Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Skorpion im Nirwana
Skorpion im Nirwana
Skorpion im Nirwana
eBook548 Seiten7 Stunden

Skorpion im Nirwana

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Mike ist am Ende. Das Psychologiestudium macht keinen Spaß, die Freunde sind ständig auf Pille, der Job in einem heruntergekommenen Teeladen nervt und der gelegentliche Sex mit der Dozentin ist unbefriedigend. Mike spürt, dass er nichts mehr zu verlieren hat und zögert keine Sekunde, als ihn sein psychotischer Kumpel Bob zu einem todsicheren Job überredet: Ein Paket mit außergewöhnlich reinem Heroin, das den Besitzer wechseln soll. Endlich ein Ziel! Am Abend vor dem Deal stürzt sich Mike in eine skurrile Trance-Party und landet in den Armen von Sarah. Und plötzlich ist nichts mehr so wie es war. Mit der Gewalt einer Naturkatastrophe verliebt sich das sex- und heroinsüchtige Rasta-Girl in ihn und sprengt ein hübsches Loch in seine Realität. Der Wahnsinn eskaliert, als Bobs stümperhaft geplanter Coup eine blutige Kettenreaktion auslöst und das ungleiche Liebespaar ins Fadenkreuz skrupelloser Elemente gerät.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum6. Jan. 2015
ISBN9783735774170
Skorpion im Nirwana
Autor

Kiko Repho

Kiko Repho, geboren 1971, erlebte eine verrückte Jugend in der Punk- und Hooliganszene, versuchte sich als Sänger in kurzlebigen Rockbands, und verschlief den Karrieresprung bei einem spanischen Radiosender. Stattdessen studierte er Politik und Romanistik, tauchte in die internationale Graffitiszene ein und fand seine Berufung im Journalismus. Er schreibt für den Kultur- und Reiseteil deutscher und spanischer Tageszeitungen. Sein erster Roman „Skorpion im Nirwana“ ist ein halluzinogener Thriller mit einer coolen Dosis Pulp und Reggae.

Ähnlich wie Skorpion im Nirwana

Ähnliche E-Books

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Skorpion im Nirwana

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Skorpion im Nirwana - Kiko Repho

    Danke Nadine

    Inhaltsverzeichnis

    Erster Stich

    Zweiter Stich

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Dritter Stich

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Vierter Stich

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Kapitel 19

    Kapitel 20

    Kapitel 21

    Fünfter Stich

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Kapitel 19

    Sechster Stich

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Letzter Stich

    Erster Stich

    Gutes und böses Schicksal, Glück und Unglück sind wie ein zusammengedrehtes Seil. Japanisches Sprichwort

    »Hör auf damit, komm da jetzt runter!«

    Die Augen des Jungen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. Benommen wischte er sich mit dem Handrücken das Blut und die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Schwer atmend kroch er aus dem Schatten hinter dem umgestürzten Bettkasten hervor. Aus seiner Nase lief ein dicker, blutiger Faden.

    Überall lagen Scherben auf dem Boden, die in dem flackernden Neonlicht der Straßenreklame wie ein unwirkliches Trümmerfeld schimmerten. Knirschend zerplatzte ein Stück Glas unter seinem Handteller. Tränen schossen ihm in die Augen. Er keuchte vor Schmerz. »Bitte komm da wieder runter«, rief er erneut mit schwacher Stimme und streckte seine unverletzte Hand nach der verschwommenen Gestalt vor ihm aus. Alles um ihn herum schien sich zu drehen. Er schwankte und fiel auf den Boden.

    Vom anderen Ende des Zimmers erntete er schrilles Gelächter. Das Mädchen mit den langen, im Wind flatternden Haaren saß vergnügt auf dem Fensterbrett. Sie trug nur ein dünnes Nachthemd. Spielerisch ließ sie ihre nackten Beine über den Rand baumeln. »Bitte komm da wieder runter!« ahmte sie seine Worte spöttisch nach.

    Draußen tobte ein heftiger Sturm. Dennoch unternahm sie keinerlei Mühe, sich am Rahmen oder an anderer Stelle festzuhalten, sondern verschränkte ihre Arme vor der Brust. In dem sich ständig verändernden Licht wirkte ihr abgemagertes Gesicht mit den riesigen hervorquellenden Augen wie ein grinsender Schädel. Das Transistorradio lag irgendwo voll aufgedreht zwischen dem Bett und einem wirren Kleiderberg. Der Sender spielte »My Way«, die Punkversion von Sid Vicious, und die Akkorde knallten wie Hammerschläge gegen sein Trommelfell.

    »Du bist wirklich ein ganz erbärmlicher kleiner Vollidiot«, schrie das Mädchen und deutete mit ihrem knochigen Zeigefinger auf ihn.

    Der Junge blinzelte in das blendende Licht einer überdimensionierten Werbetafel, die an der gegenüberliegenden Hausfassade angebracht war. Unentwegt wischte er sich die Tränen aus den Augen. »Ich liebe dich doch ...«, sagte er mit zitternder Stimme. »Wir können es schaffen, glaub mir doch.«

    Hysterisches Gelächter. »Das hättest du wohl gerne, was?« kreischte sie und entblößte eine zertrümmerte Zahnreihe hinter ihren aufgeplatzten Lippen. Der grausige Anblick war für ihn schmerzvoller als alle Verletzungen, die er davongetragen hatte.

    In seinem Kopf spielte sich die Szene von neuem ab. Er hatte gerade das Zimmer betreten, als sie dabei war, ihren Kopf mit entsetzlicher Wucht auf die Waschbeckenkante zu schlagen. Beim Versuch, sie davon abzuhalten, zerplatzte eine Blumenvase auf seinem Kopf. Er ging zu Boden und musste unendlich viele Tritte einstecken. Doch das sollte noch nicht alles sein. Zu guter Letzt hatte sie ihm noch ins Gesicht gepisst.

    »Du bist so blöd, Junge, ich hab doch, was ich wollte, und jetzt hau endlich ab!« giftete sie ihn weiter an.

