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Schule und die Krise der Demokratie: Was sich ändern lässt und wie
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eBook372 Seiten3 Stunden

Schule und die Krise der Demokratie: Was sich ändern lässt und wie

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Über dieses E-Book

"Ein engagiertes und inspirierendes Buch eines erfahrenen Pioniers der Weiterentwicklung von Schule. Landreh macht Schule zu einem lebendigen Ort der Begegnung auf Augenhöhe, an dem es um Vielfalt und Wesentliches, um Freiheit, Verantwortung und Gemeinschaft im Einklang miteinander geht. Das Buch liest sich wie eine Blaupause, wie wir alle politisch und kulturell das Miteinander und den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft stärken können. Das geht uns alle an."
Christoph Klein
Was wir fürs Leben lernen
Schule ist ein bedeutsamer Lernort, an dem junge Menschen den Wert von Freiheit, Verantwortung und Demokratie erleben könnten. Leider geschieht das, wenn überhaupt, nur äußerst reduziert. Die gesellschaftlichen und politischen Folgen dieser Art schulischer Sozialisation werden heute zunehmend sichtbar, nicht zuletzt auch als Krise der Demokratie. – Was tun?
Sozialer Frieden und wachsende Bildungsgerechtigkeit nehmen ihren Ausgang in einer Schule, die Freude lebt und Verantwortung zeigt. Guido Landreh, selbst lange Zeit Schulleiter, stellt mit der systemisch emergenten Schulentwicklung einen neuen und facettenreichen Weg dorthin vor. Anhand vieler praktischer Erfahrungen und Beispiele beschreibt er nachvollziehbar, überzeugend und ermutigend den Unterschied und die nachhaltigen Wirkungen, wenn Schule systemisch als großes soziales und pädagogisches Netzwerk verstanden und gelebt wird. Daraus wachsen zunehmend freiheitliche Lernarrangements, gestaltet in gemeinsamer Verantwortung der beteiligten Schüler:innen, Eltern, Lehrkräfte und außerschulischen Fachkräfte. Im Ergebnis verbessern sich dabei auch die Schülerleistungen markant.
In die zahlreichen Beispiele gelungener Transformationen streut der Autor immer wieder Handlungsideen ein, die sich sofort umsetzen lassen – einerlei, ob man Bildungspolitiker:in, Schulleiter:in oder Lehrkraft ist.
Der Autor:
Guido Landreh, Schulleiter (a. D.) einer Integrierten Sekundarschule in Berlin; ehem. Schulleiter, Lehrer und Mitbegründer der "Stadt als Schule Berlin"; Schulentwicklungsberater, Prozessberater von Schulen bei der Erstellung ihres Schulprogramms. Berufsbegleitende Weiterbildung im Bereich Systemische Supervision und Organisationsberatung.
SpracheDeutsch
HerausgeberCarl-Auer Verlag
Erscheinungsdatum26. März 2024
ISBN9783849784775
Schule und die Krise der Demokratie: Was sich ändern lässt und wie

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    Buchvorschau

    Schule und die Krise der Demokratie - Guido Landreh

    1Jedes Ende ist ein neuer Anfang

    1.1 Eine freie Schulleiterstelle

    Das Tor war zu, einfach abgeschlossen. Mein Auto parkte noch auf dem Hof. Deutlicher konnte sich Ablehnung nicht zeigen.

    Als Interessent für die neu zu besetzende Stelle eines Schulleiters hatte ich mich dem Kollegium einer Hauptschule in Berlin-Pankow vorgestellt. Anschließend brachte ich die Schulaufsichtsbeamtin, die mit der Dienststellenleiterin die Konferenz geleitet hatte, zur Tram, um auf dem Weg mit ihr ein kurzes Fazit zu ziehen.

