Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Grenz-Erfahrungen: Schmuggel und Flüchtlingsbewegungen im Fextal und Bergell 1930-1948
Grenz-Erfahrungen: Schmuggel und Flüchtlingsbewegungen im Fextal und Bergell 1930-1948
Grenz-Erfahrungen: Schmuggel und Flüchtlingsbewegungen im Fextal und Bergell 1930-1948
eBook995 Seiten9 Stunden

Grenz-Erfahrungen: Schmuggel und Flüchtlingsbewegungen im Fextal und Bergell 1930-1948

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Grenzen können je nach Perspektive und Kontext unterschiedlich gedeutet und erfahren werden. Das gilt auch für die Grenzregion zwischen den Südbündner Tälern Fex und Bergell und den italienischen Nachbartälern der Provinz Sondrio. Sie wurde in den 1930er- und 1940er-Jahren nicht nur zum Schauplatz intensiven Warenschmuggels; hier entschied sich auch das Schicksal zahlreicher Flüchtender, die dem faschistischen Terror zu entkommen suchten. Unter Einbezug von Zeitzeugenberichten und bisher unbekannten Grenzwachtdokumenten beleuchten die Autoren eindrücklich die Ambivalenzen, die Grenzen innewohnen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum14. Juni 2024
ISBN9783039196913
Grenz-Erfahrungen: Schmuggel und Flüchtlingsbewegungen im Fextal und Bergell 1930-1948

Ähnlich wie Grenz-Erfahrungen

Ähnliche E-Books

Geschichte für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Grenz-Erfahrungen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Grenz-Erfahrungen - Mirella Carbone

    DIE GRENZTÄLER FEXTAL UND BERGELL

    Zuerst sollen im Folgenden die beiden Schauplätze dieser Forschungsarbeit vorgestellt werden, die zwar räumlich sehr nah beieinander liegen, aber sowohl auf geomorphologischer Ebene als auch in ihrer historisch-kulturellen Entwicklung wesentliche Unterschiede ausweisen. Was sie verbindet, ist die Tatsache, dass in beiden Regionen der Schmuggel im untersuchten Zeitraum eine ähnlich grosse ökonomische wie soziokulturelle Bedeutung gehabt hat und selbst heute noch stark im Bewusstsein der einheimischen Bevölkerung verankert ist.

    Das Fextal

    Geografie und Grenzbeschreibung

    Das Fextal¹ ist ein Seitental auf der Südseite des Oberengadins. Die Trogform verrät, dass es vom Gletscher modelliert wurde. Das Tal erstreckt sich über zehn Kilometer von Südosten nach Nordwesten. Der teilweise vereiste Bergkamm am Talabschluss trennt den Kanton Graubünden vom Veltlin und bildet so eine Landesgrenze. Der Grenzverlauf ist weder durch Grenzsteine noch durch sonstige Markierungen gekennzeichnet.² Er fällt mit der Wasserscheide zusammen, hält sich fast immer auf einer Höhe von 3000 m ü. M. oder sogar weit darüber und verbindet von Osten nach Westen den Piz da la Fuorcla (3398 m ü. M.), die Fuorcla Fex-Scerscen (3085 m ü. M.), den Piz Tremoggia (3441 m ü. M.), den Tremoggiapass (3014 m ü. M.), die Fuorcla dal Chapütsch (2930 m ü. M.) und den Piz Fora (3363 m ü. M.). Auf italienischer Seite ist der Abstieg von den Grenzübergängen ins Valmalenco sehr steil. Wenn man ausserdem bedenkt, dass die heute stark geschmolzenen Gletscher Tremoggia und Fex auf Schweizer sowie Scerscen auf italienischer Seite zur Zeit der vorliegenden Untersuchung noch eine beträchtliche Ausdehnung hatten, dann würde man den Schluss ziehen, dass dieses Grenzgebiet damals kaum begangen wurde. Dass dem ganz und gar nicht so war, wird im weiteren Verlauf des Textes ausgeführt.

    Vom Norden nach Süden zählt das Fextal die Kleinsiedlungen Vaüglia (1910 m ü. M.), Platta, Crasta (1951 m ü. M.), Vals und Curtins (1973 m ü. M.). Hinter Curtins befinden sich der Hof Chalchais, wo zwischen 1935 und 1949 der Grenzwachtposten untergebracht war, und das Hotel Fex. Der Hügelzug des God Laret (Laretwald) riegelt das Fextal gegen die Silser Ebene ab. Die Fedacla fliesst durch das Tal und erreicht durch die Schlucht von Drög Sils Maria. Quer zum Oberengadin liegend, ist das Fextal geschützter als die 100 Meter tiefer gelegene Hochebene und hat dadurch ein milderes Klima.

