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Bildung auf Augenhöhe: Streitschrift für eine Erneuerung des Gymnasiums
Bildung auf Augenhöhe: Streitschrift für eine Erneuerung des Gymnasiums
Bildung auf Augenhöhe: Streitschrift für eine Erneuerung des Gymnasiums
eBook312 Seiten3 Stunden

Bildung auf Augenhöhe: Streitschrift für eine Erneuerung des Gymnasiums

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Über dieses E-Book

Die Rede von der 'Bulimie-Pädagogik' spiegelt Erfahrungen ganzer Schülergenerationen wider: Stoff auswendig lernen um ihn bei der Prüfung wieder herauszuwürgen. So betreiben Gymnasien ihr Geschäft bis heute. Aber Bildung ist etwas anderes und geht auch anders. Christoph Schmitt zeigt auf, warum sich diese Unkultur so hartnäckig hält und welche Lösungen es dafür gibt.
SpracheDeutsch
Herausgeberhep verlag
Erscheinungsdatum1. Jan. 2013
ISBN9783039059614
Bildung auf Augenhöhe: Streitschrift für eine Erneuerung des Gymnasiums

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    Buchvorschau

    Bildung auf Augenhöhe - Christoph Schmitt

    Inhalt

    Vorwort, oder Worum es in ­diesem Buch geht

    Kapitel 1: Von der Bulimie zum ­Lernen – Eine Annäherung

    Das Gymnasium: Lehren statt Lernen

    Quantität vor Qualität, oder Nur viel Wissen ist gutes Wissen

    Die Umkehr der Vorzeichen: Vom Lehren zum Lernen

    Kapitel 2: Der blinde Fleck der gymnasialen Bildung

    Ein Blick in den gymnasialen Alltag

    Viel lernen ist nicht das Problem, sondern blindes Lernen

    Über die Bedeutung der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden

    Die Reziprozität der Beziehung als Schlüssel gelingender Lernprozesse

    Die Angst der Schule und ihrer Lehrer vor Bewertung

    Warum der Mensch hinter dem Schüler in der Schule eigentlich gar nicht vorkommt

    Kapitel 3: Lernen und Bildung und Wissen. Versuch einer Verhältnisbestimmung

    Wie Bildung und Lernen zusammengehören

    Bildung als eine ausgezeichnete Form des Lernens

    Bildung und Sozialisation: eine fatale Verwechslung

    Die Mär von der Wissensvermittlung

    Gut informiert ist nicht dasselbe wie gut gebildet

    Die Lernenden als Menschen sichtbar machen und wahrnehmen

    Kapitel 4: Erste Alternative: Aufmerksamkeit, oder Bedeutung ist der Anfang von allem

    Störungen erfordern unsere Aufmerksamkeit

    Was Bedeutung hat, hat meine Aufmerksamkeit

    Aufmerksamkeit ist nur »im Fluss«

    Aufmerksamkeit schaffen durch authentische Begegnungen

    Lernende scheitern nicht am Stoff, sondern am Unterricht

    Wie Aufmerksamkeit und Bedeutung im Unterricht konkret werden

    Kapitel 5: Zweite Alternative: Das Verstehen als Ziel aller Bildung

    Hast du verstanden? Annäherung an das Phänomen des Verstehens

    Der Zusammenhang von Bildung und Verstehen

    Kapitel 6: Dritte Alternative: Gesprächskultur auf Augenhöhe als Königsweg gymnasialer Bildung

    Der Mensch: pausenlos ins Gespräch verwickelt

    Das Gespräch als die Erfindung von Wirklichkeit und als Weg, mich selbst zu verstehen

    Die gymnasiale Gesprächskultur: Macht zwischen allen Zeilen

    Das Gymnasium kommt ins Gespräch – Vorschläge für die Bildung einer gymnasialen Gesprächskultur

    Kapitel 7: Erster Ausblick: Identität und Geschichte als Referenzpunkte gymnasialer Bildung

    Was Identitätsbildung für junge Menschen heute bedeutet und von ihnen fordert

    Eine Identität haben bedeutet, eine eigene Geschichte erfinden zu können

    Erzählte Geschichte verbrieft Identität, oder Wir müssen nicht zuerst »etwas wissen«, um jemand zu sein, wir müssen zuerst jemand werden, um etwas wissen zu können

    Kapitel 8: Zweiter Ausblick: Veränderungen wahr­nehmen und gestalten

    Veränderungen sind vorbei, wenn ich sie erkenne

    Veränderungen kann ich beeinflussen, aber nicht bestimmen

    Welchen Einfluss haben Lehrende auf das Lernen der Lernenden?

