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Fremde Leidenschaften Oper: Das Theater der Wiederholung I
Fremde Leidenschaften Oper: Das Theater der Wiederholung I
Fremde Leidenschaften Oper: Das Theater der Wiederholung I
eBook341 Seiten4 Stunden

Fremde Leidenschaften Oper: Das Theater der Wiederholung I

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Über dieses E-Book

Die Grand Opéra des 19. Jahrhunderts stellt sich als ein Vexierbild dar. Auf den ersten Blick zeigt sie sich als Vergnügungsapparat zur Erzeugung visueller und emotionaler Sensationen. In dieses Bild aber schreiben sich die Züge eines Seismografen ein, der die gesellschaftlichen Erschütterungen im Zeitalter der Revolutionen präzise verzeichnet. Die Schnittlinie beider Ansichten durchquert die Grand Opéra als "Kraftwerk der Gefühle" (A. Kluge). In ihm kehren die verdrängten Erfahrungen und Traumata von Terror, Umbruch und Rebellion als fremde Leidenschaften wieder. Sie bieten die Chance der Wiederaneignung und Transformation der in die Gegenwart ragenden Vergangenheit.

Das Buch untersucht die Szene der Grand Opéra und geht den Spuren ihres Nachlebens in Inszenierungen und Werken des zeitgenössischen Musiktheaters nach. Mit Gastbeiträgen von Merle Fahrholz, Anselm Gerhard und Klaus Zehelein.

Die Arbeit des Forschungsprojekts "Das Theater der Wiederholung" von Günther Heeg wird mit einem zweiten Band zum Reenactment fortgesetzt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum2. Nov. 2022
ISBN9783957494726
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    Buchvorschau

    Fremde Leidenschaften Oper - Günther Heeg

    I Grand Opéra

    Günther Heeg

    Fremde Leidenschaften

    Die Grand Opéra als Theater der Wiederholung

    ITraum und Trauma. Die Grand Opéra als Traumproduzent und Seismograph gesellschaftlicher Erschütterungen

    1. Vexierbild

    Die Hochzeit der Grand Opéra in Paris fällt in die Zeit zwischen zwei Revolutionen, der Julirevolution des Bürgertums von 1830 und der proletarischen Februarrevolution 1848 gegen die Herrschaft dieses Bürgertums und seines Souveräns, des »Bürgerkönigs« Louis Philippe. Die kurze Zeitspanne dazwischen, die Zwischenzeit der Julimonarchie, bringt den Take-off einer enormen Beschleunigung der Zeit selbst in der rasanten Veränderung des ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Lebens. Zwar lässt sich in Frankreich in den Jahren der Julimonarchie (noch) nicht von einer mit England vergleichbaren industriellen Revolution reden, die Akkumulation des Kapitals findet noch nicht so sehr in der Produktion, sondern überwiegend in der Zirkulationssphäre statt. Im Finanzsektor, an der Börse und in riskanten Spekulationen vollzieht sich die schnelle Anhäufung und auch der Verlust von immensen Summen. Eine Goldgräbermentalität breitet sich rasch aus und jeder, der über etwas Kapital verfügt, hofft, etwas vom Gewinn für sich zu erlangen. So entsteht neben der alten Aristokratie die neue Klasse des bürgerlichen Finanzkapitals. Dessen Physiognomie hat Honoré de Balzac, der genaue Porträtist der sozialen Charaktermasken der Julimonarchie, in den Romanen seiner Comédie humaine nachgezeichnet. Für sie allesamt scheint zuzutreffen, was Karl Marx und Friedrich Engels am Ende dieser geschichtlichen Periode 1848 im Kommunistischen Manifest für den Geist der Bourgeoisie festgehalten haben:

    Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose »bare Zahlung«.¹

    Von der »Gefühllosigkeit« einer Zeit unter der von allen sinnlichen Qualitäten abstrahierenden Tauschprinzips und ihrer »Nacktheit« in Hinsicht auf das Bedürfnis nach »buntscheckiger« Kostümierung und Luxus vermitteln die Lithographien und Gemälde des Zeitgenossen Honoré Daumier einen guten Eindruck.

    Honoré Daumier: Gargantua, erschienen in: La Caricature, 16. Dezember 1831.

