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Vergessene Stimmen: Der elfte Fall für Harry Bosch
Vergessene Stimmen: Der elfte Fall für Harry Bosch
Vergessene Stimmen: Der elfte Fall für Harry Bosch
eBook559 Seiten6 StundenEin Fall für Harry Bosch

Vergessene Stimmen: Der elfte Fall für Harry Bosch

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Über dieses E-Book

Jahrzehntelang blieb der Mord an Rebecca Lost ungeklärt. Bis Harry Bosch nach einer dreijährigen Auszeit zum LAPD zurückkehrt. In die Abteilung für Cold Cases versetzt, wird Bosch und seiner Partnerin Kiz Rider als Erstes der Fall aus dem Jahr 1988 vorgelegt. Seither hat die Kriminalistik entscheidende Fortschritte gemacht: Die Spuren auf der Tatwaffe werden erneut untersucht, und ein DNA-Abgleich führt die beiden Ermittler zu Roland Mackey, einem vorbestraften Kleinkriminellen. Hat er die erst sechzehnjährige Becky keine 500 Meter von ihrem Elternhaus entfernt erschossen? Liegt der Tat ein rassistisches Motiv zugrunde? Harry Bosch zweifelt an Mackeys Schuld. Je weiter seine Ermittlungen voranschreiten, desto größer wird der Widerstand in den eigenen Reihen. Und bald schon kommen menschliche Abgründe ans Licht, die Bosch bis ins Mark erschüttern.
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum13. Juni 2024
ISBN9783311704966
Vergessene Stimmen: Der elfte Fall für Harry Bosch
Autor

Michael Connelly

Michael Connelly is the author of thirty-nine previous novels, among them New York Times bestsellers The Waiting, Resurrection Walk, and Desert Star. His books, which include the Harry Bosch series, the Lincoln Lawyer series, and the Renée Ballard series, have sold more than eighty-nine million copies worldwide. Connelly is a former newspaper reporter who has won numerous awards for his journalism and his novels. He is the executive producer of four television series: Bosch, Bosch: Legacy, The Lincoln Lawyer, and the upcoming Ballard. He spends his time in California and Florida. www.michaelconnelly.com f/MichaelConnellyBooks

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    Buchvorschau

    Vergessene Stimmen - Michael Connelly

    Für die Detectives,

    die in den Abgrund blicken müssen

    Erster Teil

    Die blaue Religion

    1

    In Praxis und Dienstordnung des Los Angeles Police Department ist ein Zwei-Sechser der Anruf, der die prompteste Reaktion nach sich zieht und zugleich die meiste Angst unter der kugelsicheren Weste weckt. Es ist ein Anruf, von dem häufig eine Karriere abhängt. Die Bezeichnung ist eine Kombination aus einem Code-2-Funkspruch, was »schnellstmöglich reagieren« bedeutet, und dem sechsten Stock des Parker Center, von dem aus der Polizeichef das Police Department leitet. Ein Zwei-Sechser ist also ein dringender Anruf aus dem Büro des Polizeichefs, und jeder Polizist, dem sein Platz bei der Polizei lieb ist, wird ihm umgehend nachkommen.

    Detective Harry Bosch war während seiner ersten Dienstzeit über fünfundzwanzig Jahre beim LAPD gewesen, ohne einen solchen Anruf des Polizeichefs erhalten zu haben. Abgesehen von der Abschlussfeier an der Polizeiakademie, bei der er 1972 seine Dienstmarke überreicht bekam, hatte er auch keinem Polizeichef mehr die Hand geschüttelt oder mit einem gesprochen. Er hatte mehrere von ihnen überdauert – und sie natürlich bei Polizeiveranstaltungen und -begräbnissen gesehen –, aber er hatte in dieser ganzen Zeit mit keinem mehr persönlich zu tun gehabt. Er erhielt seinen ersten Zwei-Sechser an dem Morgen, an dem er nach dreijähriger Pensionierung in den Polizeidienst zurückkehren sollte und sich gerade vor dem Badezimmerspiegel die Krawatte band. Es war ein Adjutant des Polizeichefs, der Bosch auf seinem privaten Mobiltelefon anrief. Bosch fragte erst gar nicht, woher er die Nummer hatte. Es verstand sich von selbst, dass das Büro des Polizeichefs die entsprechende Macht hatte, derlei Erkundigungen einzuziehen. Bosch sagte, er werde spätestens in einer Stunde da sein, worauf der Adjutant erwiderte, er werde früher erwartet. Bosch band sich die Krawatte im Auto zu Ende, als er auf dem Freeway 101, so schnell es der Verkehr zuließ, in die Stadt fuhr.

    Von dem Moment an, in dem er das Gespräch mit dem Adjutanten beendet hatte, brauchte Bosch genau vierundzwanzig Minuten, bis er durch die Flügeltür der Chefsuite im sechsten Stock des Parker Center marschierte. Das war Rekordzeit, selbst wenn er in der Los Angeles Street vor dem Polizeipräsidium verkehrswidrig geparkt hatte. Wenn sie seine private Handynummer wussten, wussten sie sicher auch, was für eine Glanzleistung es war, es unter einer halben Stunde aus den Hollywood Hills ins Büro des Polizeichefs zu schaffen.

    Doch der Adjutant, ein Lieutenant namens Hohman, starrte ihn mit desinteressiertem Blick an und deutete auf eine Couch mit Plastikbezug, auf der bereits zwei andere Männer warteten.