    Genau genommen war mein Vorstellungsgespräch ein Desaster: 18 Kolleginnen und Kollegen saßen im Konferenzraum, die Atmosphäre war eisig. Zur Vorbereitung hatte die Schulaufsicht ihnen eine Konzeptskizze zugeschickt, die ich eigentlich für die Neugründung einer Sekundarschule geschrieben hatte. Darüber hätte ich gern reden wollen, aber das Kollegium offensichtlich nicht. Natürlich wusste ich, dass jede gewachsene Schule eine eigene Geschichte hat, an die man anknüpfen muss. Andererseits stand dieses Konzept auch für mich, meine Biografie und meine Ideen. Die brachte ich mit und wollte sie einbringen, nicht dogmatisch, sondern in einem gemeinsam zu gestaltenden Entwicklungsprozess. Mit der Schulaufsicht war verabredet, dass das Kollegium und ich nach dem Gespräch entscheiden, ob die Zusammenarbeit vorstellbar ist. Auf dem Weg zur Sitzung eröffnete mir die Dienststellenleiterin hingegen, dass sie mich dem Kollegium als neuen Schulleiter vorstellen werde. Ich hätte natürlich die Wahl, dies anzunehmen, nicht aber das Kollegium. Darauf war ich nicht vorbereitet. Das Kollegium schon, es bot uns nicht einmal etwas zu trinken an.

    Ratlos stand ich vor dem verschlossenen Tor und dachte nach. Dann ging ich zum Rathaus nebenan. Vielleicht gab es dort einen Schlüssel für die Einfahrt, um an mein Auto zu kommen. Nach hartnäckiger Suche fand ich jemanden, der mir die Telefonnummer des Schulhausmeisters gab. Unfreundlich und mürrisch erklärte der mir, dass er nur komme, weil ich der künftige Schulleiter sei.

    So stand ich vor dem Tor und wartete noch eine halbe Stunde. Die Gedanken schweiften zurück. Es waren nur vier Kolleginnen, die interessiert wirkten, zwei davon waren Sozialpädagoginnen. Aber die Schule würde wachsen, und mit ihr würden auch neue Kolleginnen und Kollegen kommen. Eine greifbare Alternative hatte ich nicht. Meine Umsetzung an eine andere Schule war kurzfristig geplant worden und kam für mich unvorbereitet.

    Es wird ein schwieriger, schmerzhafter und langwieriger Prozess werden, dachte ich, aber am Ende wird es eine Lösung geben, wie für mein eingeschlossenes Auto.

    1.2 Der Niedergang und das Ende

    Infolge der Berliner Schulstrukturreform im Sommer 2010, die die bestehenden Haupt- und Realschulen zu Integrierten Sekundarschulen zusammenfasste, sollte das Schulprojekt »Stadt-als-Schule Berlin« an eine neu geplante und bislang nicht existente Sekundarschule angegliedert werden. Die letzten zehn Jahre war ich Schulleiter dieser außergewöhnlichen, seit 18 Jahren bestehenden Schule, zu deren Mitbegründerinnen und Mitbegründern ich gehörte. Obwohl wir eine innovative und erfolgreiche Schule waren, die national und auch international Beachtung fand, war es offensichtlich schulpolitisch noch nicht vorstellbar, eine Stadt-als-Schule als Integrierte Gesamtschule (denn das sind die Berliner Sekundarschulen) einzurichten. Um ganz sicherzugehen, dass dies nicht doch noch passieren würde, schob man oder frau mich in den Überhang und besetzte die Schulleiterstelle der neu entstandenen Integrierten Sekundarschule mit einer anderen Kollegin aus dem Überhang. So ein eher machtpolitisch motiviertes Verwaltungshandeln bremst eine Entwicklung natürlich erst einmal, wirklich verhindern kann es sie jedoch nicht.

    Es war schmerzlich für mich und das Kollegium, das äußerst engagiert gearbeitet hatte. Die Stadt-als-Schule folgte einem Vorbild aus New York, der »City-As-School«. Für mich war sie eine konsequente Form der »community education«, die sich in Großbritannien entwickelt hatte und im Westberlin der 1980er-Jahre fruchtbaren Boden fand. Macht die Schulen auf, lasst das Leben rein (Zimmer u. Niggemeyer 1986) war das Postulat, das mich begeisterte. Aber die Stadt-als-Schule ging sogar noch einen Schritt weiter: Macht die Schulen auf, geht raus in die Stadt und lernt im Leben! Das war revolutionär und konsequent. Jede Schülerin und jeden Schüler zu fragen, was sie interessiert, was sie tun möchten, und dann gemeinsam mit ihnen in der Stadt die dazu passenden Orte zu suchen und zu finden, das war der Ansatz der Stadt-als-Schule Berlin (vgl. Uesseler 2005). Wenn dieser Lernort gefunden war, hatten die Schülerinnen und Schüler ein Trimester lang Zeit, dort jede Woche drei Tage lang tätig zu sein. An den zwei Schultagen konnten sie die Praxiserfahrungen reflektieren, generiertes Wissen vertiefen und erweitern, wobei in jedem Trimester ein neues Praxislernprojekt an einem neuen Praxisort begann.