    Historisches und Wirtschaftliches

    Diese klimatisch vorteilhafte Lage hat schon im Mittelalter dazu geführt, dass nicht nur die Bewohnerinnen und Bewohner von Sils, sondern vor allem jene des nahe gelegenen Bergells, das tief eingeschnitten ist und wenig Weidefläche bietet, zur Sömmerung des Viehs ins Fextal kamen. Mit der Zeit liessen sich einige Bergeller Familien dort nieder, wobei Aussagen über den Zeitpunkt der ersten Besiedlung aufgrund der fehlenden schriftlichen Quellen schwierig sind. Erstmals taucht der Name des Tals in einer bischöflichen Urkunde von 1303 auf. Darin ist von der «valle dicta Fedes» die Rede. Die Bezeichnung «Fedes» als Name des Tales hat dann im Laufe der Jahrhunderte noch einige Veränderungen erfahren – «Feitz» und «Feet» sind unter anderem dokumentiert –, bis etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts die heutige Namensform Fex entstanden ist. Der etymologische Kern ist dabei immer der gleiche: Er deutet, wie übrigens auch der Name des Nachbartals Fedoz, die anfängliche Dominanz des Schafs in der Viehhaltung an. Das eigentliche lateinisches Wort für Schaf ist zwar «ovis», aber im Dialekt der damaligen Bergeller Siedlerinnen und Siedler des Fextals heisst das Schaf «feda» (aus dem lateinischen «feta», das «Tier, das geworfen hat»). Das bedeutet aber nicht, dass im Fextal nur Schafe geweidet wurden, denn bereits in einer Verkaufsurkunde von 1381 werden ausdrücklich Kuhrechte erwähnt. Zu diesem Zeitpunkt bildeten die Einwohnerinnen und Einwohner vom Fex eine eigene Nachbarschaft und besassen gegenüber den anderen Nachbarschaften der heutigen Gemeinde Sils, Grevas Alvas, Baselgia und Maria, weitgehende Selbstständigkeit. Das beweist unter anderem die Tatsache, dass die Fexer Bevölkerung um 1500 den Bau einer eigenen Kirche im Weiler Crasta beschloss, obwohl nur wenige Jahre zuvor in Sils Maria die Kirche St. Michael erbaut worden war. Geschlossen allerdings traten die vier Nachbarschaften der Gemeinde Sils 1552 zum neuen Glauben über.

    In seiner «Rætiæ Alpestris topographica descriptio» von 1573 berichtete Ulrich Campell von «wohlhabenden Siedlern in etwa dreissig Haushaltungen» im Fextal und lobte die dortigen «sehr ergiebigen Heuwiesen und für das Vieh üppigen Weiden».³ Die Viehwirtschaft blieb bis weit ins 20. Jahrhundert hinein der «lebenswichtigste Erwerb» der Fexer, wie noch in der «Postenorientierung» des Grenzwachtpostens Fex von 1957 gesagt wird. Dort steht aber auch: «Daneben ist die Fremdenindustrie eine wichtige Einnahmenquelle. Sils und das Fextal werden hauptsächlich im Sommer von den Fremden bevorzugt.»⁴

    Das Fextal.

    Grenzverlauf Fextal – Valmalenco.

    Sils Maria mit Fextal, 1930er-Jahre.

    Heuernte im Fextal, 1930er-Jahre.

    Die «Fremdenindustrie» entwickelte sich in Sils ab den 1860er-Jahren, was nicht zuletzt dem berühmten Forstingenieur, Kartografen und Erstbesteiger des Piz Bernina (1850), Johann Fortunat Coaz (1822–1918), zu verdanken ist. 1851 veröffentlichte er eine erste ausführliche Beschreibung des bis dahin «den meisten […] nicht einmal dem Namen nach bekannte[n]» Fextals und seiner Schönheit. Er rühmte darin vor allem den blendend weissen Gleschter, der einem schon von Sils Baselgia entgegenleuchte, als einen der schönsten Bündens. Schon bald darauf fand das Fextal auch Eingang in Baedekers Reiseführer «Die Schweiz». In den 1870er-Jahren wurden im Tal die ersten Sommerrestaurants für die Ausflugsgäste aus St. Moritz und Sils eröffnet, einige stellten für Bergsteiger auch Betten zur Verfügung. Das Hotel Fex, das älteste im Tal, wurde um 1903 eröffnet, es folgte 1908 das Hotel Zur goldenen Sonne (heute «Sonne»).