    »Sie sind spät dran«, sagte er. »Nehmen Sie Platz.«

    Um die Sache möglicherweise nicht noch schlimmer zu machen, beschloss Bosch, nicht zu protestieren. Er ging zu der Couch und setzte sich zwischen die zwei Männer in Uniform, die die Armlehnen in Beschlag genommen hatten. Sie saßen kerzengerade da und unterhielten sich nicht. Er nahm an, dass sie ebenfalls einen Zwei-Sechser erhalten hatten.

    Zehn Minuten vergingen. Die Männer neben Bosch wurden vor ihm aufgerufen und beide jeweils in exakt fünf Minuten vom Polizeichef abgefertigt. Als der zweite Mann im Büro des Chief war, bildete Bosch sich ein, laute Stimmen aus dem Allerheiligsten zu hören, und als der Mann herauskam, war er kreidebleich. Offensichtlich hatte er in den Augen des Chief in irgendeiner Form Scheiße gebaut, und soviel während seiner Pensionierung zu Bosch durchgedrungen war, nahm es der neue Polizeichef nicht auf die leichte Schulter, wenn jemand Scheiße baute. Bosch hatte in der Times eine Meldung gelesen, dass ein hochrangiger Polizeiangehöriger degradiert worden war, weil er den Chief nicht darüber in Kenntnis gesetzt hatte, dass der Sohn eines Stadtrats, der gern gegen die Polizei Stellung bezog, nach einer Sauftour am Steuer erwischt worden war. Der Polizeichef erfuhr erst davon, als besagter Stadtrat bei ihm anrief, um sich über polizeiliche Schikanen zu beschweren, als ob das LAPD seinen Sohn gezwungen hätte, in der Bar Marmount sechs Wodka Martini zu trinken und auf der Heimfahrt am Mulholland Drive einen Baumstamm zu rammen.

    Endlich legte Hohman den Telefonhörer auf und deutete mit dem Finger auf Bosch. Bosch war bereits aufgestanden. Er wurde rasch in ein Eckbüro geführt, von dem man auf die Union Station und die dazugehörigen Gleisanlagen hinabblickte. Die Aussicht war ganz passabel, aber nicht spektakulär, was aber keine Rolle spielte, weil das Gebäude bald abgerissen würde. Die Polizei würde in provisorische Räumlichkeiten umziehen, während an derselben Stelle ein neues, modernes Polizeipräsidium errichtet wurde. Das gegenwärtige Präsidium hieß bei den einfachen Polizisten »das Glashaus«, weil es dort angeblich keine Geheimnisse gab. Bosch fragte sich, unter welchem Namen das neue Gebäude wohl bekannt würde.

    Der Polizeichef saß an einem großen Schreibtisch und unterzeichnete Papiere. Ohne von seiner Tätigkeit aufzublicken, forderte er Bosch auf, vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen.

    Nach dreißig Sekunden hatte der Chief das letzte Dokument unterschrieben und schaute auf. Er lächelte.

    »Ich wollte Sie kennenlernen und wieder im Department begrüßen.«

    Er sprach wie jemand aus dem Osten des Landes. Di-pahtment. Das störte Bosch nicht weiter. In L.A. war jeder von woanders. Zumindest schien es so. Das war sowohl die Stärke als auch die Schwäche dieser Stadt.

    »Es ist schön, wieder dabei zu sein«, sagte Bosch.

    »Sie wissen, dass Sie auf mein Betreiben hin wieder hier sind.«

    Das war keine Frage.

    »Ja, Sir, das weiß ich.«

    »Wie Sie sich sicher denken können, habe ich umfangreiche Erkundigungen über Sie eingezogen, bevor ich Ihre Rückkehr in den Polizeidienst genehmigt habe. Ich hatte zwar wegen Ihres – nennen wir es mal Stils – gewisse Bedenken, aber letzten Endes überwog doch Ihr Talent. Auch Ihrer Partnerin Kizmin Rider dürfen Sie für ihre Fürsprache danken. Sie ist eine gute Polizistin, und ich habe Vertrauen zu ihr. Sie hat Vertrauen zu Ihnen.«

    »Ich habe mich bereits bei ihr bedankt, aber ich werde es noch einmal tun.«

    »Ich weiß, es ist nicht einmal drei Jahre her, dass Sie den Dienst quittiert haben, aber lassen Sie mich Ihnen versichern, Detective Bosch, die Polizei, in die Sie heute wieder eintreten, ist nicht mehr die Polizei, aus der Sie ausgeschieden sind.«

    »Dessen bin ich mir bewusst.«

    »Hoffentlich. Wissen Sie über den Konsenserlass Bescheid?« Unmittelbar nachdem Bosch aus dem Department ausgeschieden war, war der damalige Chief gezwungen worden, einer Reihe von Reformen zuzustimmen, um nach einem FBI-Ermittlungsverfahren wegen massiver Korruption, Brutalität und Menschenrechtsverletzungen eine Übernahme durch die Bundespolizei abzuwenden. Der gegenwärtige Polizeichef musste sich an diesen Erlass halten, wenn er nicht riskieren wollte, künftig seine Weisungen vom FBI zu erhalten. Und das wollte niemand, angefangen beim Chief bis hinab zum einfachen Streifenpolizisten.