    »Nein, das kann ich nicht«, stotterte er. Mühsam gelang es ihm, sich einigermaßen wieder aufzurichten. Aus seinem Haar fiel eine abgebrochene Rose. »So versteh doch, ich will dir helfen ...«

    Kichernd ließ sie den Kopf auf die Brust fallen. Ihr Körper zuckte anfallartig, während sie sich an den Oberschenkeln und am Bauchnabel kratzte, bis die roten Streifen auf ihrer weißen Haut zu bluten begannen. »So, ich kann mir schon denken, wie deine Hilfe aussieht«, sagte sie mit kalter Stimme. Von der Straße her ertönte ein Hupton. Plötzlich riss sie den Kopf hoch und bohrte ihren fiebrigen Blick direkt in seine Augen. »In die Klinik gehe ich nicht mehr, damit das klar ist!« schrie sie.

    Verzweifelt hob er die Hände. »Aber es ist die einzige Chance, alleine schaffen wir das doch nicht mehr«, bettelte er. Zu lange, das war ihm jetzt schmerzhaft bewusst geworden, hatte er davor zurückgeschreckt, die Wahrheit laut auszusprechen.

    Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. In der Tür stand ein junges Mädchen im Nachthemd, das ängstlich zitternd einen Teddy an ihre Brust drückte. Ihm fiel auf, dass sie sehr kurze Haare hatte. Unter dem dünnen Flaum, der ihren Kopf bedeckte, leuchtete etwa handtellergroß ein hellroter Fleck. Ihre Blicke begegneten sich, und für einen kurzen Augenblick schien alles um ihn herum zu verblassen. Das Nachtgespenst mit den großen Augen sah in traurig an, und plötzlich wurde ihm eine Woge aus kindlichem Mitgefühl zuteil. Unverfälscht und von anrührender Wärme. Die Zeit war im Begriff stehen zu bleiben.

    »Mach die Tür zu, du Miststück!« vernahm er in seinem Rücken eine wütende Stimme. Das kleine Mädchen erschrak und fasste sofort nach der Klinke. Ein letzter Blick, dann zog es die Tür bis auf einen dünnen Spalt wieder zu, durch den ein schwaches Ganglicht hindurchschimmerte. Der Junge kam sich grausam verlassen vor, als er ihren Schatten noch einmal vorbeihuschen sah. Das Pochen in seiner Brust wurde stärker. Langsam drehte er sich wieder um.

    »Es war ein Fehler, dich aus der Klinik zu holen«, stotterte er. Die Worte lösten ein wütendes Funkeln in ihren Augen aus. »Du musst zurück«.

    »Na schön, wenn du meinst«, entgegnete sie. Sie wippte mit dem Oberkörper vor und zurück. »Aber nur unter einer Bedingung.«

    Die Wendung kam für ihn völlig unerwartet. Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung? Der Junge fiel auf die Knie. Jetzt würde doch noch alles gut werden. »Oh natürlich«, stammelte er. »Alles, was du möchtest.« Er rang sich ein gequältes Lächeln ab.

    »Okay, siehst du die lange Scherbe da genau vor dir?« sagte sie.

    Was für einen Sinn ergaben ihre Worte? Unentwegt rasten Gedanken durch seinen Kopf. Aus Angst sie zu verärgern, vermied er es jedoch, danach zu fragen. Stattdessen suchte er verwirrt den Boden ab. Endlich fiel sein Blick auf die Stelle. »Ja ...«, antwortete er zögerlich.

    »Nimm sie und schlitz dir die Pulsadern damit auf.«

    Stille. Der Raum schien plötzlich wie von einer unsichtbaren Glaskuppel umschlossen zu sein. Du musst dich verhört haben, dachte er. »Was soll ich damit machen?« fragte er mit leiser Stimme.

    »Ich will, dass du dich für mich kalt machst, dann gehe ich in die Klinik zurück«, sagte sie grinsend. »Versprochen, Baby.« Lachend klatschte sie in die Hände.

    Das konnte unmöglich ihr Ernst sein. Ja, keine Frage. Nur ein kranker Witz. Völlig verunsichert fiel er in das Gelächter mit ein, doch aus irgendeinem Grund spürte er keine Erleichterung. Das ungute Gefühl in der Magengrube verstärkte sich indessen noch. Auf der Straße warf der Sturm mehrere Mülltonnen um.

    »Was gibt es da zu lachen?« schrie das Mädchen außer sich vor Wut. »Das ist kein Gag.« Mit dem Zeigefinger deutete sie eine bestimmte Bewegung an, indem sie damit über ihr Handgelenk fuhr.

    Er wollte es immer noch nicht wahrhaben. »Ach, ist es nicht?« Verzweifelt suchte er in ihrem Gesichtsausdruck nach einem Anzeichen dafür, dass sie es nicht ernst meinte. Vergeblich.

    »Ich zähle jetzt bis zehn, dann springe ich auf die Straße«, sagte sie kühl und rutschte auf dem Fensterbrett noch näher an den Rand heran.

    Fassungslos verharrte er in seiner verkrampften Haltung. Würde sie es tun? Vielleicht sollte er sie einfach springen lassen, flüsterte ihm eine innere Stimme zu. Als sie jedoch bei Neun angelangt war, hob er mit gesenktem Blick die Scherbe auf. Umgehend verstummte sie. Mit unruhigen Fingern brachte er das scharfkantige Glas über der linken Pulsader zum Anschlag. Sein Atem ging immer schneller. Er neigte den Kopf leicht zur Seite, um zu verhindern, dass die Tränen in seinen Mund liefen. Taumelnd kam er wieder auf die Beine.

    »Na los, mach schon«, forderte sie ihn mit Nachdruck zum Handeln auf. Sie klang sehr vergnügt. Erwartungsvoll beugte sie sich in seine Richtung, um das Schauspiel besser beobachten zu können. Schluchzend ritzte er eine dünne, rote Linie in sein Handgelenk. »Au, der arme Junge«, rief sie und spendete höhnisch Beifall. »Mann, mach es richtig oder ich mach den Flieger!«

    Wut keimte in ihm auf. »Das reicht jetzt, komm sofort da runter«, schrie er und machte einen energischen Schritt auf sie zu.