    Vorschläge für eine Lernpraxis, die für Veränderungen sensibel wird

    Literatur

    Vorwort, oder Worum es in ­diesem Buch geht

    »Ihr sagt, ihr wollt alle nur unser Bestes. Aber ihr bekommt es nicht.«

    Konstantin Wecker

    Seit einiger Zeit macht eine neue Wortschöpfung die Runde: Bulimiepädagogik. Auf sarkastische Weise bringt der Begriff zum Ausdruck, was viele Lernende an höheren Schulen und Hochschulen als Normalfall erleben: das Auswendiglernen von Stoff – um ihn bei der Prüfung wieder herauszuwürgen. Der Gewinn: im besten Fall eine gute Note. Unzählige Studien beklagen diesen Umstand und eigentlich ist er ein offenes Geheimnis. Es gäbe eine Menge erprobter und nachhaltiger Alternativen, die finden aber nur sehr selten den Weg ins Gymnasium. Hier werden noch immer mehrheitlich direktiv-mechanistische Formen der »Wissensvermittlung« praktiziert; die Beziehung von Bildung und Sozialisation bleibt ein Tabu, ebenso die Reziprozität im Bewerten und Beurteilen. Auch hält sich der Irrglaube hart­näckig, dass alles, was mit Lernen zu tun hat, »quantifiziert« werden kann. Der Unterricht am Gymnasium ist und bleibt vertaktet, Lehrerinnen und Lehrer bleiben im Normalfall die Einzelkämpfer, die sie immer waren, und die Fächer beharren auf ihrer Autonomie statt sich grundsätzlich für Kooperationen zu öffnen.

    Der erste Teil des vorliegenden Buchs ist eine offene, aber nicht schonungslose Analyse dieser Altlasten. Die Tatsache, dass am Gymnasium dem Lehren nach wie vor viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als dem Lernen, hat fatale Konsequenzen. Ich zeige auf, welche das sind und erkläre, weshalb lebendiges und nachhaltiges Lernen eine ebensolche Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden voraussetzt. Außerdem wende ich mich in diesem Teil des Buches der tiefsitzenden Angst der Lehrpersonen vor der Beurteilung ihrer Arbeit zu. Es kommen Schülerinnen und Schüler zu Wort, die ihre Erfahrungen zur Verfügung stellen.

    Im zweiten Teil stelle ich erprobte Alternativen für eine neue gymnasiale Lernkultur vor. Gymnasien können eine »Kultur der Aufmerksamkeit« entwickeln, in der Lernende fähig werden, sich selbst zu bilden. Ich untersuche das Phänomen des Verstehens und zeige auf, unter welchen Bedingungen sich Schülerinnen und Schüler auf das beschriebene »Wagnis des Verstehens« einlassen. Im Anschluss skizziere ich eine neue Form der Gesprächskultur, welche ganzheitliche und nachhaltige Bildungsprozesse in Gang bringen kann.

    Ich möchte mit dieser »Streitschrift« der Diskussion um ein überholtes Bildungsmodell neue Schubkraft verleihen und alternative Wege aufzeigen. »Bildung auf Augenhöhe« versteht sich als ein Plädoyer für eine Kultur der Achtsamkeit. Junge Menschen können lernen, ihre eigene Geschichte zu erzählen und wieder zu erzählen. Im Erzählen finden und erkennen Sie neue Formen des Menschseins, die im postmodernen Grundrauschen der Beliebigkeit Akzente des Humanen setzen.