    In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allerdings bremsten massive Erschütterungen die touristische Entwicklung auch im Fextal: der Erste Weltkrieg, gefolgt von der Spanischen Grippe, dann die Weltwirtschaftskrise ab 1929 und schliesslich der Zweite Weltkrieg. Gerade während dieser kritischen Phasen erstarkte, wie weiter unten ausgeführt wird, der Schmuggelverkehr im Tal, der dann gegen Ende der 1940er-Jahre immer mehr abnahm. Die touristische Wintersaison etablierte sich im Fextal, wie auch in Sils, erst ab den 1950er-Jahren.

    Als zusätzliche Erwerbsmöglichkeit ist noch der Steinbruch «Cheva plattas da Fex»⁵ zuhinterst im Tal, oberhalb der Alp da Segl, zu erwähnen, in dem bis in die 1960er-Jahre hinein Platten aus Gneis (mineralhaltiger Glimmerschiefer) gewonnen wurden. Da dieser Steinbruch als Umschlagplatz für Schmuggelware sowie als Raststation auf den strapaziösen Schmuggelrouten zwischen Valmalenco und Fextal eine nicht unbedeutende Rolle spielt – Genaueres dazu im nächsten Kapitel –, sei hier dessen Geschichte kurz erzählt: Das Besondere an den Fexer Gneisplatten besteht darin, dass sie sich nur bei Minustemperaturen sehr fein (bis 15 mm) spalten lassen. Aufgrund der Gewichtseinsparung sind solche Platten ideal, um Dächer einzudecken. Ein früher Abbau im Gebiet der «Gianda» (Romanisch für «Geröllhalde») ist bereits für die Mitte des 19. Jahrhunderts belegt. Allerdings war es Gaudenzio Cabelli, ein nach Sils eingewanderter Dachdecker von Chiesa in Valmalenco, der 1909 zusammen mit zwei Landsleuten den Betrieb der Plattenproduktion im Fextal professionell organisierte. Die Arbeitssaison dauerte in der Regel von Ende November bis Mitte oder Ende März; später war es für das Spalten der Platten bereits zu warm. Es verwundert nicht, dass Cabelli und seine beiden Partner die Arbeiter für die «Cheva» in ihrer Heimat rekrutierten, denn die Malenker hatten eine jahrhundertelange Erfahrung in der Gewinnung und Bearbeitung von Platten aus dem einheimischen Serpentinschiefer. Die Arbeiter verbrachten vier lange Wintermonate in einer kargen Unterkunft beim Steinbruch. Nicht nur für die Betreiber der «Cheva» war diese eine Verdienstquelle, sondern auch für die Fexer Bauern: Wenn sie im Winter am frühen Morgen auf ihren Schlitten die Milch in die Silser Käserei brachten, transportierten sie auch die Steinplatten aus dem Tal. Noch im Winter 1948 hoben die Fexer Grenzwächter im Monatsrapport vom Februar hervor: «Für die einheimischen Bauern sind die Transporte der Fexersteinplatten ein wichtiger Nebenverdienst.»⁶ Die Bewohner des angrenzenden Valmalenco kamen jedoch nicht nur als Steinbrucharbeiter ins Fextal: Sie arbeiteten dort und in Sils auch im Bau- und Gastgewerbe, als Schreiner und, zum Teil, in der Landwirtschaft.

    Das Hotel Fex. Postkarte von 1903/04.

    Das Hotel Sonne Ende der 1940er-Jahre.

    Ein Blick auf die andere Seite der Grenze: das Valmalenco

    Die Auswanderung ins benachbarte Fextal, ins Oberengadin, aber auch in viel weiter entfernte Länder war für viele Bewohnerinnen und Bewohner des Valmalencos⁷ lange Zeit einer der wenigen Auswege aus der Armut. Denn dieses in den Rätischen Alpen gelegene Seitental des Veltlins, das in Sondrio (297 m ü. M.) beginnt und sich über etwa 15 Kilometer nach Norden auf den Piz Bernina (4048 m ü. M.) zu erstreckt, verlor bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts, nach dem Ende der Bündner Herrschaft über Veltlin und Valchiavenna, seine Bedeutung als kürzeste Transportroute vor allem für den Veltliner Wein, der jahrhundertelang über den Murettopass nach Graubünden gebracht worden war. Speziell die Habsburger, die nach dem Wiener Kongress die neuen Herrscher über die Provinz Sondrio wurden, erhöhten die Transitzollsätze für Wein aus dem Veltlin stark, was verheerende Folgen für das Valmalenco hatte, denn die Bündnerinnen und Bündner begannen nun, sich nach neuen, günstigeren Weinmärkten umzusehen, wie zum Beispiel dem französischen.⁸

    Blick ins Valmalenco.