    Sofort sprang sie auf. »Bleib wo du bist«, kreischte sie und balancierte mit einem Bein auf dem Fensterbrett.

    Am ganzen Körper zitternd, blieb er unmittelbar vor ihr stehen. Für eine Sekunde wollte er alles auf eine Karte setzen, doch schließlich musste er sich eingestehen, dass ihm die nötige Entschlossenheit dazu fehlte. Und nein, er wollte nicht, dass sie sich etwas antat, auch wenn sie sich schon wieder wie eine kranke, bösartige Schlampe verhielt. Sie bedeutete ihm einfach zuviel, als dass er es riskieren konnte. Das Gefühl, dieses Wesen zu lieben, war einfach zu stark. Die Schnitte waren weniger schmerzvoll als er befürchtet hatte. Das Blut pulste aus den frischen Wunden an seinen Handgelenken.

    »Gut, endlich hast du mal was richtig gemacht«, rief sie freudestrahlend. »Und nun, wie versprochen, komme ich zu dir herunter.« Lächelnd schlang sie ihre Arme um seine Hüfte und legte den Kopf auf seine Brust.

    »Und jetzt fahren wir in die Klinik, ja?« presste er unendlich mühsam zwischen seinen Lippen hervor.

    »Noch nicht, erst ficken wir noch schön«, entgegnete sie.

    In seinem Körper breitete sich eine ekelhafte Kälte aus. »Dafür ist keine Zeit mehr, ich ...« Weiter kam er nicht. Lachend drückte sie ihre Nase in sein Gesicht und drang mit ihrer heißen Zunge in seinen ausgetrockneten Mund ein. Sie fielen auf das verwüstete Bett.

    Das Mädchen setzte sich auf ihn. »Hey, stell dich doch nicht so an«, sagte sie und streckte triumphierend die Arme aus, »jetzt kommt die Versöhnung.«

    »Wir müssen gehen«, flüsterte er. Durch den Blutverlust begann die Umgebung vor seinen Augen zunehmend zu verschwimmen.

    Genervt verdrehte sie ihre Augen und winkte ab. »Okay, dann leck mir wenigstens noch mal über die Möse, wenn es schon nicht zu mehr reicht.« Um der Forderung Nachdruck zu verleihen, richtete sie sich auf und lüftete wütend ihr Nachthemd. Sie deutete auf die feucht glänzende Stelle zwischen ihren Beinen. »Hab mich vorhin noch schnell rasiert, also stell dich nicht so an und mach hin!« Die Arme lässig hinter dem Nacken verschränkt, bewegte sie kreisend ihr Becken.

    Kraftlos umklammerte er ihre Schenkel, doch seine Hände rutschten wieder ab und hinterließen rote Flecken auf ihrer schwitzenden Haut. »Ich verblute, ich brauch einen Arzt.«

    »Hey Kleiner, das war aber nicht abgemacht«, hielt sie ihm beleidigt vor. »Es war nur die Rede davon, dass ich zur Klinik gehe, wenn du dich aufschlitzt.« Ihre Stimme klang, als hätte sie irgendeine Belanglosigkeit von sich gegeben.

    Die Worte rissen ihn aus der Lethargie. »Was sagst du?«

    »Ja, ist mir doch scheißegal, wenn du verreckst«, sagte sie.

    »Aber ...«

    »Und komm mir jetzt bloß nicht mit dieser Liebesscheiße und so.«

    »Halt endlich dein Maul«, brüllte er sie an. Mit letzter Kraft drückte er sie von sich weg. Sie stieß einen spitzen Schrei aus. Er wollte sich aufrichten, doch die Anstrengung war zuviel für seinen geschwächten Körper. Ohne Halt zu finden, rutschte er über die Bettkante und schlug mit der Schulter auf den Fliesen auf. Stöhnend schleppte er sich zur Tür.

    »Hey, wo willst du hin?« schrie sie hinter ihm her. »Du kannst mich jetzt nicht hier alleine lassen!« Als sie keine Antwort bekam, machte sie wieder einen Satz auf das Fenster zu. »Wenn du nicht sofort stehen bleibst, springe ich raus!«

    »Dann mach doch«, murmelte er kaum hörbar.

    »Das kann nicht dein Ernst sein, dreh dich doch um!« schrie sie. Klang das nach echter Verzweiflung? Er war kaum noch in der Lage, seine Gedanken zu ordnen. Vor seinen Augen verfärbte sich alles zu einem rötlichen Schleier, und in seinem Kopf breitete sich eine pochende Leere aus, die jedes Gefühl betäubte. »Bitte, bleib hier!« jammerte sie mit tränenerstickter Stimme. Gefühle. Ich bin ihr also doch nicht so gleichgültig, dachte er. Sein Herz schlug schneller.

    Entsetzlich langsam, den trüben Blick starr auf den Boden gerichtet, drehte er sich mit unbeholfenen Bewegungen zu ihr herum. In dem Moment, als er endlich seinen Kopf heben wollte, versagten ihm endgültig die Kräfte. Plötzlich knickten seine Knie ein. Mit voller Wucht stürzte er auf den Boden und blieb auf dem Rücken liegen. Ein gewaltiger Windstoß ließ die Gardinen vor dem Fenster tanzen.

    Das Mädchen wurde von der Woge erfasst. Indem sie mit den Armen ruderte, versuchte sie noch verzweifelt, das Gleichgewicht zu bewahren, aber es war ein aussichtsloser Kampf. Schreiend kippte sie nach hinten weg und verschwand im Dunkel. Für Sekundenbruchteile sah er noch ihre Füße. Als ein dumpfer Aufprall ertönte, schloss der Junge seine Augen. Der Sturm tobte weiter. Das monotone Heulen und der abgehackte Sound einer Reggaegitarre, der aus dem unsichtbaren Radio schallte, begleiteten ihn in einen tiefen Schlaf.

