Johann Sebastian Bach: Vom Sängerknaben zum Thomaskantor
Von Till Sailer
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Buchvorschau
Johann Sebastian Bach - Till Sailer
Till Sailer
Johann Sebastian Bach
Vom Sängerknaben zum Thomaskantor
Das Buch erschien früher unter dem Titel
»Wie Bach Thomaskantor wurde«
im Atlantis Musikbuch-Verlag.
Überarbeitete Neuausgabe
© 2010 Brunnen Verlag Gießen
www.brunnen-verlag.de
Umschlaggestaltung: Ralf Simon
Umschlagmotiv: J. S. Bach im Alter von etwa 30 Jahren;
Gemälde von Johann Ernst Rentsch, 1715
Satz: DTP Brunnen
ISBN 978-3-7655-4086-8
eISBN 978-3-7655-7335-4
Inhalt
Der Kurrendesänger
Helle Nächte
Wanderschaft
Prima vista
Der Wettstreit
Wie das Orgelbüchlein entstand
Die geheimnisvolle Zahl
Der Thomaskantor
Alltag
Goldberg-Variationen
Die letzte Reise
Lebensdaten
Worterklärungen
Der Kurrendesänger
Das Fest der silbernen Hochzeit war für die weitverzweigte Familie der Bachs eigentlich kein Anlass, einen Familientag einzuberufen. Als der Eisenacher Hof- und Stadtmusikant Ambrosius Bach und seine Frau Elisabeth ihr fünfundzwanzigjähriges Ehejubiläum begingen, glich ihr Haus aber trotzdem einem Taubenschlag. Ohne Einladung waren aus ganz Thüringen Verwandte angereist, sodass die Gastgeber alle Hände voll zu tun hatten. Doch sie nahmen diese Mühe gern auf sich. Die Teilnahme an einem solchen Fest galt in der Bachschen Familie als höchster Ausdruck der Ehrerbietung.
In dem lustigen Trubel war es der Hausherrin entgangen, dass sich ihre beiden jüngsten Kinder davongeschlichen hatten. Deshalb war sie erstaunt, als sie unter den Kurrendeknaben, die zur Feier des Tages vor dem Haus aufzogen, ihre Söhne Jakob und Sebastian entdeckte. Die Jungen hatten ihr versprechen müssen, dass sie die Kurrendetrachten niemals in der Stadt tragen würden. In der Adventszeit, wenn es in die umliegenden Dörfer ging, hatte sie nichts dagegen einzuwenden.
Es war ein unfreundlicher, regnerischer Apriltag. Die Sängerknaben hatten die schwarzen Zylinderhüte weit in die Stirn gezogen. Sie hielten, während sie aus voller Kehle sangen, die Arme unter dem weiten Radmantel versteckt, um sich zu wärmen.
Die Gäste eilten an die Fenster und begrüßten den kleinen Chor mit aufmunternden Zurufen. Die meisten von ihnen waren Musiker, und einige hatten früher selbst in der Kurrende mitgesungen. Sie wussten, dass schlechtes Wetter seine guten Seiten hatte. Denn die Zuhörer griffen dann umso tiefer in die Tasche.
Mutter Elisabeth ging, wie es die Sitte verlangte, mit ihrem Mann zur Haustür. Sie nahm den Korb voller Süßigkeiten und Pasteten mit, den die Magd am Morgen vorbereitet hatte. Als sie heraustrat, wurde ihr bewusst, dass die Söhne den Eltern eine Überraschung machen wollten, konnte sich aber dennoch nicht recht darüber freuen. Nur die allerärmsten Lateinschüler sollten in der Kurrende singen. Sie empfand ihr Leben, trotz einiger Entbehrungen, jedoch keineswegs als ärmlich.
Der Gesang endete mit einem hellen Akkord. Die kleinen Sänger sahen erwartungsvoll auf das festlich gekleidete Paar. Der Chorpräfekt, der mit einer Notenrolle den Takt gegeben hatte, überbrachte Glückwünsche. Mit vielen Verbeugungen nahm er den Korb und eine Handvoll kleiner Münzen entgegen. Ein weiterer Choral wurde angestimmt. Damit ging der Auftritt seinem Ende entgegen. Doch bevor die Kurrende weiterziehen konnte, bat Vater Ambrosius, sein Jüngster möge noch ein Lied allein vortragen. Auf den Wink des Präfekten stürmte Sebastian zur Tür, den unbequemen Zylinder in der Hand. Er presste sein regennasses Gesicht an den Leib der Mutter, um sie zu besänftigen.
»Du bist ja ganz durchnässt«, sagte sie erschrocken. Sie ahnte, wie stolz er darauf war, gerade heute zum ersten Mal als richtiger Kurrendesänger aufzutreten. Doch die Sorge um die Kinder konnte sie nie ganz unterdrücken. Und so sagte sie: »Was musst du wie eine arme Waise von Haus zu Haus ziehen und um Almosen betteln? Du wirst dir bei dem Wetter noch den Tod holen.«
Der Junge trat einen Schritt zurück und sah auf den Hut, den er mit beiden Händen umklammerte. Als er kurz aufblickte, bemerkte er eben noch, dass Vater Ambrosius die Hand seiner Frau umfasste, um ihr anzuzeigen, wie unpassend die Ermahnung sei. Sie machte eine entschuldigende Geste zum Präfekten.
»Oder macht es dir Freude?«, fragte sie.
»O ja!«, kam es voller Überzeugung zurück. »So bin ich doch der Musik ganz nahe. Und das Schöne ist, es gibt dabei zweifache Freude: für die musici und für jene, die ihnen lauschen.«
Er sagte es so begeistert, dass die Gäste an den Fenstern unwillkürlich Beifall klatschten.
»So sing uns etwas«, meinte der Vater.
