele freie Musiktheaterproduktionen: Zuerst einmal sind die Bühnendarsteller in freien Musiktheaterproduktionen nicht zwangsläufig Opernsänger. So befindet sich unter den Darstellern von Eraritjaritjaka kein professionell ausgebildeter Sänger, sondern ausschließlich Musiker und Schauspieler. Vor allem in spartenübergreifenden Produktionen treffen Darsteller aus den unterschiedlichsten Genres aufeinander – Sänger auf Schauspieler und Musiker bei Christoph Schlingensiefs Mea Culpa oder bei Barrie Koskys Poppea in Wien, Tänzer auf Sänger und Musiker bei Alain Platels Wolf. Damit einhergehend emanzipieren sich die Darsteller auch häufig von den traditionellen Spartenzuschreibungen, indem sie jeweils spartenfremde Bühnenhandlungen vollziehen: Musiker werden zum Beispiel zu Schauspielern – wie das Ensemble Modern in Heiner Goebbels’ Schwarz auf Weiß – oder Schauspieler zu Musikern – wie André Wilms in Heiner Goebbels’ Max Black.⁴³ Alain Platel scheint dieser nicht mehr eindeutigen Zuordnung seiner Darsteller zu einzelnen Genres Rechnung zu tragen, indem er sie auf dem Besetzungszettel zu Wolf nicht mehr als Sänger, Tänzer und Musiker sondern als „Persönlichkeiten" anführt.⁴⁴

    Indem die Darsteller über die Genregrenzen hinweg Bühnenhandlungen vollziehen, für welche sie keine an Kunst(hoch)schulen erworbenen Kompetenzen besitzen, wird ein wesentliches Charakteristikum traditioneller, spartenspezifischer Darsteller in Frage gestellt: deren professionelles Expertentum. Eine solche Öffnung hin zu Unprofessionalität und Expertisenmangel wird in Arbeiten von Christoph Schlingensief oder des von Barbara Beyer beschriebenen Regienachwuchses⁴⁵ durch die Involvierung von Laien auf die

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