    Zweiter Stich

    Die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.

    Dante Alighieri. Die Göttliche Komödie

    1.

    »Im September fliege ich drei Wochen nach Thailand, das dürfte ein ziemlicher Spaß werden.« Erschöpft ließ sich Bob neben mir auf sein Badetuch fallen. Genüsslich breitete er die Arme aus und blinzelte in die Sonne, die in seinen roten Haaren schimmerte. Über eine Stunde lang war er, ohne eine nennenswerte Pause einzulegen, ständig von einem Ufer zum anderen geschwommen. Zufrieden mit sich und dem Rest der Welt lag er nun auf dem Rücken und befühlte seinen durchtrainierten Oberkörper.

    Ich schwieg aus sehr gutem Grund. Am Vorabend hatte ich mich nach einem scheußlichen Besäufnis zu der Aussage hinreißen lassen, dass er sich einen Krampf im Arsch holen und absaufen würde. Selbstverständlich konnte er das nicht auf sich sitzen lassen. Also wetteten wir, und mein Einsatz waren seine Flugkosten nach Thailand. Leider verloren.

    Ich hoffte nur, dass er sich nicht mehr an dieses eine Detail erinnern würde. Zeugen gab es keine, was mich ein wenig beruhigte. Am Ende hatten wir uns aus den Augen verloren. Schließlich wachte ich in einem fremden Wohnwagen auf. Bob war irgendwann auf den Stufen einer Kirche zu sich gekommen. Nach der Sauferei hatte jeder von uns woanders bis zur Besinnungslosigkeit gekotzt. Ich spekulierte also auf den berühmten Filmriss an der richtigen Stelle.

    »Hört sich gut an, und wo genau geht’s denn hin?« heuchelte ich Interesse. Ich warf ihm eine Dose Budweiser zu.

    Stürmisch riss er den Verschluss auf und nahm einen kräftigen Schluck. »Erst mal nach Bangkok, und von dort aus auf diese vielen kleinen Inseln. Ist ein Paradies, sag ich dir.« Grinsend warf er die leere Dose ins Wasser und streckte mir die Zunge heraus.

    Ich musterte ihn misstrauisch. Kein Zweifel, die Begeisterung war echt, und was mir noch viel wichtiger erschien: Kein Wort von der Reisekostenerstattung. Selten hatte ich ihn einmal so emotional erlebt wie an jenem heißen Augusttag, als wir unsere Zeit wieder einmal am See totschlugen.

    Auf einem aufgeschütteten Hügel in der Nähe lungerten ein paar bekannte Gesichter vom Campus herum und zogen sich billiges Speed durch die Nase, das wir ihnen völlig überteuert angedreht hatten. Ihr Ghettoblaster beschallte die Umgebung mit dem üblichen Sound zum Sommersemester. Punk, Ska und Reggae. Jaya the Cat war angesagt: »Here come the Drums«. Viel Madness. »One Step beyond«.

    »Wenn man dich so reden hört, man könnte glauben, du wärst schon mal da gewesen«, stellte ich fest und schaute mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne. Der glutrote Ball stand direkt über uns.

    »Da liegst du gar nicht so falsch«, entgegnete er immer noch außer Atem. »In meiner Vorstellung war ich schon mindestens tausend Mal dort, vielleicht in meinem letzten Leben.«

    Seine Worte verblüfften mich ein wenig. »Ich dachte, du hast für diese Art von Spiritualität nichts übrig?« Ich gab ihm noch eine Dose. Zehn Sekunden später landete auch sie im See.

    Er wischte sich den Schaum aus den Mundwinkeln. »Da hast du falsch gedacht, Kleiner.«

    Ja, da hatte ich mich wohl geirrt. Es wäre ja auch nicht das erste Mal, dass mir so etwas wiederfuhr. Während sich Bob mit unmenschlichen Bewegungen an seinem Schwanz vergriff, dachte ich einen Moment lang über mein bisheriges Leben nach. Es war nur noch eine Woche bis zu meinem 26. Geburtstag. Zum Feiern war mir jedoch überhaupt nicht zumute. Dafür quälte mich in diesen Tagen das erschreckend realistische Gefühl, an einem toten Punkt angelangt zu sein. Entweder ich würde einen Weg aus dieser Mausefalle finden oder Endstation. Ich musste eine verdammt schnelle Entscheidung treffen.

    In meinen Gedanken spulte sich eine endlose Kette persönlicher Niederlagen ab. Einer der Gründe, warum ich mit Bob an diesem idyllischen Ort lag und mir furchtbar verkatert sein Gestöhne anhörte. Da kam mir der Job, den ich im Teeladen von Enrico, auch so ein oberflächlicher Wichser, versehen durfte, gerade richtig. Immerhin eine Beschäftigung, die verhinderte, dass ich völlig abstürzte. Bob hatte mir die Stelle vermittelt. Natürlich nicht aus Nächstenliebe. Es gab stets einen Hintergedanken.

    »Was gibt’s Neues bei Enrico?« Die Frage wiederholte er in letzter Zeit immer dann gebetsmühlenhaft, wenn wir allein und ohne einen Mitwisser unterwegs waren.

    »Morgen ist der große Tag«, sagte ich und gähnte.

    Bob lächelte. Diese Antwort war ganz nach seinem Geschmack. Platsch! Die nächste Dose landete unmittelbar vor mir im Wasser. »Hat das eigentlich einen besonderen Grund, dass du dir den Pferdeschwanz abrasiert hast?« wechselte er abrupt das Thema.

    Ich hob die Augenbrauen. Bob brachte es öfter fertig, mich auf dem falschen Fuß zu erwischen. Nicht nur er. Ja genau, meine Haare hatten deutlich an Länge eingebüßt.

    »Wie kommst du jetzt darauf?« entgegnete ich gereizt.