    Wie gelang es uns damals, diesen völlig neuen Ansatz von Schule in das starre Schulsystem einzubringen – die Idee, dass junge Menschen in hohem Maße interessengeleitet lernen und Lehrkräfte sie dabei begleiten und unterstützen? Ich denke, es wäre in den 1980er-Jahren eher unwahrscheinlich gewesen, dass sich solch eine Idee aus dem System selbst heraus entwickelt hätte. Allerdings war auch damals schon deutlich: Das dreigliedrige Schulsystem funktioniert nicht, an der Hauptschule rebellieren zu viele Schülerinnen und Schüler. Da die Gesamtschule nur halbherzig eingeführt wurde, gab es zumindest an den Hauptschulen Räume, etwas Neues auszuprobieren.

    Als die Initiativgruppe sich Mitte der 1980er-Jahre nach einer Studienreise in die USA bildete, auf der sie »City-As-School« kennengelernt hatte, und sich mit ihrem Wunsch der Gründung einer Stadt-als-Schule an die damalige Berliner Schulsenatorin wandte, reagierte Hanna Renate Laurien ablehnend: Die Gruppe solle erst einmal nachweisen, dass dieser Ansatz überhaupt funktioniert. Ein Kompromiss fand sich unter Einbeziehung der FDP (die damals mit der CDU koalierte): Ein Modellversuch in der Jugendbildungsarbeit wurde eingerichtet, der im Sommer 1987 startete und innerhalb von vier Jahren bis Ende 1991 den von der Schulsenatorin geforderten Nachweis erbringen sollte. Lehrerinnen und Lehrer durften sich als Landesbeamte zur Mitarbeit am Modellversuch beurlauben lassen, was mit erheblichen finanziellen Einbußen verbunden war. Gemeinsam mit Ingrid Böhm leitete Jens Schneider den Modellversuch. Beide hatten maßgeblichen Anteil an seiner Einrichtung und an der Gründung des folgenden Schulversuchs Stadt-als-Schule Berlin sowie an der Entwicklung des »Produktiven Lernens« (vgl. Pinnwand ab S. 16). Während meiner Lehrerausbildung wurde ich auf diesen Modellversuch aufmerksam und bewarb mich dort nach meinem Abschluss. Dass ich im Herbst 1988 die Chance zur Mitarbeit erhielt, war nicht selbstverständlich und für mich der ideale Start in den Beruf.

    Während des Modellversuchs erstatteten wir regelmäßig Bericht über die Arbeit und den Erfolg des Versuchsauftrags. Für uns ging es nun darum, diesen Modellversuch in einen Schulversuch zu überführen. Die Praxis bestätigte, was bereits in New York deutlich geworden war: Der Ansatz funktionierte! Aber an der Haltung der Senatsverwaltung für Schule hatte sich nichts geändert, und die Bereitschaft, diesen Schritt einer Schulreform mitzugehen, war nicht vorhanden. Also bauten wir die Strategie aus, die schon zur Einrichtung des Modellversuchs geführt hatte: Wenn die Legislative (das Parlament) der Exekutive (dem Senat) den Auftrag erteilt, den Schulversuch einzurichten, dann muss die Senatsverwaltung diesem Auftrag folgen. Für uns war es wichtig, möglichst einen parteiübergreifenden Konsens zu erreichen. Wir redeten mit verschiedenen Abgeordneten, den bildungspolitischen Sprecherinnen und Sprechern der Parteien und allen, die am Thema interessiert waren, und schafften es tatsächlich, dass das Projekt nach den Wahlen zum Abgeordnetenhaus im Jahre 1989 in den Koalitionsvertrag aufgenommen wurde. Aber wir mussten am Ball bleiben, denn nun wurden die Rahmenbedingungen im Bildungsausschuss und im Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses verhandelt, die wiederum die Grundlage dafür waren, mit der Senatsverwaltung für Schulwesen eine Vereinbarung für die Überführung des Modellversuchs in den Schulversuch auszuhandeln. Zum Ende des Modellversuchs im Dezember 1991 stand die Vereinbarung, und der Schulversuch konnte im Sommer 1992 starten. Allerdings fand ich den erzielten Kompromiss enttäuschend: Der Schulversuch Die Stadt-als-Schule Berlin wurde für zunächst vier Jahre als Hauptschule mit den Jahrgangsstufen 9 und 10 eingerichtet und war offen für Schülerinnen und Schüler, die bereits eine Jahrgangsstufe wiederholen mussten und eine negative Abschlussprognose hatten. Schulreform sieht in meinen Augen anders aus. Doch die Mehrheit des Teams war dafür, diese Vereinbarung anzunehmen. Trotz meiner Enttäuschung entschied ich mich, zumindest das erste Jahr mitzuarbeiten. Mit mir blieben noch eine Kollegin und ein Kollege sowie unsere Verwaltungskraft. Die anderen gingen, um viele Erfahrungen reicher, zurück an ihre bisherigen Schulen oder wendeten sich neuen Aufgaben zu.