    »Ja«, sagte Bosch. »Ich habe davon gelesen.«

    »Gut. Es freut mich, dass Sie sich auf dem Laufenden halten. Und noch mehr freut es mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir entgegen allem, was Sie vielleicht in der Times gelesen haben, große Fortschritte machen und diesen Schwung nicht verlieren wollen. Wir wollen die Polizei auch in technischer Hinsicht auf den neuesten Stand bringen. Wir sind sehr um eine größere Volksnähe der Polizei bemüht. Wir haben eine Vielzahl positiver Entwicklungen eingeleitet, Detective Bosch, aber davon kann in den Augen der Öffentlichkeit vieles wieder zunichtegemacht werden, wenn wir auf althergebrachte Methoden zurückgreifen. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«

    »Ich denke schon.«

    »Sie werden nicht sofort fest in den Polizeidienst übernommen, sondern erst einmal nur ein Jahr auf Probe. Betrachten Sie sich also wieder als Berufsanfänger. Ein Neuling – der älteste Neuling übrigens. Ich habe Ihre Wiederaufnahme in den Polizeidienst angeordnet, genauso kann ich Sie im Lauf dieses Jahres jederzeit ohne Angabe eines Grundes wieder vor die Tür setzen. Geben Sie mir also keinen Grund.«

    Bosch antwortete nicht. Er glaubte auch nicht, dass das von ihm erwartet wurde.

    »Am Freitag findet in der Polizeiakademie die Abschlussfeier des letzten Kadettenjahrgangs statt. Ich hätte gern, dass Sie daran teilnehmen.«

    »Sir?«

    »Ich möchte, dass Sie daran teilnehmen. Ich möchte, dass Sie das Engagement in den Gesichtern dieser jungen Menschen sehen. Ich möchte Ihnen noch einmal die Traditionen dieser Behörde vor Augen halten. Ich glaube, das könnte Ihnen zu neuer Motivation verhelfen.«

    »Wenn Sie das möchten, werde ich an der Feier teilnehmen.«

    »Gut. Dann sehen wir uns also in der Polizeiakademie. Sie sitzen als mein Gast im VIP-Zelt.«

    Der Chief machte sich auf einem Block einen Vermerk zu der Einladung. Dann legte er den Stift beiseite und richtete einen Finger auf Bosch. Sein Blick bekam etwas Eindringliches.

    »Hören Sie zu, Bosch. Brechen Sie nie das Gesetz, um das Gesetz durchzusetzen. Sie verrichten Ihren Dienst immer und zu jeder Zeit mit Mitgefühl und im Einklang mit der Verfassung. Alles andere dulde ich nicht. Alles andere duldet diese Stadt nicht. Sind wir uns da einig?«

    »Da sind wir uns einig.«

    »Dann wäre das also geklärt.«

    Bosch verstand das als Aufforderung zu gehen und stand auf. Zu seiner Überraschung erhob sich auch der Chief und streckte die Hand aus. Bosch dachte, er wolle ihm die Hand schütteln, und streckte auch seine aus. Doch der Chief drückte ihm etwas in die Hand, und als Bosch darauf hinabblickte, sah er die goldene Dienstmarke eines Detective. Er hatte seine alte Nummer wiederbekommen. Sie war nicht vergeben worden. Fast musste er lächeln.

    »Tragen Sie sie in Ehren«, sagte der Chief. »Und voll Stolz.«

    »Das werde ich.«

    Jetzt schüttelten sie sich die Hand, doch der Polizeichef lächelte nicht, als sie es taten.

    »Der Chor vergessener Stimmen«, sagte er.

    »Wie bitte, Chief?«

    »Daran muss ich jedes Mal denken, wenn ich an die Fälle dort unten in Offen-Ungelöst denke. Es ist ein Horrorkabinett. Unsere größte Schmach. Diese vielen Fälle. Diese vielen Stimmen. Jede von ihnen ist wie ein Stein, der in einen See geworfen wurde, und die Wellen, die er schlägt, pflanzen sich durch Zeit und Menschen hindurch fort. Familienangehörige, Freunde, Nachbarn. Wie können wir uns eine Stadt nennen, wenn es so viele Wellen gibt, wenn so viele Stimmen von dieser Behörde vergessen worden sind?«

    Bosch ließ die Hand des Chief los und sagte nichts. Auf seine Frage gab es keine Antwort.

    »Als ich zum LAPD kam, habe ich den Namen der Einheit geändert. Das sind keine kalten Fälle, Detective. Sie werden nie kalt. Zumindest für manche Leute nicht.«

    »Das ist mir klar.«

    »Dann gehen Sie jetzt da runter und lösen Fälle. Davon verstehen Sie etwas. Deshalb brauchen wir Sie, und deshalb sind Sie hier. Deshalb lasse ich es auf einen Versuch mit Ihnen ankommen. Zeigen Sie ihnen, dass wir nicht vergessen. Zeigen Sie ihnen, dass in Los Angeles keine Fälle kalt werden.«

    »Das werde ich.«

    Damit ging Bosch, während der Polizeichef weiter stehen blieb, fast so, als wollten ihn die Stimmen noch nicht ganz loslassen. Genauso wenig wie ihn. Bosch dachte, vielleicht zum ersten Mal auf einer bestimmten Ebene einen Draht zu dem Mann an der Spitze gefunden zu haben. Beim Militär heißt es, dass man für die Männer, die einen befehligen, in die Schlacht zieht und kämpft und zu sterben bereit ist. Dieses Gefühl hatte Bosch nie gehabt, wenn er in Vietnam durch das Dunkel der unterirdischen Gänge gekrochen war. Er hatte das Gefühl gehabt, ganz auf sich gestellt zu sein und nur für sich und sein Überleben zu kämpfen. Das hatte er in den Polizeidienst mit herübergenommen, und manchmal war er sogar zu der Ansicht gelangt, dass er trotz der Männer an der Spitze kämpfte. Jetzt würde das vielleicht anders werden.

    Draußen auf dem Flur drückte er fester auf den Knopf des Aufzugs, als nötig war. Er war aufgeputscht, und er kannte auch den Grund dafür. Der Chor vergessener Stimmen. Der Chief schien das Lied zu kennen, das sie sangen. Und er kannte es mit Sicherheit auch. Er hatte den größten Teil seines Lebens damit zugebracht, diesem Lied zu lauschen.