    Übersichtskarte des Valmalenco.

    Steinbrucharbeiter aus dem Valmalenco, erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.

    Was neben dem Transportwesen die Ökonomie im Valmalenco jahrhundertelang prägte, waren Land- und Viehwirtschaft, ferner die Forstwirtschaft und der Bergbau – ausser Lavez wurden auch Talk, Asbest und Serpentin gewonnen. Diese Erwerbsmöglichkeiten reichten längst nicht für die ganze Bevölkerung aus. Der Tourismus entwickelte sich nur sehr langsam. Zwar tauchten bereits in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die ersten englischen Bergsteiger im Valmalenco auf, für die dann einige Hotels gebaut wurden, so etwa 1905 das Grand Hotel Malenco in Chiesa. Aber der Erste Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise brachten den Fremdenverkehr zum Erliegen. Besonders negative Auswirkungen für das Tal hatte während des Zweiten Weltkriegs die deutsche Besetzung Norditaliens ab Herbst 1943. Die zeitweilig starke Präsenz des deutschen Militärs in der Gegend bedeutete für die Bevölkerung häufige Lebensmittelkonfiszierungen und Repressalien (siehe S. 335).

    In Schwung kam der Tourismus, vor allem der Wintertourismus, erst ab 1960, mit dem Bau der Skiinfrastruktur. Er wurde bald zum wichtigsten Sektor in der Ökonomie des Tals. Weitere wirtschaftliche Impulse brachte zwischen 1957 und 1969 der Bau von Wasserkraftwerken sowie die Verarbeitung von grünem Serpentin und Asbest in jetzt grösseren, semi-industriellen Dimensionen.

    Während des untersuchten Zeitraums war somit der Schmuggel für die Talbevölkerung eine der ganz wenigen Alternativen zur Auswanderung.

    Das Bergell

    Geografie und Grenzbeschreibung

    Von der Kleinsiedlung Vaüglia im vorderen Fextal gelangt man in knapp zweistündiger Wanderung zum Dorf Maloja, das bereits zum Bergell gehört, dem zweiten Schauplatz dieses Forschungsberichts.

    Mit «Bergell» wird in der Regel nur der schweizerische Teil eines Tals bezeichnet, das sich über circa 32 Kilometer Länge erstreckt, von Maloja (1812 m ü. M.) bis Chiavenna (333 m ü. M.). Das Städtchen befindet sich bereits im italienischen Gebiet, in der Provinz Sondrio. Das Tal verläuft von Nordosten nach Südwesten entlang des Flusses Maira – im italienischen Teil heisst er Mera⁹ – und fällt von Maloja aus in drei Stufen ab: zunächst sehr steil bis auf die Ebene von Casaccia (1458 m ü. M.), die gleichzeitig den Zugang zum Septimerpass bildet, dann auf den Talgrund von Vicosoprano (1067 m ü. M.) und Stampa (994 m ü. M.).¹⁰ Unterhalb von Stampa befindet sich die natürliche Talenge Porta, die das schweizerische Bergell in die beiden Abschnitte Sopraporta und Sottoporta trennt und gleichzeitig auch als klimatische Scheidewand wirkt: Der obere Abschnitt ist noch alpin geprägt, während in Sottoporta bereits das insubrische¹¹ Klima dominiert, wie es auch in den Regionen herrscht, die an die grossen oberitalienischen Seen angrenzen, also rund um den Gardasee, Lago d’Iseo, Lago Maggiore, Lago di Lugano und Comersee. Charakteristisch für das insubrische Klima sind einerseits die intensiven Niederschläge, vor allem im Sommer, andererseits aber auch die vielen Sonnentage und die für die alpine Lage insgesamt relativ milden und ausgeglichenen Temperaturen. In Sottoporta liegt einer der grössten heute noch gepflegten Edelkastanienhaine Europas, der Brentan. Zu Sopraporta gehören die Ortschaften Maloja, Casaccia, Vicosoprano, Stampa und Borgonovo, zu Sottoporta Promontogno, Bondo, Soglio und Castasegna. Im Unterschied zum Fextal ist das Bergell tief eingeschnitten zwischen den Bergeller Alpen im Süden und den Rätischen Alpen im Norden. Der Mangel an Bau- und Weideflächen führte bereits im Mittelalter dazu, dass die Bergellerinnen und Bergeller den Sommer mit dem Vieh auf den Engadiner Alpen verbrachten, unter anderem, wie gesagt, im Fextal.