    Er lachte. »Schon gut, die Antwort kann sich ja doch jeder denken. Was ist mit der Kleinen, die dich vor ein paar Tagen auf der Party am Fluss abgeschleppt hat?« Er wusste haargenau, was er anstellen musste, um mir auf die Nerven zu gehen. Einer der wichtigsten Gründe, warum ich ihn für ein ignorantes Arschloch hielt. Über das Schicksal, dass er mein einziger sogenannter Freund war, tröstete ich mich mit dem zweifelhaften Gedanken hinweg, dass die Spezies Mensch jeden Tag weit schlimmere Exemplare in die Welt setzte.

    »Sie hat mich verlassen, weil ihr mein Schwanz zu klein war«, hörte ich meine Stimme wie einen sentimentalen Kommentar aus dem Off.

    »Scheiß drauf«, rief er vergnügt aus und katapultierte seinen Körper mit einem Satz in die Senkrechte. Mir waren solche Spielchen wegen meiner Knieverletzung nicht möglich. Mit einer Mischung aus Neid und Resignation schaute ich ihm bei seinen spontanen Trockenübungen am Ufer zu. »Auf jeden Fall siehst du mit dem Haarschnitt gar nicht übel aus. Zum Anbeißen«, meinte er zwischen den Liegestützen, die er mal ein- und dann wieder zweihändig ausführte. Sein Gesicht war von einem glänzenden Schweißfilm bedeckt.

    Ich hielt es für eine gute Idee, die fatale Stimmung mit Bier zu ertränken. Unsere Sporttasche war noch reichlich gefüllt mit dem Stoff. Ich trank die erste Dose in einem Zug aus und warf sie über den fanatischen Bodenturner hinweg in den See. Eine Gruppe junger Mädchen, die ein paar Meter entfernt von uns lagen, brach in lautes Gelächter aus. Im Schnitt mochten sie um die 15 oder 16 Jahre alt sein.

    »Deine ersten Groupies«, stellte ich grinsend fest.

    »Jede von denen ist geil darauf, meinen Schwanz zu lutschen«, presste er angestrengt heraus.

    Bob war stockschwul, sein narzisstischer Ehrgeiz jedoch um einiges größer. Jedes Mal, wenn wir zusammen auf Tour waren, machte er sich einen Spaß daraus, das Interesse der Frauenwelt auf sich zu ziehen, während ich wie ein nichtbeachteter Lappen dabei stand.

    Er unterbrach sein Training und machte lachend eindeutige Zeichen in Richtung der Kids, die umgehend mit einer Welle von herablassenden Bemerkungen reagierten. Die Aktion war ja wohl ein Reinfall, dachte ich amüsiert, während Bob die Anspielungen mit einem wütenden Blick quittierte. Breitbeinig, die Fäuste energisch in die Hüften gestemmt, starrte er mit seinen blutunterlaufenen Augen auf den See hinaus, über dem gerade ein Vogelschwarm kreiste.

    »Oh, sind wir etwa beleidigt?« bemerkte ich mit zufriedener Häme. Mir gefiel die Vorstellung. Der selbsterklärte Adonis vom Baggerloch machte bei den Teens keinen Stich. Ich nahm einen Schluck, lehnte mich zurück und lachte. Die ganze Situation erschien mir ja auch einfach zu lächerlich. »Komm her, trink noch ein Bier, du alternder Platzhirsch«, prostete ich ihm zu, als er sich schnaufend wieder auf sein Badetuch fallen ließ.

    Eigentlich hätte man es in dem Augenblick dabei belassen können, doch es war ein abartig heißer Tag und die Mädchen räkelten sich fast alle nackt am Ufer. Ein paar Jungs gesellten sich plötzlich dazu. Das war ihre Chance, um bei den frühreifen Küken Punkte zu sammeln. Einer von ihnen streckte seinen Mittelfinger aus und machte Anstalten, uns einen Besuch abzustatten. Er war ein großer Bursche mit auffälligen Tätowierungen an Ober- und Unterarmen, und er trug einen kahlrasierten, wuchtigen Schädel zwischen den breiten Schultern. Der Anblick genügte, um mich zu beeindrucken. Für Bob war das hingegen ein willkommener Anlass, um mir einen Vortrag zu halten, der mich das Schlimmste befürchten ließ.

    »Weißt du, Junge, insgeheim träumen diese kleinen Schlampen davon, einen von uns Knackärschen zwischen ihre Beine zu bekommen«, sprach er mit belegter Zunge. »Nehmen wir der Einfachheit wegen doch einmal dich als Beispiel. Du hast doch ganz hübsche braune Haare und Augen, bist ein recht schlanker Kerl, zugegeben ein wenig blass um die Nase, aber mit einer herzhaften Klappe beschenkt, um an ihren Nippeln zu saugen. Aber wem werfen sie sich stattdessen vor den Schwanz?« Als Antwort warf er einen verächtlichen Blick auf die Kids. »Dieser androgynen Litfasssäule auf zwei Beinen dort«, sagte er laut, so dass es jeder im Radius von hundert Metern mitbekommen musste. In seiner Stimme schwang eine unbändige Wut mit. Ausdruck einer tiefsitzenden Frustration.

    Ich schlüpfte in meine Cargohose. Seit drei Wochen schon trug ich die Graue, auf der sich mal wieder jede Menge Flecken, darunter die Kotz- und Blutspritzer von letzter Nacht angesammelt hatten. Morgen wollte ich sie endlich mit den anderen Klamotten, die in einer verwahrlosten Ecke meiner Wohnung vor sich hinstanken, in die Wäscherei bringen.

    »Lass uns gehen, bevor deine Litfasssäule auf den glorreichen Gedanken kommt, hier Stunk zu machen«, sagte ich. Doch es war zu spät.

    Bob schüttelte heftig den Kopf, der jetzt feuerrot angelaufen war. »Nein, diese Suppe wird der kleine Stricher auslöffeln, und zwar richtig.« Beim Klang seiner letzten Worte stellten sich mir die Nackenhaare. Ich kannte seine Vorliebe für schnelles Adrenalin. Wenn nicht gerade ein knackiger Arsch abzugreifen war, holte er sich seine tägliche Dosis beim Thai Boxen.