    Entstanden ist dieses Buch vor allem auf dem Hintergrund meiner Erfahrungen als Gymnasiallehrer. Unterstützt und herausgefordert wurde ich dabei von den Schülerinnen und Schülern. Zahlreiche eindrückliche Begegnungen mit jungen Menschen lehrten mich außerordentlich viel über deren Lernen – und über mich selbst, über meinen Beruf. Wichtig waren auch meine eigene Reflexionsarbeit in Supervision und Coaching sowie der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich seit vielen Jahren erfolgreich und fruchtbar zusammenarbeite.

    Besonders herausfordernd und eigentlicher Anlass für dieses Buch waren und sind aber die unzähligen Widersprüche und Diskrepanzen innerhalb des gymnasialen Systems, die sich meines Erachtens allesamt auf einen Grundwiderspruch zurückführen lassen: Auf der einen Seite hat uns die Forschung der vergangenen Jahrzehnte bahnbrechende Einsichten in das Wesen des menschlichen Lernens gebracht. Systemisch-konstruktivistische Zugänge zu Bildung, Lernen und Lernsystemen erlauben uns heute faszinierende Erkenntnisse und Schlussfolgerungen für die Gestaltung schulischer Lern- und Bildungsprozesse. Dem steht auf der anderen Seite eine nicht nachlassende Hartnäckigkeit gegenüber, mit der sich das Gymnasium als Bildungssystem solchen Erkenntnissen und den damit verbundenen Chancen verschließt. Mehr noch: Die Qualität und die Nachhaltigkeit gymnasialen Bildungshandelns sind nach wie vor mehrheitlich dem Zufall überlassen, weil sich das System selbst konsequent und erfolgreich gegen den Einsatz alternativer Kriterien wehrt. Die Beharrlichkeit, mit der diese trotzige Resistenz aufrechterhalten wird, hat mich stutzig gemacht. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, den Unterricht einmal genauer in den Blick zu nehmen. Ausgerechnet das schulische Kerngeschäft bleibt dem öffentlichen Auge normalerweise verborgen – außer an Elternbesuchstagen und bei Hospitationen, und bei diesen Gelegenheiten wird ja bekanntlich ein wenig festlicher aufgetischt.

    Mein eigenes Unterrichtskonzept setzt auf die systemisch-konstruktivistische Pädagogik und ist projektorientiert angelegt (vgl. hierzu die entsprechenden Autorinnen und Autoren im Literaturverzeichnis). So ein Konzept lebt von der regelmäßigen und konsequenten Reflexion – gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern. Deshalb lade ich die Lernenden mindestens einmal im Schuljahr dazu ein, über die Qualität ihrer Lernprozesse zu reflektieren. Die Methoden dazu entleihe ich der qualitativen Sozialforschung und passe sie von Jahr zu Jahr an. Die Jugendlichen lassen sich je länger, desto ernsthafter darauf ein, weil sie spüren, dass ihre Meinung tatsächlich zählt und positive Folgen hat. Sie können einerseits erkennen, dass ihre Rückmeldungen Anlass für die Reflexion und Gestaltung meiner Arbeit als Lehrer sind und sie mit ihrem Feedback deshalb auch ihren Nachfolgerinnen und Nachfolgern etwas zugutetun können. Außerdem finden sie sich in einer aktiven Rolle wieder, wenn es um die Planung und Umsetzung ihrer Lern- und Bildungsprozesse geht. Ich lade die Jugendlichen ein, über das zu berichten, was sie im Unterricht erleben, genießen und vermissen, was sie herausfordert und beklemmt, was sie weiterbringt und was sie blockiert. Daraus ist über die Jahre ein Dialog entstanden, der über Fächer und Jahrgänge hinausgeht und der so manchen Kollegen und so manche Kollegin neugierig gemacht hat. Sie möchten wissen, was uns die Lernenden über eine gute Schule zu erzählen haben.

    Dieses Buch wurde auch durch Auseinandersetzung mit innovativen Ansätzen des Lernens möglich, mit denen ich mich als Lehrbeauftragter für die fachdidaktischen Studien an der Universität Luzern und als ausgebildeter Coach/Supervisor beschäftige – sei es in Form von Theorien oder in Form zahlloser spannender und kreativer Gespräche mit Studierenden, Klientinnen und Klienten, Kolleginnen und Kollegen.