    Mittels einer Art Salamitaktik gelang es uns tatsächlich nach und nach, einige Zugeständnisse auszuhandeln: Die Schule wuchs zusehend. Nach der ersten Schulversuchsphase durften wir den Realschulabschluss vergeben, und der Schulversuch wurde um weitere vier Jahre verlängert. Im Laufe der zweiten Schulversuchsphase übernahm ich erst kommissarisch und später dann im Rahmen der neu eingerichteten Funktionsstelle die Schulleitung.

    Letztlich wurden wir im Jahr 2001 aufgrund unserer nachweislich erfolgreichen Arbeit in eine Schule besonderer pädagogischer Prägung überführt. Allerdings blieben wir reduziert auf ein Angebot für den 9. und 10. Jahrgang, das offen war für Schülerinnen und Schüler mit gravierenden Brüchen in ihren Bildungsbiografien und negativen Schulabschlussprognosen.

    In den Anfangsjahren des Deutschen Schulpreises machte die Robert-Bosch-Stiftung noch Werbung für diesen Schulpreis, sprach interessante Schulen direkt an und lud sie zur Teilnahme ein. So auch uns. Als ich den Anruf erhielt, reagierte ich zurückhaltend, denn ich fand uns, insbesondere beim Lernen innerhalb der Schule, noch nicht ausreichend innovativ. Da wir alle Entscheidungen im Team fällten, war dies natürlich Thema einer gemeinsamen Besprechung. Mein Vorschlag, nicht jetzt, aber perspektivisch eine Teilnahme zu erwägen, war jedoch nicht mehrheitsfähig und weit entfernt von einem Konsens. Die Gründe reichten von meiner Einschätzung über »Das würde zu viel Arbeit machen« bis zu »Man solle persönliches Renommee nicht in den Vordergrund stellen«. Egal, welcher Argumentation man oder frau folgte – in der Rückschau kann ich sagen, dass hier eine gewisse Weitsicht fehlte. Der Ruf einer Schule ist immer mit persönlichen Renommees verknüpft, denn letztendlich wird die Schule von vielfältigen Persönlichkeiten gestaltet. Heute würde ich sagen: Sobald eine Schule außergewöhnliche Arbeit leistet, sollte sie solche Chancen nutzen, um die Qualität der eigenen Arbeit zu steigern. Vielleicht hätte sich in unserem Falle dann einiges anders entwickelt.

    So aber stand das Aus der Stadt-als-Schule bevor. Was war unser und was war mein Anteil an dieser Entwicklung? Er bestand u. a. darin, dass es in den letzten Jahren keine öffentlich wahrnehmbare Weiterentwicklung des Schulprofils gab, wir stagnierten. Uns lähmte ein historisch gewachsener, gemeinsamer Beschluss des Kollegiums, den ich teilte und mittrug: Grundsätzliche Entscheidungen müssen im Konsens getroffen werden, alle Kolleginnen und Kollegen haben ein Vetorecht.