    Seine Karikaturen der Angehörigen der neuen herrschenden Klasse, der Abgeordneten, Richter, Banker und Börsianer, zeigen teils von der Jagd nach Geld ausgemergelte und vertrocknete Gestalten, teils vollgefressene Bäuche, fast stets im tristen Schwarz-Weiß-Grau des bürgerlichen Habits und überdies von überwältigender Spießigkeit.²

    Politisch wird die Herrschaft der Finanz-Bourgeoisie von einem Liberalismus begleitet, der nicht nur das »nackte Interesse« des Marktes und der »baren Zahlung« proklamiert, sondern durchaus bürgerliche Freiheiten gegenüber dem Regime der katholischen Restauration bringt. Die Religionsfreiheit und in diesem Zusammenhang die (in der Französischen Revolution von 1789 bereits erfolgte, nun erneute) Gleichstellung der Bürger:innen jüdischen Glaubens³ gehört ebenso dazu wie die politischen Mitwirkungsrechte, die Stärkung der Rechte der Abgeordnetenkammer gegenüber der Exekutive.

    Den politischen, ökonomischen und sozialen Freiräumen, die sich die neue Klasse geschaffen hat, steht die Masse der Bäuer:innen, Handwerker:innen und Arbeiter:innen gegenüber, deren Lage sich, wie Hungerrevolten in dieser Zeit immer wieder zeigen, durch die Julirevolution nicht geändert hat. Die Februarrevolution von 1848 richtet sich deshalb nicht nur gegen den Bürgerkönig Louis Philippe, sondern auch gegen die Herrschaft des Finanzbürgertums. Wie unterschwellig explosiv die soziale Lage zur Zeit der Julimonarchie war, zeigt sich am Zusammenleben einer seit dem Beginn des Jahrhunderts auf das Doppelte angewachsenen Bevölkerung von 1 Million Einwohner:innen auf beschränktem Raum (35 Quadratkilometer) und in engen Straßen – noch vor der Boulevardisierung der Stadt durch Georges-Eugène Haussmann im Zweiten Kaiserreich.

    Eine solche Stadt will unterhalten sein. 28 Theater in Paris sind bemüht, dem Bedürfnis des Vergnügens, der Unterhaltung und der Ablenkung seiner Bewohner:innen nachzukommen. Die Theater sind dabei unterschiedlich privilegiert. 1806 wurden alle Theater unter staatliche Kontrolle gestellt und 1807 durch den Innenminister eine hierarchische Ordnung eingeführt. Nur die Opéra, die Comédie-Française, die Opéra comique und das Théâtre de l’Impératrice wurden zu grands théâtres erklärt. Allein der Opéra war es darüber hinaus erlaubt, ganze Werke vollkommen in Musik und Ballette in einem dezenten und gehobenen Stil aufzuführen. Präziser wurden die Anforderungen an die Opéra von staatlicher Seite aus in den folgenden Jahren in den cahiers des charges festgelegt. Heute würde man von Zielvereinbarungen zwischen dem Staat, hier vertreten durch das Innenministerium, und der jeweiligen Direktion der Opéra sprechen, in denen staatliche Unterstützung von der Erfüllung vereinbarter Aufgaben durch die Opéra abhängig gemacht wurde. Generell war es Aufgabe der Opéra, dem öffentlichen (nationalen) Interesse zu dienen und das kulturelle Image Frankreichs in der Welt zu stärken.⁴ An diesen kultur- und nationalpolitischen Aufgaben änderte sich auch mit dem tiefgreifenden gesellschaftlichen Strukturwandel nichts, den Anselm Gerhard als »Verstädterung der Oper« beschrieben hat.⁵