    Mein besonderer Dank gilt jenen, die sich die Mühe gemacht haben, das Manuskript dieses Buches im Vorfeld kritisch zu lesen und zu hinterfragen. Dabei denke ich vor allem an Heidi Pfäffli, Roman Ambühl und Jürg Bläuer. Besonders herzlich bedanke ich mich bei Noah Arnold¹, der durch sein intensives Mitlesen und Einmischen die Perspektive eines Maturanden (Abiturienten) eingebracht hat. Die daraus entstandenen Diskussionen hatten einen überaus klärenden Einfluss auf das nun vorliegende Buch. Nicht zuletzt ist es mir ein Bedürfnis, dem hep verlag und seinem Verleger Peter Egger zu danken für den Mut, dieses heiße Eisen anzufassen.

    1 Noah Arnold hat eine beeindruckende und prämierte Maturaarbeit über Altersdemenz verfasst mit dem Titel »Der rote Faden. Im Leben nicht verloren gehen«. Sie wurde 2012 im db-Verlag Horw/Luzern publiziert.

    Kapitel 1:

    Von der Bulimie zum ­Lernen – Eine Annäherung

    Wer sich an der Volkshochschule für einen Kurs »Einführung in den Buddhismus« anmeldet, erwartet – unter Umständen zu Recht – gut aufbereitetes Wissen über diese Religion vermittelt zu bekommen. Wenn am Gymnasium das Thema »Buddhismus« dran ist, geht es aber in erster Linie um etwas anderes. Hier haben Lehrpersonen nicht einfach die Aufgabe, ihre Schülerinnen und Schüler über den Buddhismus zu informieren oder sie in diese Religion einzuführen. Es ist auch nicht die Aufgabe einer Gymnasiallehrperson, ihren Schülerinnen und Schülern Mathematik beizubringen, sie physikalische und andere Gesetze auswendig lernen zu lassen oder sie auf das einzuschwören, was Goethe nun tatsächlich sagen wollte, als er dieses oder jenes Gedicht schrieb. Gymnasiale Bildung muss vielmehr darauf abzielen, dass die Schülerinnen und Schüler jene Kompetenzen entwickeln, durch die sie sich Themenwelten und andere Kulturgüter selbst erschließen können. Mit zunehmender Selbstständigkeit und Nachhaltigkeit sollen sie an Selbst- und Weltverfügung gewinnen, ihre Selbst- und Sozialkompetenzen entwickeln, kurz: sich bilden². Das Ziel gymnasialer Bildung ist, dass Schülerinnen und Schüler fähig werden zu lernen, und zwar nicht »etwas« – sondern das Lernen selbst. Diese Formulierung ist weit davon entfernt, einem »Stricken ohne Wolle« das Wort zu reden, sprich den Unterrichtsstoff an den Rand oder sogar über ihn hinaus zu drängen. Der Lernbegriff, den ich in diesem Buch entfalte, geht allerdings mit Lerninhalten und Unterrichtsstoffen komplett anders um und weist ihnen einen völlig anderen Platz in der Bildungsbiografie eines jungen Menschen zu. In meinem Verständnis von Lernen ist das Ziel jeder schulischen Auseinandersetzung mit Wissensinhalten deren De- und Rekonstruktion und nicht länger deren unhinterfragtes und unverstandenes Aneignen und Wiedergeben (vgl. hierzu äußerst erhellend Reich 2010, 118-145). »Lernen« ist der rote Faden, der sich durch das Leben eines Menschen zieht, und das Gymnasium hätte die Aufgabe, diesen Prozess so zu organisieren und zu gestalten, dass Schülerinnen und Schüler eine lebendige und dynamische Beziehung zu diesem menschlichen Grundphänomen entwickeln. In Wirklichkeit halten gymnasiale Überzeugungen und Praktiken des Unterrichtens junge Menschen nach wie vor davon ab, lebendige und nachhaltige, selbst gesteuerte Formen des Lernens zu entwickeln. Gymnasien sind noch immer Weltmeister, wenn es darum geht, jungen Menschen das Lernen zu vermiesen. Warum und auf welche Weise dies bis heute geschieht und wie die Alternativen aussehen könnten, darum geht es in diesem Buch.