    Ein zweiter wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Tälern besteht darin, dass das Fextal erst am Talabschluss an Italien grenzt, während die Landesgrenze im Bergell einen sehr weiten Bogen um das Tal bildet. Dieser beginnt im Nordosten und folgt der östlichen Bergeller Alpenkette zunächst in südlicher, dann in westlicher Richtung. Dabei streift er die Spitzen mehrerer Dreitausender¹² sowie einige hochalpine Passübergänge,¹³ um dann am Übergang Bocchetta della Teg(g)iola¹⁴ dem Casnag(g)ina-Bach folgend zum Grenzort Castasegna abzufallen. Auf den Karten variieren die Schreibweisen der letztgenannten Namen. Von hier verläuft die Grenzlinie auf der rechten Talseite aufsteigend dem Bach Lovero entlang, zum Pizz Gallagiun (3107 m ü. M.) und weiter Richtung Averstal und Valle di Lei. Zwischen Monte Forno und Bocchetta della Tegiola fällt die Landesgrenze, wie im Fextal, mit der Wasserscheide zusammen. Die Frage, warum die Grenze gerade bei der Bocchetta della Tegiola diesen natürlichen Verlauf unterbricht, die Richtung abrupt ändert, den beiden unbedeutenden Zuflüssen zur Maira folgt und dadurch das Tal als geografische Einheit durchschneidet, hat bis heute keine eindeutige Antwort¹⁵ gefunden.

    Bei den Grenzverläufen zwischen Fextal und Bergell auf der einen und der italienischen Provinz Sondrio auf der anderen Seite handelt es sich fast ausschliesslich um grüne, das heisst unbefestigte und nicht markierte, in der freien Natur verlaufende Grenzen.¹⁶ Aber während die Übergänge aus dem Fextal aufgrund ihres hochalpinen Charakters nur für den Fussverkehr zugänglich sind – deshalb erfolgten die Warentransporte mit Tieren und Wagen über Maloja, Val Forno, Val Muretto und Murettopass –, gehört die Strasse durch das Bergell, die die Comersee-Region über den Septimer- und den Malojapass mit dem Norden verbindet, spätestens seit der Römerzeit zu den wichtigsten Wegverbindungen der Zentralalpen. Die Grenze bei Castasegna ist eine der stabilsten und langlebigsten in Europa; deren Funktion und Bedeutung hat sich allerdings im Laufe der Jahrhunderte je nach politischer Konstellation stark verändert. Im Folgenden wird deshalb ihre Geschichte seit dem Mittelalter kurz skizziert.

    Übersichtskarte des Bergells.

    Grenzverlauf entlang der Bäche Casnagina und Lovero.

    Blick von Maloja Kulm ins Bergell, erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.

    Historisches und Wirtschaftliches

    Ausdrücklich genannt ist die Grenze des «Gewässers des Lùer» und der «Casnasgìnä» seit 960, als Kaiser Otto I., Nachkomme Ludwigs des Deutschen, dem Bischof Hartbert von Chur, der bereits die kirchliche Macht über das obere Bergell innehatte, auch die gerichtlichen Hoheitsrechte und gräflichen Vollmachten über das Tal mit seinen bedeutenden Pässen übertrug. Das Gebiet südwestlich der beiden Bäche gehörte indessen zum Bistum Como, so dass die Grenze hier gleichzeitig zwei weltliche wie geistliche politische Einflusssphären voneinander schied.

    Im Spätmittelalter emanzipierte sich das obere Bergell, wie auch das Oberengadin, nach und nach von der weltlichen Macht des Bischofs von Chur: 1367 schloss es sich dem Gotteshausbund an, der 1524 mit dem Oberen oder Grauen Bund und dem Zehngerichtebund zusammen den Freistaat der Drei Bünde bildete.

    Wirtschaftlich unterhielten die Bewohnerinnen und Bewohner des Bergells auf beiden Seiten der Grenze schon sehr früh rege Beziehungen. Chiavenna bildete den Knotenpunkt, an dem sich die Handelswege über den Splügen, den Maloja- und den Septimerpass trafen. Die wichtigsten Verdienstquellen stellten für die Talbevölkerung Handel und Transportgewerbe dar. Daneben spielten im Bergell wie im Valchiavenna die Vieh-, Forst- sowie Landwirtschaft (Kastanien, Getreide, im Valchiavenna auch Wein) eine bedeutende Rolle. Zudem hatten der Abbau und die Bearbeitung von Lavezstein grosse Bedeutung, vor allem in Piuro und Chiavenna. Allerdings reichten diese Erwerbsmöglichkeiten längst nicht für die ganze Bevölkerung, so dass zahlreiche Bergellerinnen und Bergeller bereits Ende des 13. Jahrhunderts ihr Glück in Venedig, später in vielen europäischen Ländern und sogar in Übersee suchten.