    Wenngleich die hierarchische Einordnung der Opéra und die damit verbundenen Eintrittspreise sie nicht für ein proletarisches Publikum attraktiv machten, sondern die gehobenen Schichten in den Blick nahm, machte die geschilderte soziale, ökonomische und politische Dynamik nach der Julirevolution eine vollkommene Umgestaltung sowohl der Gattung der Oper als auch der Institution der Opéra notwendig. Die klassische französische Form der Oper, die tragédie lyrique, mit ihren mythologischen und antiken Heldinnen und Helden im höfischen Dekor, weicht einem neuen Typus von Oper: Die Grand Opéra entsteht. Allerdings erhebt sich diese nicht wie Phönix aus der Asche der Restauration als eine neue Gestalt aus einem Guss. Die Grand Opéra ist Stückwerk, zusammengefügt aus den Versatzstücken vieler künstlerischer Genres, und ihre Genese ist mehr der finanziellen Not durch einen abrupten Einbruch der Publikumsgunst geschuldet. Bereits 1816 macht der Direktor des Königlichen Haushalts darauf aufmerksam, dass die Varieté- und Jahrmarktstheater ebenso wie die Vaudeville- und Melodram-Theater sowie die Opéra-Comique voll in der Publikumsgunst stehen, während die grands théâtres der ersten Kategorie oftmals leer sind.⁶ Das neue städtische Publikum goutiert besonders die visuellen Sensationen, die in den Theatern der zweiten Kategorie Furore machen. Ein wesentliches Bauteil, das zum Stückwerk der Grand Opéra beiträgt, sind die Anleihen, die sie bei den Dekorationen und Effekten der Volkstheater macht. So wie die bürgerliche Revolution von 1830 nicht ohne die Volksmassen zustande gekommen wäre, so kommt auch die Umgestaltung der Oper zur Grand Opéra nicht ohne den Rückgriff auf die theatralen Volksbelustigungen aus.

    Die weiteren Elemente, die sich zum Stückwerk einer Grand Opéra zusammenfügen, hat Louis-Désiré Véron, der erste Direktor der neu gestalteten Opéra, so beschrieben:

    Un opéra en cinq actes ne peut vivre qu’avec une action très dramatique, mettant en jeu les grandes passions du cœur humain et de puissants intérêts historiques ; cette action dramatique doit cependant pouvoir être comprise par les yeux comme l’action d’un ballet. Il faut que les chœurs y jouent un rôle passionné, et soient pour ainsi dire un des personnages intéressants de la pièce. Chaque acte doit offrir des contrastes des décorations, des costumes, et surtout des situations habilement préparés.

    An der Grand Opéra ist alles groß und überdimensioniert. Die monumentalen Dekorationen, die die Vergnügungssucht des Publikums und seinen Wunsch nach Träumen und Ablenkung befriedigen, die prunkvolle Ausstattung der Kostüme und Requisiten, eine große Masse an Chorist:innen und Komparserie, eine visuelle Choreographie der Handlung wie in einem Ballett und eine Kontrastdramaturgie, die in schneller Folge wechselnde Schicksalslagen herbeiführt.

    Eine solche Umgestaltung der Gattung Oper unter dem Primat des Visuellen setzt eine Veränderung des Apparats Oper voraus. Mit der Ernennung des Arztes und Journalisten Véron, der sein Vermögen mit Hustenpillen gemacht hatte, setzt dieser Umbau ein. Véron war zwar vom Staat angestellt, er arbeitete aber mit der Opéra wie in einem Franchise-Unternehmen auf eigene Rechnung.⁸ Mit einem satten Gewinn zog er sich 1835 aus dem Geschäft Opéra zurück. Keiner seiner Nachfolger konnte danach mehr Gewinn mit der Opéra machen. Das lag an den ständig wachsenden Produktionskosten, u. a. an den rasant steigenden Gagen für die Sänger:innen, den Kosten für das ganze Corps aus Orchester, Ballett, Chor und Figurant:innen bis hin zum Sicherheitspersonal und besonders für die aufwendigen Dekorationen. Zur Ausgestaltung der Bühnenbilder genügte nun kein einzelner Ausstatter mehr, sie wurde im großen Stil arbeitsteilig organisiert. Hinzu kam, dass sich die Probenzeiten durch das multi- und transmediale Zusammenwirken unterschiedlicher Künste und Gattungen und die Feinabstimmung zwischen ihnen auf Monate hinaus verlängerte. Diese Produktionsweise brachte es mit sich, dass die Zahl der wichtigsten Grands Opéras überschaubar war.⁹ Dafür blieben sie bis über die Jahrhundertwende hinaus mit hohen Aufführungszahlen im Repertoire.