    2

    Bosch fuhr mit dem Aufzug nur eine Etage tiefer in den fünften Stock. Auch das war Neuland für ihn. Der Fünfte war immer eine Zivilistenetage gewesen. In erster Linie befanden sich dort Büros des mittleren und unteren polizeilichen Verwaltungsdiensts, und in den meisten saßen nicht vereidigte Angestellte, Etatleute, Analysten und Schreibtischhengste. Zivilisten eben. Bis zu diesem Moment hatte für ihn kein Anlass bestanden, in den fünften Stock zu kommen.

    Im Bereich vor dem Aufzug gab es keine Hinweisschilder, wie man zu den einzelnen Büros kam. Es war die Sorte Stockwerk, in dem man, schon bevor man aus dem Lift stieg, wissen sollte, wohin man ging. Nicht so Bosch. Die Flure dieser Etage bildeten ein H, und er ging zweimal in die falsche Richtung, bevor er endlich die Tür mit der Nummer 503 fand. Sonst stand nichts auf der Tür. Er zögerte, bevor er sie öffnete, und dachte kurz nach, was er da tat und worauf er sich einließ. Er wusste, es war das Richtige. Fast war es, als könnte er die Stimmen durch die Tür hören. Alle achttausend.

    Kiz Rider saß auf einem Schreibtisch direkt hinter dem Eingang und nahm gerade einen Schluck aus einer Tasse mit dampfendem Kaffee. Der Schreibtisch sah aus wie der Platz einer Empfangsdame, aber Bosch hatte hier in den vergangenen Wochen relativ häufig angerufen und wusste deshalb, dass es in dieser Abteilung keine Empfangsdame gab. Für derlei Luxus war kein Geld da. Rider hob ihr Handgelenk und sah kopfschüttelnd auf die Uhr.

    »Hatten wir uns nicht auf acht Uhr geeinigt?«, sagte sie. »Ist es das, worauf ich mich gefasst machen muss, Partner? Du kommst jeden Morgen reingeschneit, wann dir gerade danach ist?«

    Bosch sah auf seine Uhr. Es war fünf nach acht. Er blickte wieder zu Rider und grinste. Sie sagte lächelnd: »Wir sind hier drüben.«

    Rider war eine kleine Frau, die ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen hatte. Ihr Haar war kurz und mittlerweile mit etwas Grau durchsetzt. Sie hatte sehr dunkle Haut, was ihr Lächeln umso strahlender machte. Sie rutschte von dem Schreibtisch, holte hinter sich eine zweite Tasse Kaffee hervor und reichte sie Bosch.

    »Mal sehen, ob ich das richtig behalten habe.«

    Er sah in die Tasse und nickte.

    »Schwarz, genau wie ich meine Partner mag.«

    »Sehr witzig. Dafür müsste ich dich melden.«

    Sie ging voran. Das Büro schien leer zu sein. Es war groß, selbst für neun Ermittler – vier Zweierteams und ein Abteilungsleiter. Die Wände waren in einem hellen Blauton gestrichen, wie ihn Bosch oft auf Computermonitoren sah. Der Teppichboden war grau. Fenster gab es keine. Dort, wo Fenster hätten sein sollen, hingen Anschlagtafeln oder schön gerahmte, viele Jahre alte Tatortfotos. Bosch konnte erkennen, dass die Fotografen auf diesen Schwarz-Weiß-Aufnahmen ihr gestalterisches Können vor ihre klinischen Pflichten gestellt hatten. Die Fotos waren düster und unheilschwanger. Von den Tatortdetails waren nicht viele zu erkennen.

    Rider musste gewusst haben, dass er sich die Fotos ansehen würde.

    »Man hat mir erzählt, der Autor James Ellroy hätte sie ausgesucht und für das Büro rahmen lassen«, sagte sie.

    Sie führte ihn um eine Trennwand, die den Raum unterteilte, in eine Nische, in der zwei graue Metallschreibtische so aneinandergeschoben waren, dass sich die Detectives, die an ihnen arbeiteten, gegenübersaßen. Auf einen davon stellte Rider ihre Kaffeetasse. Darauf standen bereits Akten und verschiedene persönliche Gegenstände wie ein Kaffeebecher voller Stifte und ein Bilderrahmen, der allerdings so gestellt war, dass das Foto darin nicht zu sehen war. Ein aufgeklapptes Notebook summte leise. Rider war schon in der vorangegangenen Woche, als Bosch noch zum Zoll gemusst hatte, zu der Einheit gestoßen – mit Zoll waren die ärztliche Untersuchung und die abschließenden Formalitäten gemeint, die für seine Wiedereinstellung erforderlich gewesen waren.

    Der andere Schreibtisch, sauber und leer, wartete auf ihn. Bosch ging dahinter und stellte seinen Kaffee darauf. Er unterdrückte ein Lächeln, so gut er konnte.

    »Willkommen zurück, Roy«, sagte Rider.

    Nun konnte er das Lächeln nicht länger zurückhalten. Es freute Bosch, wieder Roy genannt zu werden. Das war unter den Detectives des Morddezernats ein alter Brauch. Es gab einen legendären Ermittler namens Russell Kuster, der vor Jahren bei der Hollywood Division gewesen war. Er war der absolut Größte gewesen und hatte viele der Detectives, die heute in Los Angeles in Mordfällen ermittelten, irgendwann einmal unter seinen Fittichen gehabt. Er kam 1990 bei einer Schießerei, bei der er nicht mal im Dienst war, ums Leben. Aber seine Angewohnheit, andere Leute – egal, wie sie hießen – Roy zu nennen, wurde beibehalten. Der Grund dafür war in Vergessenheit geraten. Einige behaupteten, Kuster habe einmal einen Partner gehabt, der auf Roy Acuff stand, und damit habe das Ganze angefangen. Andere sagten, Kuster habe die Detectives beim Morddezernat gern als eine Art Roy-Rogers-Verschnitt gesehen, der mit seinem weißen Cowboyhut angeritten kam, um den Bedrängten beizustehen und alles wieder in Ordnung zu bringen. Aber das spielte schon längst keine Rolle mehr. Bosch wusste, dass es eine Ehre war, wieder Roy genannt zu werden.