    Bob trainierte im Sommer gerne in archetypischer Landschaft, um seinen Level zu testen. Hauptsache das Sparring fand schön abgelegen statt. Mehrmals die Woche prügelte er mir und anderen ständig wechselnden Figuren aus seiner anarchofaschistischen Künstlerkommune mit bandagierten Fäusten die Scheiße aus dem Leib. Ich spuckte regelmäßig Blut. Alles kostenlos wohlgemerkt. Adrenalin war die Hauptsache.

    Oh Scheiße, die Litfasssäule. Ich fummelte gerade nervös an meinem Hosenstall herum, als das Unglück auch schon seinen Lauf nahm. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie der junge Bursche breitbeinig näher kam.

    »Schau dir diesen Arsch an«, rief Bob lauthals und machte eine Geste in seine Richtung: Wichser. »Den bescheuerten Entengang hat er doch bestimmt bei Mami vor dem Spiegel geübt. Bestimmt durfte er sie anschließend ficken.« Die Katastrophe war nicht mehr aufzuhalten.

    Wie ein tollwütiger Stier ging der Kerl auf Bob los, der es genau auf diese Reaktion angelegt hatte. Mit einem Tritt, den er sonst am Holzmann übte, stieß er unseren Besucher ins Wasser. Ich ahnte, dass das nur ein Vorspiel gewesen war. Brüllend stürzte er sich auf den Jungen, der tief benommen und keuchend vor Schmerzen auf das Ufer zukroch. Mit mehreren Schlägen und einem Thai-Kick in die Rippen beförderte Bob sein Opfer zurück in den See. Ich meinte es in dem Moment knacken gehört zu haben. Das Wasser fing an, sich rot zu färben. Als der Glatzkopf wieder an die Oberfläche kam, packte er den Wehrlosen am Hals und warf ihn wie einen Mehlsack hinaus in den Sand. Aus der Richtung der anderen Jugendlichen drangen erschütterte Schreie zu uns herüber.

    Auch mir war der Schock in die Glieder gefahren. »Hör auf«, schrie ich und drängte mich zwischen Bob und den tätowierten Typ, der röchelnd und Blut spuckend auf dem Bauch lag. Ich hätte es besser wissen müssen.

    Der blitzartige Faustschlag holte mich von den Beinen. Zum Glück lagen an der Stelle, wo ich mit dem Rücken aufknallte, keine Steine. Dafür hatte mir der völlig untypische Anflug von Zivilcourage eine blutige Nase eingebracht.

    Als die Schmerzen nachließen und ich meine Hände wieder aus dem Gesicht nahm, sah ich verschwommen, wie Bob, der vor viehischer Erregung heftig atmete, auf dem um Erbarmen schreienden Jungen lag und ihn mit brutalen Stößen in den Arsch fickte. Ich fasste den spontanen Entschluss, in Ohnmacht zu fallen.

    2.

    Zu Beginn der Grillparty, die am Abend auf einer Dachterrasse in den Weinbergen über der City stattfand, war meinem Freund Bob rein augenscheinlich nichts anzumerken. Ich war noch rechtzeitig wieder fit geworden, nachdem ich den Rest des Tages mit Tee und Aspirin auf der Couch zugebracht hatte. Meine Nase tat höllisch weh, schien zum Glück aber nicht gebrochen zu sein. Die widerlichen Impressionen vom See hatte ich halbwegs verdrängt.

    Ich trug immer noch die gleiche Hose und ein schwarzes T-Shirt. Die olivgrüne Armeejacke hatte ich vergangene Woche einem besoffenen Penner abgezogen, neben dem ich aus meinem eigenen Saufkoma erwacht war. Ich brauchte wirklich keinen Spiegel, um zu wissen, dass ich wieder mal unglaublich beschissen aussah.

    Bob wirkte dagegen wie das blühende Leben. Es war seine Party, und er genoss sichtlich die Anerkennung seiner Gäste. Er trug ein weißes T-Shirt mit einem schwarzen Phoenix auf der breiten Brust. Als er mich in einem der Pulks entdeckte, warf er vor Freude die Arme in die Luft und hastete anschließend mit einer Flasche Champagner und zwei Gläsern auf mich zu. Die Begrüßung fiel stürmisch aus. »Hey, du kleiner Scheißer, das Pflaster auf deiner Nase macht dich nur noch unwiderstehlicher für die Frauenwelt«, sagte er scheißfreundlich und gab mir einen Klaps auf die Stelle. Augenzwinkernd füllte er mein Glas mit der schäumenden Flüssigkeit.

    Ekel überkam mich. Beim Versuch zu lächeln verkrampften sich meine Gesichtszüge, weil sich jedes Mal die ramponierte Nase bemerkbar machte. Wir tranken das erste Glas natürlich auf Ex. Die Szene wiederholte sich noch einige Male, bis Bob einen seiner Kulis anbrüllte, uns gefälligst eine neue Flasche zu besorgen. Hier auf diesem einen Dach über den hektischen Großstadtlichtern hatte er für eine Nacht lang das absolute Sagen und noch dazu die fetten Spendierhosen an.

    Dabei hatte er kein einziges Getränk selbst bezahlt, sondern die Bar und den Getränkekeller des Hauseigentümers geplündert. Der war seit einer Woche verreist. Eine prima Gelegenheit. Das Knacken von mittelfristig leerstehenden Appartements und Ferienhäusern war gerade schwer in Mode, das kam gleich nach den illegalen Trancepartys auf privaten Golfplätzen. Einige von den Sprayern, die mit uns auf dem Campus herumhingen, hatten mit der Zeit einen spaßigen Wettbewerb daraus entwickelt, bei dem jede Crew scharf darauf war, nach solchen »Besuchen« unverkennbar ihre Visitenkarte zu hinterlassen. In der Regel handelte es sich dabei um aufwändig gestaltete Graffitis, die komplette Häuserfronten verzierten. Die neuen Stars der Szene sammelten so Woche für Woche ihre Punkte in den Rankinglisten, und Bob gehörte zu den Besten.