    Für die Dramaturgie der Grand Opéra entscheidend war es, jemanden zu finden, der in der Lage war, immer neue Libretti mit ständigen starken Kontrasten und unerwarteten Wendungen zu finden. Auch in dieser Hinsicht war Véron erfolgreich: »Je ne crains pas de le dire ici, M. Scribe est de tous les auteurs dramatiques celui qui comprend le mieux l’opéra«¹⁰, setzt er die Aufzählung der unabdingbaren Zutaten für eine gelungene Grand Opéra fort. Eugène Scribe ist in der Tat der Librettist der Grand Opéra. Bekannt wurde er zuvor als Librettist der Opéra comique. Die Handlung wird dort durch private Intrigen, durch immer neue überraschende Wendungen in Gang gehalten. Erst liebt er sie, als sie endlich seine Liebe erwidert, bringt ein dummes Missverständnis, angeblich ein anderer Mann, ihn dazu, sein Glück bei einer anderen zu suchen. Sie wiederum rächt sich mit einem anderen Mann, der wiederum die Trostgeliebte des Mannes liebt und so fort. Der ständige Wechsel der Situationen hält das Publikum in Atem. Scribe hat nun die privaten Intrigen, die für vergnügliche Wendungen sorgen, auf die großen und ernsten politischen Sujets der Grand Opéra übertragen, wo sie dramatische Gestalt annehmen und das Publikum in immer neue Seelenzustände versetzen.

    Für Abwechslung, eskapistisches Träumen, narzisstische Selbstfeier und sinnliches Vergnügen war alles getan in der neuen Gattung der Grand Opéra und ihrem institutionalisierten Apparat. Kein Zweifel: Die Grand Opéra ist ein Vergnügungsspektakel. Aber sie erschöpft sich darin nicht. Anzeichen dafür sind die Sujets der Grand Opéra, die in historischem Kostüm von gesellschaftlich-politischen Umbruchszeiten, Religionskriegen, sozialen Auseinandersetzungen und Pogromen kündigen. Von ihnen hat Theodor W. Adorno behauptet, sie würden in der Grand Opéra »hergerichtet, personalisiert und […] dabei neutralisiert, indem von der Substanz der Konflikte nichts übrig blieb«.¹¹ Dem ist zur Hälfte zuzustimmen. Das Spektakuläre ist die Substanz der Grand Opéra. In ihm aber haben sich in der verstellten Form des Traumas und Symptoms die leidenschaftlichen Erfahrungen verkapselt, die jene der Zeitgenoss:innen sind. In fremden Dekorationen, Kostümen und Handlungen kehren sie wieder und warten darauf, dass sie zur Kenntlichkeit entstellt und neu erfahren werden.

    Es ist Giacomo Meyerbeer, der »Meister der Grand Opéra«¹², der, mit ungeheurer musikalisch-szenischer Präzision und Intuition in die Dramaturgien von Scribe eingreifend und sie entscheidend verändernd, uns diese Erfahrung erneut machen lässt. Meyerbeer ist sowohl der exemplarische Repräsentant der Grand Opéra, der alle Register des Opernspektakels zu ziehen weiß und dieses Spektakel auch bedient. Aber er ist auch der komponierende Szeniker und szenisch denkende Komponist, der dem Spektakulären seine Kehrseite abgewinnt und zu Einsichten verhilft, die die Oberfläche aus Narzissmus, Eskapismus und Sensationen nicht ohne weiteres freigibt. Das Besondere der Opernkunst Meyerbeers ist nun, dass diese Einsichten nicht unter oder jenseits der Oberfläche in einem Reich der »Tiefe« zu suchen ist, das Richard Wagner mit antifranzösischem wie antisemitischem Ressentiment als das »echte« deutsche Wesen gegen die Oberfläche der bloßen »Effekte« des »Jüdischen« in die polemische Schlacht schickte.¹³ Sondern dass die Entstellung des Spektakulären der Oberfläche nur in und durch sie hindurch geschehen kann. Meyerbeer nimmt die Gefühle, Leidenschaften und Triebenergien, die sich ans Spektakel klammern und in ihm eine Form des Ausdrucks zu finden glauben, ernst. Er nimmt sie an und verwirft sie nicht. Erst durch diese Annahme werden sie erfahrbar, bearbeitbar und, in the long run, veränderbar. Meyerbeer erteilt dem polemischen Ausspielen von vermeintlicher inhaltlicher Tiefe gegen vermeintlich oberflächliche Äußerlichkeit eine implizite Absage. Er wirkt damit einer Politik der Feinderklärungen entgegen, die aus der polemischen Abwertung resultiert und die in der deutschen Geschichte der letzten beiden Jahrhunderte verheerende Wirkung entfalten wird. Politiken der konfrontativen Entgegensetzung und Feinderklärungen den Boden zu entziehen ist die ästhetisch-avantgardistische Strategie des Musiktheaters von Giacomo Meyerbeer. Das ist die Ursache seiner heutigen Wirkung.