    Im Gymnasium bilden sich während vieler Jahre die persönlichen Vorstellungen junger Menschen über das heraus, was Lernen ist. Sie entwickeln in diesen Jahren Einstellungen zum Phänomen des Lernens, die sie ein Leben lang begleiten werden und die ihre Beziehung zum Lernen prägen. Und weil man ihnen das, was sie im Gymnasium täglich tun, als »Lernen« verkauft, glauben sie irgendwann auch, dass das, was sie da tun, »Lernen« sei. Wenn dann alternative Formen des Lernens ins Spiel kommen, irritiert das zuerst einmal, wie die folgenden Rückmeldungen aus einer siebten Klassenstufe verdeutlichen:

    »Ich habe in diesem Fach vor allem gelernt, dass man die guten Noten nicht nur mit Lernen macht, sondern man muss das Thema auch wirklich verstehen und logisches Denken anwenden.«

    »Die Prüfungen waren wirklich schwierig, vor allem weil ich vorher immer nur Prüfungen hatte mit Auswendiglernen. Wir mussten nie denken. Das war sehr anders, aber nicht unmöglich. Ich habe gelernt, alles zu verstehen und dass Auswendiglernen nicht viel nützt in diesem Fach.«

    »Ich habe gelernt, dass Wissen nicht nur durch Aufpassen in der Schule kommt, sondern auch vom Lernen, Verstehen und von Organisation. Am Anfang konnte ich nicht gut mit den Prüfungen umgehen, aber dann habe ich verstanden, dass man bei diesen Prüfungen viel verstehen muss.«

    Hier liegt ein Hund begraben. Für viele Gymnasiastinnen und Gymnasiasten bedeutet »lernen« auswendig lernen, es bedeutet überwiegend bulimieartiges Einwerfen und unverdautes Ausspucken von Informationen. Von den Wissensinhalten, die in den Lehrplänen festgehalten sind und im Unterricht vermittelt werden sollen, bleibt nach Jahren, ja meist schon nach ein paar Monaten oder Tagen so gut wie nichts mehr übrig – jedenfalls kein annähernd kohärentes Wissen. »Lange vor der Schwelle zum kognitiven und lebenspraktischen Transfer versagt die Schule bei der Herstellung von Nachhaltigkeit. Und deswegen kann natürlich auch von Kumulation und Ganzheitlichkeit nicht die Rede sein. […] Das nachhaltige Wissensresiduum beträgt im Durchschnitt höchstens 1 Prozent des von den Lehrplänen intendierten Lehrstoffes« (Städtler 2010, S. 37). Für die Schüler reicht es deshalb völlig aus, so Thomas Städtler, »dass das Wissen kurzfristig reproduziert wird, wobei für die [höchste, d. Verf.] Note 1 meist großes, ja bisweilen absurd hohes Faktenwissen und operationales Können nötig sind, danach aber kann man es sofort wieder vergessen. Ja, man tut als Schüler sogar gut daran, ansonsten müsste einem angesichts der Stoffmassen der Lehrpläne mit der Zeit geradezu schwindlig werden!« (a. a. O., S. 39). Und der Autor resümiert: »So gut wie das gesamte schulische Lernen ist Bulimie-Lernen. Nach den Prüfungen wird das meiste sofort vergessen. Das nachhaltige Wissensresiduum ist minimal. […] Jedoch verbleibt auch keine Essenz, im Gegenteil: Gerade das Elementare und Fundamentale geht verloren in einer Überfülle von Faktenwissen. Es verbleiben nur Wissensfetzen, mit denen man manchmal Eindruck schinden und manche täuschen kann, die aber bei ganz direkten Fragen, gemäß dem Minimax-Prinzip, sofort in ihrem Elend erkennbar werden« (ebd.).