    An der Universität studierte er nebenbei Kunstgeschichte. Von ihm hingen einige nette Stilleben und Landschaftsmotive im Foyer der Fakultät. In seinen Augen war das allerdings nicht viel mehr als billiger Dreck, den er unter der Anleitung eines ignoranten Dozenten anfertigen musste. Bob sah das Leben als einen Bestandteil seiner Kunst und nicht umgekehrt. Ich hielt ihn für einen frustrierten, kleinen Bastard, der wie wir anderen auch in einer akademischen Belanglosigkeit feststeckte, jedoch über genügend Zeit und Kohle verfügte, um seine kranken Ideen in die Tat umzusetzen.

    An diesem Abend waren so viele Zombies wie noch nie der im Internet lancierten Einladung gefolgt. Typen in Markenklamotten und pseudointellektuelles Gesinnungsproletariat hielten sich die Waage. Viele Studenten. Bob und ich standen mit der zweiten Flasche vor einem Sofa, das der Mob aus dem Haus auf die Terrasse geschleift hatte. Auf dem Bezug waren deutlich cremige Flecken zu erkennen. Das Sperma war noch frisch.

    Bob sah, wie ich mich vor dem Anblick ekelte, und grölte vor Vergnügen. Er wischte die feuchten Schleimspuren daraufhin mit einer seiner Pranken weg und warf sich unbekümmert auf das Sofa. »Sei nicht so penibel und schmeiß dich auch hin«, rief er amüsiert. Ich sprang mit meinen Sneakers auf das Polster und nahm auf der Rücklehne Platz, was ihn nur noch mehr erheiterte. »Wegen vorhin«, redete er mit gönnerhaftem Ton weiter auf mich ein, »die Backpfeife tut mir ehrlich leid.« Aber Spaß müsse nun mal sein. Ich müsse das verstehen.

    »Schon vergessen«, erwiderte ich mit gesenktem Blick. Meine Nase schmerzte immer noch.

    »Ist hoffentlich nicht gebrochen?« fragte er neugierig.

    Ich wusste, dass er eigentlich das Gegenteil aus meinem Mund hören wollte. Schließlich betrachtete er sich in jeder Hinsicht als einen ambitionierten Künstler und stellte entsprechend hohe Erwartungen an seine Fähigkeiten. »Ist alles okay bei mir, war gar nicht so schlimm«, antwortete ich kühl.

    In seinen Augen flackerte echte Enttäuschung auf. Wenn er vorhin nicht den Kerl am See entjungfert hätte, wäre seine Laune jetzt barbarisch in den Keller gegangen. »Das freut mich«, schleimte er. Seine Stimme klang angestrengt.

    Ich hob mein Glas und lächelte. Das Gespräch lief in die falsche Richtung. »Hey, erzähl mir lieber, was dann noch passiert ist«, wollte ich wissen.

    »Du meinst, nachdem du mal eben ins Reich der Träume abgetaucht bist?« stichelte er. Ich nickte. »Ach, nichts weiter«, sagte er und machte eine dreiste Geste. »Hab mir von dem Held noch ordentlich einen blasen lassen und ihn dann mit einem kräftigen Arschtritt zu seinen Hühnern zurückgeschickt. Die haben vielleicht gegackert, kann ich dir sagen.« Lachend lutschte er seine Finger ab, mit denen er die ganze Zeit in seinem Sektglas herumrührte. Wie schön. Mehr wollte ich auch gar nicht wissen.

    »In Ordnung, reden wir über das Ding morgen Abend«, schlug ich einen Themenwechsel vor.

    Bob winkte lächelnd ab. »Reden wir lieber über das Ding von heute Abend.«

    »Was meinst du?«

    »Kannst du dich noch an den Golfplatz erinnern, an dem wir heute früh vorbeigefahren sind?« Natürlich konnte ich das. Der dekadente Erlebnispark für neureiche Snobs und Steuerflüchtlinge am Stadtrand. Auf dem Weg zum See hatten wir kurz dort angehalten, um eine Pinkelpause einzulegen.

    »Was ist damit?« gab ich mich ahnungslos, obwohl ich schon eine klare Vermutung hatte.

    »Ganz einfach«, rief er begeistert aus. Mit einem Satz war er auf den Beinen und hastete zu einer Stelle, an der die Rundterrasse zu einer eckigen Ausbuchtung wurde. Breitbeinig sprang er auf die Brüstung, legte den Kopf in den Nacken und heulte wie ein Idiot den Sternenhimmel an.

    Ein paar von den Partygästen, die in seiner Nähe auf dem Boden saßen, klatschten und brüllten laut Beifall. Aus dem Eingang zum Penthouse wankte plötzlich eine Gestalt, die mit einem grauen Jackett und einer dunklen Cordhose bekleidet war. Das verschwitzte Gesicht mit der Nickelbrille kam mir bekannt vor. Woher kannte ich den Typ? Er war schon etwas älter, trug einen ergrauten Oberlippenbart und hatte einen Teil seiner Haare nach vorne über die Halbglatze gekämmt. Woher kam dieser Kerl? Irgendwie passte diese Erscheinung so gar nicht in das Ambiente.

    Während ich noch darüber nachdachte, warf er Bob eine halbvolle Flasche zu. In dem Augenblick fiel es mir wieder ein. Ich hatte ihn schon einmal getroffen, als ich mit Bob auf dem Campus unterwegs gewesen war. Er war einer von seinen Dozenten. An den Namen konnte ich mich nicht erinnern, aber er hatte mir einen Hunderter angeboten, wenn ich ihm auf dem Klo einen blasen würde. Ein guter Preis.

    Mein Plan bestand jedoch darin, den Professor für angewandte Perversion mit dem Gesicht in die Klobrille zu stecken und ihn wie eine Weihnachtsgans auszunehmen. Bob riet mir allerdings davon ab, weil der Arsch nie mehr als ein paar Kröten für den Mensafraß bei sich hatte. Um an die Kohle zu kommen, hätte ich ihn anschließend in seine Wohnung begleiten müssen, und da hatte es jede Menge Überwachungskameras, wie er mir damals erklärte. So ein Dreck.