    Er setzte sich. Der Stuhl war alt und die Polsterung klumpig. Wenn er zu lange darauf säße, bekäme er garantiert Rückenschmerzen. Aber er hoffte, dazu würde es nicht kommen. Seine erste Dienstzeit als Detective hatte unter der Devise gestanden: Krieg den Arsch hoch und putz Klinken. Er sah keinen Grund, es dieses Mal anders zu halten.

    »Wo sind eigentlich die anderen?«, fragte er.

    »Frühstücken. Das hatte ich ganz vergessen. Letzte Woche haben sie mir gesagt, dass sie sich montagmorgens immer schon vor Dienstantritt zum Frühstück treffen. Normalerweise gehen sie ins Pacific rüber. Es ist mir allerdings erst wieder eingefallen, als ich heute Morgen herkam und kein Mensch hier war. Aber sie müssten jeden Augenblick auftauchen.«

    Das Pacific Dining Car stand, wie Bosch wusste, bei der Chefetage des LAPD und der Robbery Homicide Division schon seit Langem hoch im Kurs. Er wusste aber auch noch etwas anderes.

    »Zwölf Dollar für eine Portion Rührei. Das heißt wohl, dass das hier eine Einheit ist, bei der man Überstunden abrechnen kann.«

    Zur Bestätigung lächelte Rider.

    »Das siehst du völlig richtig. Aber nach dem Zwei-Sechser des Chief wärst du sowieso nicht dazu gekommen, deine teuren Eier aufzuessen.«

    »Das hast du auch schon mitgekriegt?«

    »Ich habe immer noch ein Ohr oben im Sechsten. Hast du deine Dienstmarke gekriegt?«

    »Ja, er hat sie mir gegeben.«

    »Ich habe ihm gesagt, welche Nummer du gern hättest. Hast du sie gekriegt?«

    »Ja, Kiz, danke. Und überhaupt danke für alles.«

    »Das hast du bereits gesagt, Partner. Du brauchst das nicht ständig zu sagen.«

    Er nickte und schaute sich an ihrem Platz um. Er sah, dass an der Wand hinter Rider ein Foto von zwei Detectives hing, die neben einer Leiche kauerten, die im trockenen Betonbett des Los Angeles River lag. Den Hüten der Detectives nach zu schließen, war es in den frühen fünfziger Jahren aufgenommen worden.

    »So, und wo fangen wir jetzt an?«, fragte er.

    »Die Einheit teilt die Fälle in Dreijahresabschnitte ein. Das sorgt für eine gewisse Kontinuität. Man soll mit seinem speziellen Zeitabschnitt und einigen der wichtigsten Ermittler vertraut werden. Dabei kommt es natürlich zu Überschneidungen. Es hilft auch bei der Identifizierung von Serientätern. In den letzten zwei Jahren sind sie bereits auf vier Serientäter gestoßen, von denen bis dahin kein Mensch etwas wusste.«

    Bosch nickte. Er war beeindruckt.

    »Welche Jahre haben wir gekriegt?«, fragte er.

    »Jedes Team erhält vier oder fünf Abschnitte. Weil wir das neue Team sind, haben wir vier gekriegt.«

    Sie öffnete die mittlere Schreibtischschublade, nahm ein Blatt Papier heraus und reichte es ihm.

    Bosch studierte die Zusammenstellung der Jahre, für die sie zuständig waren. Während des größten Teils des ersten Zeitabschnitts war er nicht in Los Angeles gewesen, sondern in Vietnam.

    »Der ›Summer of Love‹«, bemerkte er. »Habe ich leider nicht mitbekommen. Vielleicht ist genau das mein Problem.«

    Er sagte es nur, um etwas zu sagen. Er merkte, dass zum zweiten Abschnitt 1972 gehörte, das Jahr, in dem er in den Polizeidienst getreten war. Er erinnerte sich, dass er gleich an seinem zweiten Tag als Streifenpolizist zu einem Haus nicht weit von der Vermont gerufen worden war. Eine Frau, die drüben im Osten lebte, hatte beim LAPD darum gebeten, ob man mal nach ihrer Mutter sehen könnte, weil sie nicht ans Telefon ging. Bosch fand sie ertrunken in der Badewanne, an Händen und Füßen mit Hundeleinen gefesselt. Ihr toter Hund lag bei ihr in der Wanne. Bosch fragte sich, ob der Mord an der alten Frau einer der offenen Fälle war, mit deren Lösung er jetzt beauftragt war.