    Um sie zu ermessen, ist es unabdingbar, die Stellung von Meyerbeers Grand Opéras zur Geschichte zu untersuchen und sie in den Horizont des ästhetischen Historismus des 19. Jahrhunderts zu stellen, dem sie entwachsen sind – entwachsen im doppelten Sinn des Entstehungsgrunds wie der Übersteigung des Horizonts. Das folgende Kapitel erkundet daher die Genese des ästhetischen Historismus aus dem veränderten Verständnis von Zeit und Geschichte im Zeitalter der Revolutionen. Vor allem aber fokussiert es die Gefühle und Leidenschaften, die in diesen Zeiten am Werk sind.

    2. Geschichte. Gefühle

    Die Umwandlung der Pariser Opéra, die sie zur Institution der Grand Opéra macht, wird durch die Julirevolution ins Werk gesetzt. An deren Beginn steht ein scheinbar absurdes Ereignis. Am ersten Abend der Julirevolution, der Bourbonenkönig Karl X. hatte bereits abgedankt, beginnen die Revolutionäre in unterschiedlichen Stadtvierteln ohne Absprache gleichzeitig auf die Turmuhren zu schießen, um die Zeit zu unterbrechen und den Tag anzuhalten. Paradigmatisch verdichtet sich in dieser von Walter Benjamin berichteten Episode¹⁴ die Erfahrung eines Zeitbruchs, der Bruch mit der tradierten Gewissheit historischer Kontinuität. In der »Sattelzeit« (Reinhart Koselleck)¹⁵ oder »Epochenschwelle« (Hans Blumenberg)¹⁶, zwischen Spätaufklärung und Französischer Revolution, feudal-absolutistischer Herrschaft und bürgerlicher Gesellschaft, verändern sich die bislang gültigen Anschauungen von Zeit und Geschichte fundamental. Die Vorstellung von Zeit entbindet sich aus der Koppelung an die geordnete Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wenn die Gegenwart nicht länger aus der Vergangenheit und Zukunft, aus beiden gleichsam organisch hervorgeht, ist die Zeit freigesetzt. Jede:r kann sie ergreifen, sie sich zu eigen machen und sie gestalten. Alles ist möglich, auch jede mögliche neue Ordnung. Dem Möglichen entschieden Einhalt zu gebieten war das Bestreben aller restaurativen Kräfte in Europa nach dem Ende Napoléons. Vergebens. War die Restauration der Bourbonen zwischen 1815 und 1830 der Versuch, die Große Französische Revolution von 1789 ungeschehen zu machen, so macht das Schießen auf die Turmuhren von Paris in einer spontanen symbolischen Aktion deutlich, dass das Ancien Régime der Zeit, die immergleiche Rückbindung des Kommenden an das Vergangene, abgelaufen und die Zukunft offen ist. Es ist der historische Augenblick, die Zeit zu beschleunigen und die Zukunft selbst zu gestalten, wie es bereits Maximilien de Robespierre in seiner Rede Sur la Constitution 1793 als Aufgabe der Revolutionäre proklamiert.¹⁷

    Jacques-Louis David: Der Schwur im Ballhaus (Le serment du Jeu de paume), 1791. Lavierte Federzeichnung, 66 x 101,2 cm, Musée National du Château.

    Die reale Möglichkeit der Selbstermächtigung der Bürger:innen ist der Auslöser eines Enthusiasmus, der die Einzelnen aus ihren alltäglichen Geschäften und Verrichtungen heraus- und über sich selbst hinaustreibt ins Erhabene und in Richtung auf eine sich selbst bestimmende Menschheit hin. Im Enthusiasmus, den die Französische Revolution auslöst, hat Immanuel Kant 1798 ein »Geschichtszeichen« gesehen, das »eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat«¹⁸. Von diesem Enthusiasmus zeugt der Entwurf zu einem (nicht ausgeführten) Gemälde von Jacques-Louis David: Le serment du Jeu de paume (Der Schwur im Ballhaus) (1791). Dieser Enthusiasmus in der allegorischen Gestalt der Freiheit beflügelt auch die bürgerlichen Revolutionär:innen von 1830, die in Eugène Delacroix’ berühmtem Bild La Liberté guidant le peuple (Die Freiheit führt das Volk) auf und über die Barrikaden hinwegschreiten – hinweg auch über Körper der am Boden liegenden erschossenen Arbeiter:innen, ohne deren Kampfesmut die bürgerliche Revolution nicht zustande gekommen wäre.