    Bündner Herrschaft über Valchiavenna

    Der Beginn der Herrschaft der Drei Bünde über das Veltlin, Bormio und das Valchiavenna ab 1512 veränderte auch den Status der Grenze bei Castasegna: Sie trennte nun nicht mehr unterschiedliche landesherrliche Macht- und Einflussbereiche voneinander, sondern wurde zu einer verwaltungstechnischen, juristischen Demarkationslinie zwischen Herrschenden und Untertanen.

    Die Verbindungen zwischen der Bevölkerung des Bergells und jener des Valchiavenna intensivierten sich in dieser Zeit unter anderem auch dadurch, dass sich einflussreiche Bergeller Familien, allen voran die Familie von Salis, in Chiavenna (aber auch in Piuro) niederliessen, um dort politische Ämter wahrzunehmen und dabei ihren Handelsgeschäften nachzugehen. Zudem wählten Bergeller aus dem Mittelstand, Handwerker und Händler Chiavenna als attraktiven Wohn- und Arbeitsort. Die Bündner gewährten auch den Untertanen im Handel eine relativ grosse Autonomie und betrieben ausserdem eine liberale Zollpolitik im Warenaustausch mit dem Ausland, mit nur geringen Zollgebühren. So zeitigte die Herrschaft der Drei Bünde für die untersuchte Region in wirtschaftlicher Hinsicht zunächst positive Folgen.

    Urkunde zur Schenkung des Bergells an den Churer Bischof, ausgestellt im Jahr 960 durch Kaiser Otto I.

    Der Freistaat der Drei Bünde mit den Untertanengebieten, 1620.

    Konfessionelle und sprachliche Entwicklung während der Bündner Herrschaft

    Auch in Glaubensangelegenheiten fielen in jene Zeit Entscheidungen, die öffnend wirkten und eine grenzüberschreitende Dynamik auslösten. Im Januar 1557 hatte ein Bundestagsabschied¹⁷ eine grundsätzliche Gleichstellung der katholischen und evangelischen Konfession für das ganze Gebiet der Drei Bünde unter Einbezug der Untertanengebiete postuliert. Bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts hatten aus ganz Italien evangelische Glaubensflüchtlinge im Veltlin, im Valchiavenna und in den Drei Bünden Schutz gefunden und dort die neuen Ideen verbreitet.¹⁸ Im Bergell setzte sich die Reformation im Laufe der 1530er- und 1540er-Jahre durch, zusammen mit der italienischen Sprache, die bereits 1546¹⁹ zur Amtssprache wurde und es bis heute geblieben ist. Parallel entwickelte sich als Umgangssprache das «Bargaiot», ein Dialekt, der sowohl lombardische als auch rätoromanische Einflüsse in sich aufgenommen hat. Die gemeinsame Schrift- und die sehr ähnliche Umgangssprache stellen bis heute wichtige Brücken für den soziokulturellen Austausch zwischen der Bergeller Bevölkerung und den italienischen Nachbarn dar.²⁰

    Nach dem «Veltliner Mord», der Ermordung von rund 600 Protestanten im Veltlin im Sommer 1620,²¹ wurde in den Untertanengebieten das Zusammenleben von Katholiken und Reformierten äusserst schwierig. Die Bündner Herrscher mussten akzeptieren, dass im Veltlin, im Valchiavenna und in Bormio nur Katholiken leben durften. Eine Ausnahme bildeten die reformierten Bündner Amtsträger, solange sie im Amt waren, und die Besitzer von Immobilien, die sich aber nur drei Monate pro Jahr dort aufhalten durften. So änderte die Bergeller Grenze einmal mehr ihre Bedeutung und wurde zu einer konfessionellen Trennlinie zwischen dem reformierten Norden und dem katholischen Süden. Zeitgleich gilt dies auch für die Grenze zwischen Fextal und Valmalenco.