    »Wie wurde das festgelegt? Ich meine, warum haben wir diese Jahre zugeteilt bekommen?«

    »Wir haben sie von den anderen Teams gekriegt. Wir nehmen ihnen Arbeit ab. In einigen Fällen aus diesen Jahren haben sie übrigens bereits erste Schritte unternommen. Und am Freitag habe ich gehört, dass sie für 1988 einen kalten Treffer gelandet haben. Wir sollen heute damit anfangen, der Sache weiter nachzugehen. Du kannst es als dein Einstandsgeschenk betrachten.«

    »Was ist ein kalter Treffer?«

    »Wenn wir für eine DNS-Analyse oder einen Fingerabdruck, den wir in den Computer eingeben oder ans Justizministerium schicken, eine Übereinstimmung kriegen.«

    »Was ist es in unserem Fall?«

    »Eine DNS-Übereinstimmung, glaube ich. Aber das werden wir gleich sehen.«

    »Das haben sie dir letzte Woche noch nicht gesagt? Ich hätte am Wochenende reinkommen können.«

    »Ich weiß, Harry. Aber das ist ein alter Fall. Da besteht kein Anlass, sofort loszulegen, kaum dass was Schriftliches mit der Post ins Haus flattert. Der Dienst in Offen-Ungelöst ist etwas anders.«

    »Ja? Wieso?«

    Rider sah ihn entnervt an, doch bevor sie antworten konnte, hörten sie, wie die Tür aufging und der Bereitschaftsraum sich mit Stimmen füllte. Rider ging aus der Nische, und Bosch folgte ihr. Sie stellte Bosch den anderen Mitgliedern der Einheit vor. Zwei der Detectives, Tim Marcia und Rick Jackson, kannte Bosch von früheren Fällen gut. Die zwei anderen Teams waren Robert Renner und Victor Robleto sowie Kevin Robinson und Jean Nord. Vom Hörensagen kannte Busch sie ebenso wie ihren Chef Abel Pratt. Jeder von ihnen war ein erstklassiger Mordermittler.

    Die Begrüßung war freundlich, aber zurückhaltend, etwas zu förmlich. Bosch war klar, dass seine Zugehörigkeit zu der Einheit wahrscheinlich misstrauisch beäugt wurde, weil es sich dabei um eine bei den Detectives des LAPD äußerst begehrte Stellung handelte. Der Umstand, dass er sie nach fast drei Jahren im Ruhestand erhalten hatte, warf Fragen auf. Wie ihm der Polizeichef eben noch einmal in Erinnerung gerufen hatte, hatte er den Posten Rider zu verdanken, die zuletzt als Beraterin für Öffentlichkeitsarbeit im Büro des Chief gearbeitet hatte. Sie hatte die Pluspunkte, die sie im Lauf der Jahre beim Chief angesammelt hatte, für Boschs Wiedereinstellung eingesetzt, um mit ihm ungelöste Fälle zu bearbeiten.

    Nach dem üblichen Händeschütteln bat Pratt seine zwei Neuzugänge zu einer privaten Begrüßungsansprache in sein Büro. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, und sie nahmen auf den zwei Stühlen davor Platz. Für weiteres Mobiliar war in dem besenkammergroßen Raum kein Platz.

    Pratt war ein paar Jahre jünger als Bosch, knapp unter fünfzig. Er war körperlich fit und hielt den Korpsgeist der renommierten Robbery Homicide Division hoch, der die Einheit Offen-Ungelöst angegliedert war. Pratt schien großes Vertrauen in seine fachliche Kompetenz und seine Führungsqualitäten zu haben. Das musste er auch. Die RHD übernahm die schwierigsten Fälle der Stadt. Wenn man nicht davon überzeugt war, klüger, abgebrühter und gerissener zu sein als die Leute, hinter denen man her war, hatte man hier nichts verloren.

    »Eigentlich«, begann er, »sollte ich Sie beide trennen. Jeden von Ihnen jemandem zuteilen, der hier bereits eingearbeitet ist. Denn der Dienst hier ist anders als das, was Sie bisher gemacht haben. Aber ich habe aus dem Sechsten entsprechende Anweisungen erhalten und halte mich da deshalb raus. Außerdem, habe ich mir sagen lassen, hat die Chemie zwischen Ihnen früher schon gestimmt. Deshalb will ich vergessen, was ich eigentlich tun sollte, und Ihnen stattdessen nur kurz erklären, was wir hier in Offen-Ungelöst machen. Kiz, Sie haben diesen Sermon zwar schon letzte Woche gehört, aber Sie werden ihn einfach noch mal über sich ergehen lassen müssen, okay?«

    »Kein Problem«, sagte Rider.

    »Zuallererst, erwarten Sie keine Aufklärung. Alles, was wir hier tun, ist Antworten geben. Antworten müssen genügen. Machen Sie sich keine Illusionen darüber, was Sie mit Ihrer Arbeit bewirken können. Machen Sie den Familienangehörigen, mit denen Sie bei diesen Fällen zu tun haben, keine falschen Hoffnungen, und lassen Sie sich von ihnen keine falschen Hoffnungen machen.«

    Er wartete auf eine Reaktion, bekam keine und ging zum nächsten Punkt über. Bosch merkte, dass auf dem gerahmten Tatortfoto an der Wand ein Mann zu sehen war, der in einer von Kugeln durchsiebten Telefonzelle zusammengebrochen war. Es war eine dieser Telefonzellen, wie man sie nur noch in alten Filmen sah, oder auf dem Farmers Market oder drüben bei Philippe’s.

    »Es gibt überhaupt keinen Zweifel«, sagte Pratt. »Diese Einheit ist der hehrste Ort in diesem Gebäude. Eine Stadt, die ihre Mordopfer vergisst, ist eine verlorene Stadt. Das hier ist der Ort, an dem wir nicht vergessen. Wir sind wie die Typen, die am Ende des neunten Innings auf den Platz kommen, um das Spiel noch mal zu drehen. Wenn wir es nicht schaffen, schafft es niemand. Wenn wir versagen, ist das Spiel gelaufen, weil wir die letzte Rettung sind. Ja, wir sind zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen. Wir haben seit 1960 achttausend ungelöste Fälle. Aber wir lassen uns nicht entmutigen. Selbst wenn diese Einheit nur einen Fall pro Monat löst – zwölf im Jahr –, bewirken wir dennoch etwas. Wenn man beim Morddezernat ist, ist hier der Ort, an dem man sein muss.«

    Bosch war beeindruckt von Pratts Engagement. Er konnte Aufrichtigkeit und sogar Schmerz in seinen Augen sehen. Er nickte. Ihm wurde sofort klar, dass er für diesen Mann arbeiten wollte, eine Seltenheit während seiner Zeit bei der Polizei.