    Eugène Delacroix: Die Freiheit führt das Volk (La Liberté guidant le peuple), 1830. Öl auf Leinwand, 260 x 325 cm, Musée du Louvre Paris.

    Der Enthusiasmus, die »Teilnehmung am Guten mit Affekt«¹⁹, ist die Leidenschaft der Revolutionär:innen im Augenblick, in dem sie sich anschicken, Geschichte selbst zu gestalten. Es ist aber auch der Augenblick einer Erschütterung, in der die revolutionär Handelnden ins Nichts blicken, weil sich der »Erwartungshorizont« der Zukunft nicht aus dem »Erfahrungsraum« der Vergangenheit entwerfen lässt.²⁰ Die geschichtliche Kontinuität ist außer Kraft gesetzt, die Revolutionär:innen haben einen leeren Raum der Möglichkeiten vor sich und nichts, was ihnen Orientierung geben und den Weg weisen könnte.

    Der Enthusiasmus der Revolutionär:innen, die auf die Turmuhren schießen, um den Tag festzuhalten, an dem eine neue Zeit beginnt, geht einher mit einer tiefen emotionalen Erschütterung durch den Verlust aller tradierten Orientierungen, Gewohnheiten und erfahrungsgesättigter Planungen. An den bürgerlichen Revolutionen tritt zutage: Die Vergangenheit ist nun tatsächlich vergangen und bietet keine Anhaltspunkte mehr für die Zukunft. Geschichte ist nicht länger selbstverständliche traditionsgespeiste Lebenswelt, sondern im Kollektivsingular als die Geschichte ein von der Gegenwart entferntes bzw. in der Gegenwart erst noch zu gestaltendes Objekt. Im leeren Raum der Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft stürzen die sinnstiftenden Weltbilder und Religionen in sich zusammen und hinterlassen eine doppelte traumatische Erfahrung: die der Kontingenz eines zufälligen Lebens ohne metaphysischen wie sozialen Halt und teleologisches Versprechen und die eines singulären Todes, der in keinem religiösen, metaphysischen oder politischen Weltbild als »ein Tod für etwas« mehr Sinn macht. Diesen metaphysisch trostlosen Tod hat Georg Wilhelm Friedrich Hegel im Tod auf der Guillotine im Terreur der Französischen Revolution am Werk gesehen. Über ihn heißt es im Kapitel »Die absolute Freiheit und der Schrecken« in der Phänomenologie des Geistes: »[E]s ist […] der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wasser.«²¹

    Derselbe Hegel hat gleichwohl bis zu seinem Lebensende den revolutionären Impetus verteidigt, Geschichte nach eigenen Ideen zu gestalten: »Solange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie kreisen, war das noch nicht gesehen worden, dass der Mensch sich auf den Kopf d.i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut«,²² so Hegel über die Französischen Revolution.