    Ende der Bündner Herrschaft und Napoleon

    Das Jahr 1797 markiert mit dem Ende der Herrschaft der Drei Bünde über die Untertanengebiete einen weiteren Wendepunkt in der Geschichte der Bergeller Grenze: Die Veltliner und die Bewohner des Valchiavenna vertrieben mit Hilfe Napoleons die Bündner, konfiszierten deren Besitztümer und liessen sich der Cisalpinischen Republik eingliedern. Vom «Befreier» Napoleon hatten sich die ehemaligen Untertanen die Anerkennung ihrer Autonomie erhofft. Was sie erlebten, war das Gegenteil: eine zentralistische Regierung, die gleich Landesgrenzen zog und diese streng kontrollieren liess. Diese Grenzen unterbrachen plötzlich Wege, die jahrhundertelang frei benutzt worden waren, sie verhinderten soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die in der Geschichte und Kultur dieser Gebiete tief verwurzelt waren. Die neuen, von der napoleonischen Regierung eingeführten Grenz- und Zollgesetze blieben den Menschen aus diesen Gegenden völlig unverständlich. Warum war der seit jeher kostenlose Transport von Waren, auch selbstproduzierten wie Käse oder Wein, plötzlich nicht mehr erlaubt? Vor allem die neu eingeführte teure Steuer auf das staatlich monopolisierte Salz wurde von Menschen, die hauptsächlich Viehwirtschaft betrieben und viel Salz für die Konservierung des Fleisches brauchten, als Schikane erlebt. Sie setzte den traditionellen freien Tauschgeschäften von Veltliner Wein gegen Salz aus Hall (Österreich) ein Ende. Die restriktive Steuerpolitik war die Ursache für die Entstehung des Schmuggels an den Bündner Südgrenzen um 1800. Das in dieser Arbeit untersuchte Phänomen hat also weit zurückreichende Wurzeln.

    Die Habsburger und das Königreich Italien

    Nach Napoleons Sturz hätten die Grossmächte am Wiener Kongress im Jahr 1815 das Veltlin, das Valchiavenna und Bormio als autonomen Kanton oder als Teil des neuen Kantons Graubünden der Eidgenossenschaft angliedern wollen. Aber die Bündner wollten die ehemaligen Untertanen nicht als Gleichberechtigte akzeptieren. So wurde die Provinz Sondrio schliesslich dem neuen Königreich Lombardo-Venetien angeschlossen, das Teil des Kaisertums Österreich wurde. Die strenge Zollpolitik der Cisalpinischen Republik wurde sowohl von den Habsburgern als auch vom 1861 proklamierten Königreich Italien weitergeführt, dem von Anfang an auch Veltlin und Valchiavenna angehörten.

    Die Regierung des Königreichs erhob gleich nach ihrer Formierung hohe Steuern auf beliebte Konsumgüter wie Tabak, Schokolade und Zucker, was im 19. Jahrhundert dem Schmuggel zusätzlichen Auftrieb gab.

    Die Cisalpinische Republik, gegründet im Jahr 1797.

    Napoleonisches Zollgesetz von 1805.

    Um den illegalen Warenverkehr über die Grenze zu bekämpfen, haben die zentralistischen Regierungen Italiens von Anfang an grosse wirtschaftliche und personelle Ressourcen eingesetzt – jedoch mit sehr geringem Erfolg, da die erwähnten zollpolitischen und sozioökonomischen Ursachen des Phänomens nicht berücksichtigt wurden. Diese gründeten vor allem in der Armut der Bergbevölkerung in den Grenzgebieten, für die der freie Warenaustausch mit den Nachbarn zuvor eine wichtige Verdienstquelle gewesen war. Die repressive Politik des Staates erwies sich sogar als kontraproduktiv, da sie die Feindseligkeit der Bevölkerung gegenüber den Behörden noch nährte und gleichzeitig den Zusammenhalt innerhalb der Dorfgemeinschaft stärkte. Dabei wurde Schmuggel, mehr oder weniger bewusst, auch zu einer Form der Rebellion gegen die ferne, als fremd empfundene Staatsmacht.

    Auf politischer Ebene waren bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts Verbindungen zwischen dem Bündnerischen Bergell und dem Valchiavenna gewachsen, und zwar dank der Unterstützung, die republikanisch gesinnte Revolutionäre in ihrem Freiheitskampf gegen die Habsburger durch den nördlichen Nachbarn erfuhren. So konnten zum Beispiel die Widerstandstruppen des Revolutionärs Francesco Dolzino aus Chiavenna, als sie 1848 von den Österreichern verfolgt wurden, im Bergell Zuflucht finden.