    Ohne Erfolg hatte ich mehrfach dafür geworben, den Status der Rumpfschule zu überwinden und Schülerinnen und Schüler bereits mit dem Übergang von der Grundschule an die Oberschule aufzunehmen oder gemeinsam mit einer Grundschule eine Gemeinschaftsschule aufzubauen. Mir war es nicht gelungen, Entwicklungsimpulse zu geben, die vom Kollegium angenommen wurden. Mit dem bisher Erreichten war man oder frau zufrieden, und es gab wenig Offenheit für mögliche Veränderungen. So blieben wir eine Rumpfschule, die Schülerinnen und Schülern im 9. und 10. Jahrgang ein außergewöhnliches schulisches Angebot machte.

    Nun ermöglichte die Schulstrukturreform eine Entwicklung, für die ich vorher im Kollegium geworben hatte, aber ich durfte den Prozess nicht weiter begleiten. Es sollte, wie eingangs dargestellt, eine Fusion mit einer neu gegründeten Sekundarschule geben. Damit war ein Wechsel der Schulleitung verbunden. Das hatte Folgen. Wie die neu eingesetzte Schulleiterin später erklärte, erhielt sie den Auftrag, die Stadt-als-Schule im Rahmen der Fusion abzuwickeln.

    In der Rückschau muss ich feststellen: Für notwendige Entwicklungen gibt es in der Regel keine Mehrheiten. Ich habe das jedenfalls noch nicht erlebt. Deshalb brauchen wir legitime Wege, die Minderheiten schützen und ihnen Raum für Innovation geben. Fortgesetzter Stillstand bedeutet Zerfall, wie wir leidvoll erfahren mussten. Aber in organischen Systemen gibt es letztlich keinen wirklichen Stillstand: Ein Ende bedeutet auch immer einen Neubeginn.

    Mit der Schulstrukturreform im Sommer 2010 wurden das »Duale Lernen« (vgl. Sekundarstufe I-Verordnung § 29) und seine besonderen Organisationsformen eingeführt. Dies ist sicherlich auch ein Verdienst der Stadt-als-Schule. Und wenn die besondere pädagogische Prägung der Stadt-als-Schule darauf reduziert wird, dann ist sie rein formal gesehen tatsächlich überflüssig. Formalismus verhindert immer die Wahrnehmung von Potenzialen. Natürlich hätte die Stadt-als-Schule auch als Integrierte Sekundarschule solitär weiter existieren können und müssen. Sie arbeitete erfolgreich und besaß darüber hinaus im Rahmen der konstruktivistischen Didaktik Vorbildcharakter. Zu Recht befürchten Schulentwicklerinnen und Schulentwickler, der vorherrschende verwaltungsspezifische Formalismus sorge dafür, dass innovative Ideen und Konzepte mit zunehmender Integration keinen Bestand haben.

    Jens Schneider, der als Leiter des vorangegangenen Modellversuchs maßgeblichen Anteil an der Einrichtung und Gründung des folgenden Schulversuchs Stadt-als-Schule Berlin hatte, machte später seinem Frust über diese Entwicklung öffentlich Luft und äußerte sich kritisch über die aus seiner Sicht fehlende Konfliktbereitschaft. Aber Entwicklungen verlaufen nicht gradlinig. Noch heute gehören die »Bewahrer des Fortschritts« zu meinen schärfsten Kritikerinnen und Kritikern. Doch Fortschritt lässt sich nicht »bewahren«, denn wenn etwas »bewahrt« wird, kann es nicht mehr »fortschreiten«. Es bleibt zwangsläufig separiert und wird dadurch abgewertet. »Abweichlerinnen und Abweichler« bleiben Exoten, wirken aber mitunter wie Leuchttürme, die mögliche Fortschritte aufzeigen.