    »Vergessen Sie nur nicht, dass Sie keine Aufklärung erwarten dürfen«, fügte Pratt hinzu.

    »Schon klar«, sagte Bosch.

    »Andererseits weiß ich, dass Sie beide viel Erfahrung mit Mordfällen haben. Was Ihnen hier anders vorkommen wird, ist Ihr Verhältnis zu den Fällen.«

    »Mein Verhältnis?«

    »Ja, Ihr Verhältnis. Damit meine ich: Frische Morde zu bearbeiten ist ein völlig anderes Paar Schuhe. Man hat die Leiche, man hat die Autopsie, man überbringt den Angehörigen die traurige Nachricht. Hier haben Sie es mit Opfern zu tun, die lange tot sind. Es gibt keine Autopsien, keine konkreten Tatorte. Sie haben es mit den Mordakten zu tun … Falls Sie sie auftreiben können. Wenn Sie zu den Angehörigen gehen – und glauben Sie mir: Das tun Sie erst, wenn Sie wirklich so weit sind –, dann treffen Sie auf Menschen, die den Schock bereits erfahren und Möglichkeiten gefunden oder auch nicht gefunden haben, ihn zu verkraften. Das geht einem nahe. Ich hoffe, darauf sind Sie vorbereitet.«

    »Danke für die Warnung«, sagte Bosch.

    »Bei frischen Morden hat alles etwas sehr Klinisches, weil es sehr schnell geht. Bei alten Fällen kommen viel mehr Emotionen ins Spiel. Sie bekommen sehr deutlich zu sehen, welchen Tribut Gewalttaten im Lauf der Zeit fordern. Seien Sie darauf gefasst.«

    Pratt zog einen dicken blauen Ordner von der Seite des Schreibtisches in die Mitte der Schreibunterlage. Er schob ihn auf Bosch und Rider zu, hielt aber auf halbem Weg inne.

    »Noch etwas, worauf Sie gefasst sein müssen, ist die Polizei selbst. Rechnen Sie damit, dass Akten unvollständig oder sogar völlig verschwunden sind. Rechnen Sie damit, dass Beweismittel vernichtet wurden oder verloren gegangen sind. Rechnen Sie damit, dass Sie bei manchen Fällen bei null anfangen müssen. Diese Einheit wurde vor zwei Jahren gegründet. Die ersten acht Monate waren wir nur damit beschäftigt, die Ermittlungsprotokolle durchzugehen und ungelöste Fälle auszusortieren. Wir speisten alles, was wir hatten, in die forensischen Datenbanken ein, aber selbst wenn wir einen Treffer landeten, stellte die mangelnde Fallintegrität ein massives Handicap dar. Es ist ein Fass ohne Boden. Es ist frustrierend. Obwohl es bei Mord keine Verjährung gibt, müssen wir immer wieder feststellen, dass Beweismittel und sogar Akten routinemäßig entsorgt wurden. Was ich damit sagen will: Sie werden feststellen, dass bei manchen dieser Fälle das größte Hindernis durchaus die Polizei selbst sein könnte.«

    »Jemand hat erwähnt, dass wir einen kalten Treffer hätten, der aus einem unserer Zeitblöcke kommt«, sagte Bosch. Er hatte genug gehört. Er wollte sich langsam an die Arbeit machen.

    »Ja, haben Sie«, sagte Pratt. »Dazu kommen wir gleich. Lassen Sie mich aber vorher meine kleine Ansprache noch zu Ende bringen. Ich komme ja auch nicht allzu oft dazu, sie zu halten. Im Grunde genommen, versuchen wir hier einfach, neue Techniken auf alte Fälle anzuwenden. Im Wesentlichen betrifft das drei Bereiche: DNS, Fingerabdrücke und Ballistik. Auf allen drei Gebieten haben wir in den letzten Jahren, speziell was Vergleichsanalysen angeht, erstaunliche Fortschritte gemacht. Das Problem ist, dass sich das LAPD diese Fortschritte nie zunutze gemacht hat, um neue Erkenntnisse über alte Fälle zu gewinnen. Folglich haben wir schätzungsweise zweitausend Fälle, für die uns DNS-Proben vorliegen, die aber nie ausgewertet und verglichen wurden. Seit 1960 haben wir viertausend Fälle mit Fingerabdrücken, die man nie durch einen Computer hat laufen lassen. Weder durch unsere Datenbanken noch durch die des FBI, des Justizministeriums oder sonst einer Behörde. Es ist fast lachhaft, wenn es nicht so traurig wäre. Das Gleiche gilt für die Ballistik. In den meisten Fällen ist das Beweismaterial noch vorhanden, aber niemand hat ihm je Beachtung geschenkt.«

    Bosch schüttelte den Kopf, denn er spürte bereits die Frustration all der Angehörigen der Opfer. Die Fälle waren in Vergessenheit geraten, Gleichgültigkeit und Unfähigkeit hatten ein Übriges getan.