    Die grundlegende Ambivalenz in der Beschreibung und Bewertung der revolutionären Ereignisse macht klar: Der historische Moment, in dem Geschichte erstmals von Menschen gemacht werden könnte, ist emotional aufgeladen mit zwei entgegengesetzten extremen Gefühlen: Begeisterung und Entsetzen. Sie befeuern die Ereignisse als kollektive soziale Gefühle in diese und jene Richtung. Die enthusiastische Selbstüberhebung ist begleitet von der Ent-Setzung der Subjekte durch die Erfahrung von Kontingenz und vom Entsetzen über den Terror der Revolution. In der Zeit zwischen den Revolutionen von 1830 und 1848, der Zeitspanne der Julimonarchie, treten diese sozialen Emotionen nicht als solche erkennbar und manifest hervor, sondern wirken als Traumata, geschlagen von der Enttäuschung des revolutionären Traums (von) der Freiheit und der Gewaltdynamik einer Gesellschaft im Umbruch unter der Oberfläche des politisch-gesellschaftlichen Lebens subkutan weiter. Die Begeisterung verschwindet im Alltag der Geschäfte der bürgerlichen Klasse, die sich anschickt, die Herrschaft zu übernehmen. Die Kluft, die zwischen beiden, dem einstigen Enthusiasmus und der grauen Gegenwart, klafft, tritt zutage, wenn man das Bild La Liberté guidant le peuple von Delacroix neben die bürgerlichen Raffer- und Spießerkarikaturen von Honoré Daumier hält. Auch das Trauma revolutionärer Erschütterung wird verdrängt. Die Erinnerung an den gleichgültigen Tod im Terreur der Französischen Revolution, an das gesichtslose Sterben in den Napoleonischen Kriegen, an Gewalt und Verfolgung während der politischen Restauration und an die Unsicherheit der Existenz in einer Zeit beschleunigter Veränderungen, all das findet keinen Platz in einer Gesellschaft, die der Devise folgt »Enrichissez-vous!«²³ Aber die verdrängte Erfahrung eines singulären Todes auf der »Sandbank der Endlichkeit«²⁴ und der Treibsand der Gefühle der Begeisterung und des Entsetzens wirken fort im Unbewussten der Zeitgenoss:innen und kehren wieder in anderer Gestalt und an anderem Ort: in einer neuen Leidenschaft für (die jüngst aus der Gegenwart entfernte) Geschichte. In Geschichte, oder präziser gesagt in einem hochwirksamen ästhetischen Kondensat, einer imaginären Ersatzgestalt, entdecken, finden, erfinden die Bürger:innen des gerade erwachten Zeitalters auf verstellte, ja pervertierte Weise erneut den Traum und die Traumata ihrer von Vergangenheit heimgesuchten Gegenwart. Die ästhetische Kompensationsform von Geschichte ist der ästhetische Historismus, das vorherrschende Paradigma der Künste in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in (West-)Europa. Die Grand Opéra ist ein privilegierter Ort seines Erscheinens wie seiner Transformation.

    3. Der Aufzug der Geschichtsbilder im Theater des ästhetischen Historismus

    Um den Aufstieg des ästhetischen Historismus zum herrschenden künstlerischen Paradigma im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zu verstehen, ist es hilfreich, sich den Hunger nach (Lebens)Sinn in einer aufgeklärten Zeit ohne transzendenten religiösen und metaphysischen Trost an der Abfolge der weltanschaulichen Sinnstiftungssysteme vom 18. auf das 19. Jahrhundert vor Augen zu stellen. Nachdem die Aufklärung, vor allem in der Gestalt von Kant, den Glauben an die Metaphysik und transzendente Gewissheiten als bloßen Glauben kenntlich gemacht hat, wird die Geschichtsphilosophie von Kant bis Hegel zum immanenten Legitimationsgrund einer von Metaphysik entzauberten Welt. Sinn sucht sie, wie Hegel, in einem Fortschreiten im Bewusstsein der Freiheit, das den Gang der Geschichte auf eben diesen Zweck hin gestaltet und durchwirkt. Mit der Entzauberung der Geschichtsphilosophie selbst, durch den philosophischen Materialismus des Vormärz und den real-ökonomischen Materialismus der bürgerlichen Gesellschaft geht die Sinnstiftung an die Geschichtsschreibung über, die unter dem Rubrum des Historismus das vorherrschende Weltbild und Verfahren der Welterklärung zum Ausdruck bringt.²⁵ Ihre Absicht ist zum einen die auf reine Faktizität gestützte Erklärung jeder Epoche aus sich selbst, d. h. ohne ihre philosophische Einbettung als Teil eines dialektisch angelegten Geschichtsverlaufs. Zum anderen soll die Erforschung der Geschichte der einzelnen Zeitalter der Gegenwart erklären, wie sie geworden ist und durch die Darlegung ihres historischen Gewordenseins Sinn stiften. Die Sinnfälligkeit der historischen Erklärung der Gegenwart aus ihrer Vor-Geschichte²⁶ ist aber angewiesen auf die Konsistenz und Überzeugungskraft von Geschichtserzählungen, die die Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden und an die sinnliche Augenfälligkeit historischer Zeiten, die sich vergegenwärtigen lassen, um der Einheit eines zusammenhängenden Welt-Zeit-Raums Plausibilität zu verschaffen. Das ist der historische Augenblick für den Auftritt der Künste.

    Die Geschichtsschreibung des Historismus kommt nicht aus ohne Formen und Modelle des literarischen

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