    Zum Teil wirken sie aber auch wie Fremdkörper im System. Unsere Arbeit mit der Schulaufsicht und dem Schulträger war zermürbend gewesen, es fehlte schließlich nahezu jeglicher Konsens. Da gegenseitiges Verstehen auf beiden Seiten nicht Teil des Handlungsrepertoires war, galt Entweder-oder als Prinzip der Auseinandersetzung, letztlich reduziert auf die Frage der Macht. Die Atmosphäre war zunehmend vergiftet: Wir brauchen hier bitte eine Steckdose. – Sie brauchen keine Steckdose, und außerdem ist eh kein Geld da. – Zwei Wochen später gab es eine Steckdose, wir hatten sie selbst installieren lassen. – Wenige Wochen später wurden wir gezwungen, sie wieder zurückzubauen, und es gab großen Ärger, weil durch eigenmächtiges Handeln eventuelle Gewährleistungsansprüche nun nicht mehr geltend gemacht werden könnten und so weiter. Viele kennen diese destruktive Form der Auseinandersetzung. Wir stritten mit dem Schulträger über Raumbedarf, Raumnutzungskonzepte, Standortfragen, Schönheitsreparaturen und Instandsetzungen. Immer wieder wechselten Zuständigkeiten, zum Teil verbunden mit der Zusammenlegung von zwei Verwaltungsbezirken. Und letztlich nutzten Schulträger wie Schulaufsicht die Möglichkeiten der Schulstrukturreform, neben vielen anderen Schulfusionen und -schließungen auch die Stadt-als-Schule abzuwickeln. Als ich den in der Senatsverwaltung zuständigen Abteilungsleiter nach dem Grund fragte, antwortete er mir kurz und ehrlich: »Es gab zu viel Reibung.« Egal, wie eine Entwicklung sich darstellt, als Schulleiter trage ich letztlich die Gesamtverantwortung.

    Auch wenn das Potenzial nicht voll ausgeschöpft wurde, wir hatten eine Idee initiiert und befördert, die sich über Berlin hinaus ausbreitete. Und wie schon vor 18 Jahren: Das Kollegium der Stadt-als-Schule verteilte sich im Laufe der Jahre über Berlin und darüber hinaus und trug die Idee weiter.

    Leuchtturmschulen und separate Bildungsgänge sind nur ein Anfang und stellen ein Übergangsstadium dar. Manche Früchte von heute sind die Keimlinge von morgen.

    Pinnwand

    »City-As-School« New York wurde 1972 gegründet und ist eine der ältesten alternativen öffentlichen Highschools in den Vereinigten Staaten.

    –Sie bietet als zentrale Lernform die Möglichkeit des Projektlernens in vielfältigen Einrichtungen und Betrieben der Metropole.

    Die Stadt-als-Schule Berlin wurde nach dem Vorbild der City-As-School NYC

    –1987 als Modellversuch der Jugendbildung eingerichtet

    –im Jahr 1992 als Schulversuch gegründet

    –mit dem Schuljahr 2001/2002 in eine Schule besonderer pädagogischer Prägung überführt und

    –mit der Schulstrukturreform 2010 sukzessive abgewickelt.

    mit dem Schuljahr 2001/2002 in eine Schule besonderer pädagogischer Prägung überführt und mit der Schulstrukturreform 2010 sukzessive abgewickelt.

    Stadt-als-Schule steht nach wie vor für einen innovativen Ansatz des personalisierten und situierten (individuell in sozialen Kontexten gestalteten) Lernens.

    Statt das Potenzial der Stadt-als-Schule für den Aufbau einer inklusiven Schule zu nutzen, wurde der Bildungsgang des methodisch gleichartigen Produktiven Lernens als eine besondere Form des Dualen Lernens separiert und in einer Rechtsverordnung festgeschrieben.

    Anmerkungen

    »Die Entwicklung des Produktiven Lernens begann in Berlin mit dem Pilotprojekt Die Stadt-als-Schule Berlin; hier wurden Ende der 1980er-Jahre die Grundlagen des Bildungsansatzes entwickelt und erprobt. Zum Schuljahr 1996/97 wurden in Kooperation mit dem Senat von Berlin die ersten fünf Schulversuche Produktiven Lernens an Berliner Schulen (PLEBS) eingerichtet« (Institut für Produktives Lernen in Europa 2012).

    Persönliche Notizen

    1.3 Der Übergang

    Ich hätte mich nie auf eine Schulleiterstelle beworben, für die es eine vom Kollegium favorisierte Hausbewerberin gibt. Aber so einfach ist das leider nicht immer. An der Reinhold-Burger-Schule, der Hauptschule in Berlin-Pankow, an der ich mich vorgestellt hatte, gab es eine Interessentin für die zu besetzende Schulleiterstelle. Und wie ich sehr viel später erfuhr, bewarben sich nach meiner Vorstellung im Kollegium weitere Lehrkräfte initiativ für diese Stelle. Die Schulaufsicht erklärte jedoch, dass die Stelle nicht für ein Bewerberverfahren ausgeschrieben, sondern aus dem Überhang besetzt werden würde. Das hieß konkret: Die Stelle konnte nicht durch Hausbewerberinnen besetzt werden, wohl aber durch mich, da ich ja im Überhang war. In Anbetracht der Kürze der Zeit konnte ich zwar einen Bezirk wählen, aber nicht die Schule. Mangels Alternativen und der zugesicherten Unterstützung durch die Schulaufsicht sagte ich zu und wechselte wenige Monate später, Anfang Februar 2010, an die Reinhold-Burger-Schule.