    Von dieser Erfahrung berichten mir Gymnasialschülerinnen und Gymnasialschüler häufig. Ein Schüler der Klassenstufe 11 beschreibt sie in seinem Feedback am Ende des Semesters so:

    Die herkömmlichen Unterrichtsmethoden führten dazu, »dass man fast einschläft, während die Lehrperson vorne ›vorgekautes Wissen ausspuckt‹, welches wir dann für die Prüfung auswendig lernen müssen/dürfen/sollen. Für mich ist bei einem solchen Lernprozess der Lernerfolg sehr gering, da man dann nach dem ›Rauskotzen‹ (Prüfung) sowieso wieder alles vergisst.«

    Dabei melden bereits Jugendliche der jüngeren Jahrgangsstufen eindeutig zurück, was sie beim lebendigen Lernen unterstützt und was nicht:

    »Was mir wirklich hilft beim Lernen im Unterricht ist, dass es nicht ums Auswendigüben geht, sondern um das Verstehen.« (Klassenstufe 7)

    »Was ich besonders gut fand, war, dass wir hier nicht Sachen zum Auswendiglernen gehabt haben, sondern zum Verstehen.« (Klassenstufe 8)

    »Die Tests gehen nicht darum, alles auswendig zu lernen, sondern auch vom Material was man hat, zu reflektieren! Das war neu für mich, und ich fand es auch gut so.« (Klassenstufe 8)

    Der Philosoph Peter Sloterdijk bringt die Erfahrung vieler Gymnasialschülerinnen und -schüler in einem Interview so auf den Punkt: »Die Schule ist ein Herd der Langeweile und wird von Berufslangweilern betrieben, die die kindliche Intelligenz verleimen, verkleben und beleidigen. Viele erholen sich nie davon.« Die Schlussfolgerung, die er daraus zieht, lautet: »Wir müssen mit dem schädlichsten aller alteuropäischen Konzepte brechen: mit der Vorstellung der Übertragung von Wissen. Diese Vorstellung des Einflößens ist systemtheoretisch falsch, sie ist moralisch falsch« (Sloterdijk 2001).

    Und in einem Interview mit Reinhard Kahl stellt der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Edelstein eine entsprechende Hypothese dazu auf: »Lehrende« haben kaum professionelles, reflexives Wissen, nicht mal gute Hypothesen darüber, was Lernen für die Lernenden bedeutet. Folglich präsentieren sie ständig Fakten, statt Schülern das Lernen beizubringen. Bei allem, was wir heute über die Bildungslandschaft zwischen Pisa und Erfurt diskutieren, wird das größte Problem vorsichtig und scheu ausgespart. Das sind die Lehrer. Wir haben keine professionellen Lehrer. Sie sind über Fachwissen Professionalisierte, nicht über Professionswissen. Und genau das ist falsch. Natürlich sollen Lehrer in ihren Fächern kompetent sein. Es ist aber irrelevant, ob sie gute Physiker oder Historiker im universitären Sinne sind. Sie müssten hervorragende Physiker, Historiker oder Philologen sein im Blick auf diese Mediationstätigkeit, im Blick auf die Ermöglichung von Lernen. Sie können als Fachleute des Fachwissens nichts zu dessen Mehrung beitragen. Aber sie können das Wissen darüber vermehren, wie Lernen verläuft. Ihre diagnostische Inkompetenz ist freilich unglaublich« (Edelstein/Kahl 2003, S. 26).

    Das Gymnasium: Lehren statt Lernen

    Warum tut sich das Gymnasium schwer mit der Förderung eines eigenständigen und selbstständigen Lernens? Glaubt man den pointierten Stellungnahmen von Städtler, Sloterdijk, Edelstein und manch anderem, dann sind das Gymnasium und sein Lehrpersonal vor allem nicht in der Lage, Bildungsprozesse aus der Perspektive des Lernens zu betrachten. Das Lernen wird im Gymnasium vom Lehren aus in den Blick genommen. Unterricht »vermittelt« den Lernenden lediglich »etwas«, was sie dann »zu wissen« haben. Was dabei in den Lernenden vorgeht, das wird in der gymnasialen Praxis anscheinend selten bis nie reflektiert. Das Lernen von Individuen und Klassen ist so gut wie nie ein Thema in der Organisation eines Gymnasiums. Warum auch, schließlich findet das Lernen ja, genau besehen, gar nicht in der Schule statt. »Gelernt« wird aus gymnasialer Sicht vor allem beim Erledigen von Hausaufgaben und bei der Vorbereitung auf Prüfungen, also außerhalb der Schule. Innerhalb wird gelehrt. So der Alltag. Ich plädiere mit meinen Überlegungen für einen Blickwechsel, zu dem mich die Rückmeldungen der Schülerinnen und Schüler in den letzten sieben Jahren bewegt haben:

    »Sie nehmen mit ihrer Unterrichtsform stärker Bezug auf das eigenständige Arbeiten der Schüler. Das finde ich natürlich gut, muss aber sagen, dass diese Unterrichtsart an dieser Schule, als einziger Lehrer, leider nicht umsetzbar ist. Zu stark befinden wir uns in der gewöhnlichen Unterrichtsform.« (Klassenstufe 12)

    »Für mich war es anfangs schwierig, mich an den neuen Unterrichtsstil zu gewöhnen. In den meisten anderen Fächern diskutiert man relativ selten, und auch die Selbstständigkeit wird wenig gefördert, was bei ihnen ganz anders war.« (Klassenstufe 12)

    »Weil die ganze Klasse den Unterricht gestaltete, war es sehr abwechslungsreich. Durch diese Vielfalt konnte ich sehr viel schon im Moment lernen und aufnehmen.« (Klassenstufe 9)

    »Ich habe gelernt, dass ich sehr gut in der Gruppe lernen kann. Ich fand es sehr gut, sich in der Gruppe auszutauschen. Auch die Ideen für eine Präsentation herauszuarbeiten. […] Auch habe ich gelernt, dass ich nicht jeder Internetquelle vertrauen soll, weil ich manchmal differenzierte Aussagen gefunden habe. Und dass ich vor allem nicht Wikipedia vertrauen soll. Das habe ich daran gemerkt, dass ich zuerst Wikipedia gelesen habe, was wahrscheinlich jeder machen würde, und dass ich dann den Artikel zum Thema las, und ich es einfach nicht kapierte, weil immer drum rum geredet wurde. Dann habe ich aber auf mehreren Seiten Übereinstimmendes gefunden, sodass ich mir sicher war, dass es stimmt, was ich dann vortrage. […] Ich fand diese Präsentationen [gemeint sind Unterrichtslektionen, die von Schülerinnen und Schülern in eigener Verantwortung vorbereitet und durchgeführt werden, d. Verf.] sehr gut, denn ich finde es manchmal etwas schwer, wenn ein Lehrer etwas sagt und denkt, dass alle es sofort verstehen. Dadurch, dass wir, also die Schüler, den Lehrer spielten, war es einfacher, es zu verstehen, denn ich denke, dass die Schüler auch das präsentieren, was sie wissen, und Schüler erklären es auch so, dass die Lernenden die Sachen auch leicht verstehen können. Deshalb finde ich diese Methode sehr gut.« (Klassenstufe 9)

    »Insgesamt finde ich, dass diese ›Lernform‹, die wir mit diesem Projekt angewendet haben, extrem hilft, das wirklich Relevante an der ganzen Lernerei herauszufiltern und man auch alleine Stärken entwickeln kann.« (Klassenstufe 9)

    »Ich habe gemerkt, dass es von der Idee zur Umsetzung ein sehr langer und schwerer Weg ist, welchen man ohne eine gute Planung und exakte Ausführung nicht erfolgreich meistern kann.« (Klassenstufe 9)

    »Es war allgemein sehr interessant, es wurde auch immer so vermittelt, dass man zuerst selbst nachdenken muss, um überhaupt an die ›wirklichen‹ Infos heranzukommen. So habe ich es eigentlich auch verstanden. […] Ich habe mich auch selbst irgendwie besser kennengelernt. […] Dieses Fach bzw. diese Lektionen sind so gemacht, dass man nur durch eigenständiges Nachdenken zu zum Beispiel Lösungen kommt. Indem man alles nur über eigenständiges

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