    »Sie werden auch feststellen, dass sich die Methoden geändert haben. Heute sind die Ermittler schlicht und einfach besser als, sagen wir, 1960 oder 1970. Sogar 1980. Schon bevor Sie also zu den konkreten Beweismitteln kommen und die Fälle neu aufrollen, werden Sie Dinge sehen, die Ihnen heute offensichtlich erscheinen, doch damals, zum Zeitpunkt der Tat, waren sie für niemanden ersichtlich.«

    Pratt nickte. Seine Rede war zu Ende.

    »Und jetzt zu dem kalten Treffer.« Er schob den verblichenen blauen Ordner über den Schreibtisch. »Nehmen Sie sich diesen Fall vor. Er gehört jetzt ganz Ihnen. Lösen Sie ihn und bringen Sie jemanden hinter Gitter.«

    3

    Nachdem sie Pratts Büro verlassen hatten, beschlossen sie, dass Bosch die nächste Runde Kaffee holen würde, während sich Rider schon einmal die Mordakte vornähme. Sie war die schnellere Leserin, und sich die Akte zu teilen war wenig sinnvoll. Sie mussten sie beide von vorne bis hinten lesen, um das Ermittlungsverfahren so linear vor sich zu haben, wie es abgelaufen und dokumentiert worden war.

    Bosch sagte, er würde ihr zu einem ordentlichen Vorsprung verhelfen und vielleicht in der Cafeteria eine Tasse Kaffee trinken, und zwar nur, weil er diesen Ort vermisst hatte. Den Ort, nicht den Kaffee.

    »Dann habe ich also auch noch ein paar Minuten Zeit für einen kleinen Ausflug den Flur runter«, sagte Rider.

    Als sie auf die Toilette ging, nahm Bosch das Blatt, auf dem die ihnen zugeteilten Jahre standen, und steckte es in die Innentasche seines Sakkos. Dann verließ auch er das Büro, fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock hinunter und ging durch den Hauptbereitschaftsraum der RHD zum Büro des Captain.

    Das Büro des Captain bestand aus zwei Zimmern. Eines davon war sein eigentliches Büro, das andere hieß das Mordzimmer. Dort gab es einen langen Konferenztisch, an dem die Mordfälle besprochen wurden. Die Regale an den beiden Seitenwänden waren voll mit juristischen Fachbüchern und den Mordregistern der Stadt. Jeder Mord, der in den letzten hundert Jahren in Los Angeles begangen worden war, war in diesen ledergebundenen Registern eingetragen. Schon seit Jahrzehnten war es üblich, die Register jedes Mal, wenn einer der Morde darin aufgeklärt wurde, auf den neuesten Stand zu bringen. Mit ihrer Hilfe ließ sich am einfachsten feststellen, welche Fälle noch offen und welche bereits abgeschlossen waren.

    Bosch fuhr mit dem Finger über die rissigen Buchrücken. Auf jedem stand einfach Morde, gefolgt von der Angabe der Jahre, die der Band abdeckte. In den frühen Bänden hatten immer mehrere Jahre Platz gefunden. Ab 1980 waren in der Stadt jedoch so viele Morde begangen worden, dass ein Band nur noch ein einziges Jahr umfasste, und das Jahr 1988, stellte Bosch fest, hatte schließlich nur noch in zwei Bänden Platz gefunden. Plötzlich konnte er sich vorstellen, warum dieses Jahr ihm und Rider, den beiden Neuzugängen in Offen-Ungelöst, zugeteilt worden war. Der Höchstwert für Morde in der Stadt ging sicher mit dem Höchstwert für ungelöste Fälle einher.

    Als er den Band mit den Fällen von 1972 fand, zog er ihn heraus und setzte sich damit an den Tisch. Er blätterte darin, überflog die Geschichten, hörte die Stimmen. Er fand die alte Frau, die in der Badewanne ertrunken war. Der Mord war nie aufgeklärt worden. Er machte mit den Jahren 1973 und 1974 weiter, dann nahm er sich den Band vor, der 1966, 1967 und 1968 enthielt. Er las von Charles Manson und Robert Kennedy. Er las von Menschen, deren Namen er nie gehört hatte. Namen, die diesen Menschen zusammen mit allem anderen genommen worden waren, mit dem, was sie gehabt hatten oder jemals hätten haben können.

    Als er die Kataloge mit den Schrecken der Stadt studierte, spürte Bosch, wie eine vertraute Kraft von ihm Besitz ergriff und durch seine Adern zu strömen begann. Gerade mal eine Stunde im Polizeidienst zurück, und schon jagte er wieder einen Mörder. Es spielte keine Rolle, vor wie langer Zeit das Blut vergossen worden war. Da war ein Mörder auf freiem Fuß, und Bosch war im Anmarsch. Wie der heimgekehrte verlorene Sohn war er wieder da, wo er hingehörte. Er wurde erneut im Wasser der einzig wahren Kirche getauft. Der Kirche der blauen Religion. Und er würde seine Erlösung in denen finden, die lange verschollen gewesen waren, in diesen modrigen Bibeln, in denen die Toten tabellarisch aufgeführt waren und in denen es auf jeder Seite Geister gab.

    »Harry Bosch!«

    Irritiert über die Störung, schlug Bosch die Akte zu und schaute auf. Im Türrahmen des angrenzenden Büros stand Captain Gabe Norona.

    »Captain.«

    »Schön, dass Sie wieder bei uns sind!«

    Norona kam auf Bosch zu und schüttelte ihm energisch die Hand.

    »Schön, wieder dabei zu sein.«

    »Wie ich sehe, hat man Ihnen auch schon eine Hausaufgabe aufgebrummt.«

    Bosch nickte.

    »Ich fange schon mal an, mich damit vertraut zu machen.«

    »Neue Hoffnung für die Toten. Harry Bosch schlägt wieder zu.«

    Bosch sagte nichts. Er wusste nicht, ob

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