    In den Monaten vor meinem Wechsel gab es ein paar Kontakte zur Schule, aber keine wirkliche Geschäftsübergabe. Ich erinnere mich noch an ein Gespräch zum Jahresbericht des freien Trägers der Jugendsozialarbeit an der Reinhold-Burger-Schule. Auf dessen Wunsch war ich als künftiger Schulleiter ebenfalls eingeladen worden. Außerdem waren die beiden Sozialpädagoginnen, die zuständige Abteilungsleiterin des Kooperationspartners (Pfefferwerk Stadtkultur gGmbH 2021) sowie ein Vertreter des Jugendamts und die noch amtierende Schulleiterin beteiligt. Ich war irritiert über die distanzierte, geschäftsmäßig abhandelnde Gesprächsform, die unpersönlich wirkte. Das passte nicht zu meinem Bild von kooperierenden Partnerinnen und Partnern, die willkommen sind und wertgeschätzt werden. Deshalb fasste ich den ersten konkreten Entschluss für ein Entwicklungsvorhaben: Meinen Gästen an der Schule würde ich freundlich begegnen, mir Zeit nehmen und ihnen grundsätzlich ein Getränk anbieten.

    Die Schülerwerbung für das kommende Schuljahr lief, zu der Zeit noch ohne meine Beteiligung, auf vollen Touren. Nach meinem Einstieg im Februar würde die erste Anmeldephase für die Jahrgangsstufe 7 der neu einzurichtenden Integrierten Sekundarschulen beginnen. Es galt, gut 100 Schüleranmeldungen zu erreichen. Ich ging zum Tag der offenen Tür. Er war nicht gut besucht. Im Chemieraum saßen zwei Schülerinnen und die Chemielehrerin. Eine Schülerin führte nach Aufforderung der Lehrerin eine Glimmspanprobe durch (einfacher Nachweis für Sauerstoff). Als ich die Schülerin fragte, ob sie mir erklären könne, was sie gerade vorgeführt habe, verneinte sie das. Auf meinem Rundgang begegnete mir später auch die damalige stellvertretende Schulleiterin. Sie fragte mich, wie ich die Schule denn leiten wolle. Wie das konkret aussehen könnte, wusste ich noch nicht genau und antwortete ihr: »Wenn ich hier bin, wird sich schon durch meine Anwesenheit etwas verändern.« Ich sollte Recht behalten. Allerdings hatte ich keine Ahnung, was diese Veränderung für mich bedeuten würde.

    Die Sanierung des Hauptgebäudes der Schule war bereits im letzten Schuljahr abgeschlossen worden, ein weiteres großes Gebäude mit Werkstätten, die Sporthallen und der Schulhof hingegen waren seit Jahrzehnten nicht renoviert worden. Die Homepage der Schule war neugestaltet und ein Logo nebst dem Slogan »Fit ins Leben und in den Beruf« kreiert worden. Darüber hinaus nahm die Schule am Berliner »Landesprogramm für die gute gesunde Schule« (Senatsverwaltung für Bildung 2003) teil und betrachtete dies als zentrales schulisches Entwicklungsvorhaben im Rahmen der Schulstrukturreform. Ansonsten wollte das Kollegium den klassischen, meist lehrerzentrierten Fachunterricht und die eher autoritären pädagogischen Strukturen bewahren. Um im Bild zu bleiben: Es wurde noch ein wenig »renoviert«.

    Die regionale Schulaufsicht hatte klar gemacht: Schulen, die nicht mindestens für ein Viertel ihrer Schulplätze Anmeldungen erhalten, würden geschlossen werden. Ich hatte wirklich ein wenig die Hoffnung, dass die notwendige Schülerzahl nicht erreicht werden würde. Vielleicht

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