Sebastian setzte den Zylinder auf, warf den Kopf in den Nacken und begann mit dem Choral, den er schon sicher auswendig konnte:
»Ich singe dir mit Herz und Mund …«
Seine Stimme war klar und klangvoll. Sie zitterte und schwankte keinen Augenblick. Sebastian bewegte sich ganz ohne Scheu. Es machte ihm nichts, dass der Regen stärker wurde und der Wind kräftig unter seinen Mantel fuhr. Die Worte passten sowohl zu dem Anlass als auch zu dem unwirtlichen Wetter.
»Wer wärmet uns in Kält und Frost?
Wer schützt uns vor dem Wind?
Wer macht es, dass man Öl und Most
zu seinen Zeiten find’t?
Wer gibt uns Leben und Geblüt?
Wer hält mit seiner Hand
den güldnen, werten, edlen Fried
in unserm Vaterland …?«
Der Präfekt nickte im Takt und betrachtete voller Zufriedenheit seinen Schützling. Wie genau der Achtjährige die Töne traf, und mit welchem Ausdruck er die Melodie darbot. Dass er auf eine solche Stimme nicht verzichten konnte, mussten die Eltern doch einsehen.
Nach der Hälfte der zahlreichen Strophen gab er den Einsatz für die übrigen Sängerknaben. Er verbeugte sich noch einmal kurz und sagte, dass es weitergehen solle.
Sebastian schlüpfte schnell in seine Reihe zurück. Die Kurrende zog davon.
»Wahrhaftig: Er singt für uns mit Herz und Mund«, sagte Ambrosius leise zu seiner Frau. »Wer solchen Reichtum hat, kann getrost unter den Ärmsten sein.«
»Ja«, sagte Elisabeth Bach mit weicher Stimme. »Ich werde ihn nicht mehr zurückhalten. Er soll singen.«
Am Abend dieses Festtages ging Sebastian im väterlichen Haus von Zimmer zu Zimmer. Er beobachtete aufmerksam die nahen und entfernten Familienmitglieder. Es war für ihn immer ein fesselndes Spiel, bei solchen Zusammenkünften zu erkunden, wer zu welcher Linie in der Familie gehörte und welches Amt er bekleidete. Besonders beschäftigte ihn der Arnstädter Stadt- und Hofmusikus Christoph Bach, ein Zwillingsbruder seines Vaters, der diesem aufs Haar glich.
»Verehrter Oheim«, fragte er, »warum lässt unser Herr einen Menschen doppelt auf die Welt kommen?«
»Auch der Herrgott«, meinte der Angesprochene, »möchte seinen Spaß haben.« Er nahm einen gewaltigen Schluck Bier und fügte hinzu: »Wenn ihm ein Gesicht gefällt, so vergibt er’s eben zweimal.«
Die Zuhörenden lachten.
»Mit dem Gesicht mag es angehen«, entgegnete der Junge schlagfertig. »Aber die Seele braucht man doch für sich allein.« Die Männer lachten nun derber.
Ein Mädchen in Sebastians Alter fasste ihn am Ärmel, zog ihn sanft, aber bestimmt ins Nebenzimmer und flüsterte: »Sie haben zu viel Öl auf die Lampe gegossen. Die Flamme ihres Geistes ist rußig geworden.«
Sebastian machte sich los und fragte, wie schon oft an diesem Tag: »Wer bist du? Wo kommst du her?«
»Ich bin Maria Barbara aus Gehren«, kam es zur Antwort. »Mein Vater ist Michael aus der Linie von Großvater Heinrich Bach.«
»Du brauchst mich nicht zu beschützen, Kusine«, meinte Sebastian ein wenig ärgerlich. Sie ging nicht darauf ein und fragte: »Wollen wir Freunde sein?«
Er fand die Frage seltsam. Alle Bachs waren Freunde. Doch er stimmte zu. Sie tauschten ihre kleinen und großen Geheimnisse und blieben so lange beieinander, bis eine neue Ablenkung kam.
Im Laufe des Abends wurde ausgiebig gegessen und getrunken, geplaudert und vor allem musiziert. Als sich die meisten Gäste in der Diele zusammenfanden und ein Scherzlied nach dem anderen gesungen wurde, streifte Sebastian durch die leeren Räume. Er genoss es, länger als sonst aufbleiben zu dürfen.
Im Musikzimmer traf er den ehrwürdigen Organisten der Eisenacher Georgskirche. Weil er der erste Bach war, der in Eisenach ansässig wurde, nannte man ihn in der Mundart der Stadt den Iskenacher Bach. Sebastian hatte schon mehrmals neben ihm auf der Orgelbank gesessen und sein kunstvolles Spiel bestaunt.
Der Iskenacher präludierte auf einer kleinen, ein wenig klapprigen Hausorgel. Er fragte, ob die Schule nach Sebastians Geschmack sei, und erkundigte sich nach dem Violinunterricht beim Vater. Der Junge gab nur knapp Antwort, denn ihn interessierte vor allem die Musik. »Es muss in Euerm Kopf eine große Ordnung sein«, sagte er. »Was Ihr auch spielt, es klingt, als müsste es so sein und kein Quentchen anders.«
Der Iskenacher schmunzelte. »Du machst dir viele Gedanken.«
»Ja, ich will alles begreifen«, meinte der Junge. »Aber die Musik ist wie Luft. Sie ist da und ist doch nicht da. Wie kann man sie nur festhalten, wie Ihr es tut?«
»Nun«, antwortete der Organist, ohne sein Spiel zu unterbrechen, »du singst doch recht artig und streichst die Geige. Ist das keine Musik?«
Sebastian schüttelte energisch den Kopf. »Musik ist es erst, wenn die Stimmen sich treffen und fliehen.