    Während ich über die verpasste Chance nachdachte, fing Bob die Flasche mit der Linken und grölte einen undefinierbaren Trinkspruch in meine Richtung. Sicher würde er das Zeug, was immer es sein mochte, gleich ansetzen und sich einen Spaß daraus machen, den Fusel über dem Abgrund in einem Zug auszutrinken. Wie pathetisch. Hoffentlich brach er sich dabei das Genick. Für einige Sekunden war der bescheidene Rest von meinem gesunden Menschenverstand vom Alkohol benebelt.

    Einen Wimpernschlag später verwarf ich den Gedanken aber rasch wieder. Schon allein aus geschäftlichen Gründen musste ich einen Salto Mortale unbedingt verhindern. Noch war ich auf die Unterstützung von diesem Geisteskranken angewiesen. Oh, verflucht noch mal, er durfte jetzt nicht springen. Wie von der Tarantel gestochen, bahnte ich mir einen Weg zwischen dieser nach Blut und Scheiße geifernden Gesellschaft von Gesinnungsasozialen hindurch, bis ich direkt vor ihm stand.

    »Ah, da bist du ja endlich, mein Freund«, stellte er verzückt fest. »Komm rauf, Junge, ich helfe dir.« Er streckte mir seine nasse Hand entgegen. Der Dozent rülpste mir etwas völlig Unverständliches ins Ohr. Ich ignorierte meinen Ekel und kam ziemlich holprig neben seinem Musterschüler zum Stehen. Ein kurzer Blick über den Rand der nur etwas mehr als simsbreiten Brüstung bediente umgehend meine manische Höhenangst. Bob hielt mich am Kragen gepackt fest.

    Wenigstens musste ich mir bei meinen Stinkklamotten keinerlei Sorgen um etwaige Flecken machen. Ich hätte mich ja auch mit geleasten Lumpen in Schale werfen können, aber wofür? Etwa nur in der naiven Hoffnung, dass sich unter diesem Pöbel ein weibliches Wesen befand, das sich von meinem Popperoutfit hätte blenden lassen können?

    Das erinnerte mich schlagartig an die Party, die von unserer Fachschaft vor einer Woche organisiert worden war. Eine geschlagene Stunde hatte ich in einer verratzten Kiffer-WG vor dem Spiegel zugebracht, um mir schließlich ein viel zu großes schwarzes T-Shirt, eine popelgrüne Cargo-Hose und knallrote Schuhe als Ausgehgarderobe anzuziehen. Nix war’s. Nicht einmal ein Bengel hatte es in der Folge für nötig befunden, mich auch nur eines Blickes zu würdigen.

    Und wie sah es heute aus? Ich fühlte mich erbärmlich. Und die letzten Stunden waren auch nichts anderes als ein repräsentativer Abriss von dem Chaos, das mein Leben bestimmte. Ein Sündenbock musste her: Bob war an allem schuld. Er und das ganze missratene Humanpotenzial an dieser Scheißuniversität.

    Das Naseputzen mit billigem Koks verdankte ich ihm, und er war es auch, der mich regelmäßig abfüllte und zum Kotzen brachte, und er war es, der sich wie ein Nazi sofort an mich gehängt und unter seine Fittiche genommen hatte, nachdem ich gerade einmal den Fuß über die Schwelle der Fakultät für Philosophie und Kunstgeschichte gesetzt hatte. Und das Schlimmste war, dass ich von diesem Auswurf auch noch abhängig war. Wo, zum Teufel, war hier die Notbremse?

    3.

    Bob stank nach Alkohol. »Hört mir zu, ihr Freaks!« schrie er so dicht an meinem Ohr, dass ich das Gefühl hatte, mein Gehirn würde gegen die Schädeldecke springen. »Zur Feier dieses gelungenen Tages führen wir heute noch einen Schlag gegen das Gesindel!« Keine Ahnung, wen oder was er damit meinte, aber es klang ganz einfach nach Bob.

    Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, beförderte er einen der bunten Lampions, die an den Wäscheleinen über der Terrassenplattform baumelten, mit einem Schwinger in die nächste Umlaufbahn. Der Pöbel jubelte. So ähnlich musste es sich im alten Rom zugetragen haben, als die Christen den Löwen vorgeworfen wurden.

    »Was hast du vor?« rief ein bis zum Umfallen besoffener Typ mit viel zu weiten Tarnhosen und braunem Schlabberpulli. Er und sein Kumpel, ein rothaariger Irokese, torkelten Arm in Arm zwischen den Reihen der Bande umher, die sich vor uns zusammengerottet hatte. Die meisten waren noch ziemlich jung. Es kam mir ohnehin so vor, als ob Bob, ich und noch so ein verpickelter Typ, den alle nur mit Harry anquatschten, auch aus dem einen Grund hier waren, um den Altersschnitt zu heben. Mann, kam ich mir alt vor. Zum Kotzen!

    Selbstmitleid fühlt sich im Anfangstadium etwa so an wie ein Stück Hundescheiße, das hartnäckig an deinem Schuh kleben bleibt. In solchen Fällen kommt es darauf an, den Ballast schnellstmöglich wieder loszuwerden. Das wird spätestens dann schwierig, wenn sich dein Tagesablauf seit geraumer Zeit nur darum dreht, auf dem Campus zwischen lauter Gestörten und Dummschwätzern abzuhängen, dich mit Nietzsche und Heidegger zuzukacken und den Rest von deinem Gehirn mit entsetzlich öden Partys und billigem Koks zu foltern.

    Mit einem wuchtigen Schlag auf die Schulter riss mich Bob wieder aus meinen Gedanken. »Ich und mein Kleiner hier, wir machen jetzt eine Spritztour zu diesem Ding, diesem Scheißding da«, lallte er. Mühsam trachtete er danach, das fehlende Wort aus seinem hoffnungslos vollgedröhnten Hirn herauszufiltern.

    Das dämliche Geschwätz zog sich in

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1