    Der Faschismus in Italien

    Schwieriger wurden solche grenzüberschreitenden Beziehungen während der faschistischen Ära, die mit Benito Mussolinis Vereidigung zum Ministerpräsidenten am 29. Oktober 1922 begann. Die Schweiz achtete streng auf ihre Neutralität und betrieb eine restriktive Grenzpolitik, während auf der anderen Seite das faschistische Regime mit aller Kraft zu verhindern versuchte, dass die italienische Grenzbevölkerung Kontakte mit exilierten Antifaschisten oder mit demokratisch gesinnten Schweizern hatte. Einen Reisepass zu bekommen, wurde für Italienerinnen und Italiener sehr schwierig, auch gegen den Schmuggel ging man mit aller Härte vor. Viel höhere Geld- und Gefängnisstrafen wurden bestimmt. Ab den 1920er-Jahren wurde die italienische Staatsgrenze von drei verschiedenen militärisch organisierten Diensten kontrolliert: Guardia di Finanza, Milizia confinaria²² und Carabinieri. Ein Grund dafür war, dass die «Spalloni», wie die Schmuggler im italienischen Jargon genannt wurden,²³ nicht nur Waren aller Art aus der Schweiz nach Italien brachten, sondern auch in Italien politisch Verfolgten zur Flucht in die Schweiz verhalfen. Entsprechend wurden die Strafen für die Fliehenden und deren Helferinnen und Helfer immer härter. 1926 legitimierte ein neu verabschiedetes Gesetz zum Schutz der «öffentlichen Sicherheit» den «Gebrauch von Waffen, um den illegalen Verkehr über die nicht autorisierten Grenzübergänge zu verhindern».²⁴

    Aber all diese repressiven Mittel konnten den Schmuggel nicht eindämmen, geschweige denn besiegen. Zu gross war die Not der italienischen Bergbevölkerung in den Grenzgebieten. Wenn man bedenkt, was der italienische Staat an Gefängnis- und Prozesskosten für jedes geschmuggelte Kilogramm Zucker, Kaffee oder Tabak ausgab, ohne dabei spürbare Verhaltensänderungen zu bewirken, mutet das Ganze grotesk an. Die Massnahmen dienten wohl vor allem dazu, dass Mussolinis Regime nach aussen stolz verkünden konnte, jede Form von Kriminalität und «deviantem Verhalten»²⁵ hart zu bekämpfen.

    Die Ansprüche der faschistischen Irredentismus-Politik, der zufolge Mussolini die italienischsprachigen Grenzregionen (unter Einschluss der romanischsprachigen) als «terre irredente», als «unerlöste Gebiete» betrachtete, die es der italienischen Mutternation einzugliedern galt, belastete das Verhältnis der Bergellerinnen und Bergeller zum Nachbarland: Sie fühlten sich von den Gebietsansprüchen der neuen Machthaber Italiens bedroht und wandten sich verstärkt nach Norden.

    Dass die Entwicklung Italiens zu einer aussenpolitisch zunehmend aggressiv agierenden faschistischen Diktatur bei der Bergeller Bevölkerung nicht nur Ängste geschürt, sondern vereinzelt auch deren aktiven, grenzüberschreitenden Widerstand provoziert hat, beweist ein spezieller, nicht wirtschaftlich, sondern politisch motivierter Schmuggelfall, der bis nach Rom, bis ins italienische Innenministerium Wellen schlug und es deshalb wert ist, dargestellt zu werden, auch wenn er ausserhalb des in der vorliegenden Arbeit untersuchten Zeitraums liegt.

    Exkurs I: Der Fall des Gaudenzio Giovanoli

    Am 5. Juli 1928 – das Königreich Italien war inzwischen faktisch eine faschistische Einparteiendiktatur – unterrichtete das italienische Innenministerium seine Abteilung der politischen Polizei davon, dass man dank Nachforschungen des italienischen Konsuls in Chur von einem Bergeller Kenntnis erhalten habe, der «subversives Propagandamaterial in das Königreich» einschleuse. Das Churer Konsulat habe den italienischen Generalkonsul in Zürich darüber informiert und Vorschläge zur weitergehenden Erforschung und Überwachung dieser Schmuggeltätigkeiten gemacht, die allerdings einen erheblichen finanziellen Aufwand bedeuteten, weshalb vielleicht das Finanzministerium direkt einzuschalten sei. Bei dem Initianten dieses politisch-propagandistischen Schmuggels handle es sich um den Bergeller Gaudenzio Giovanoli (1893–1977).

    Gaudenzio Giovanoli, 1920er- oder 1930er-Jahre.

    Nachfolgend der übersetzte Wortlaut des Dokuments aus dem Innenministerium, das sowohl den Bericht des italienischen Generalkonsuls in Zürich enthält als auch die Vorschläge des Churer Konsuls Benzoni:

    «Der königliche Generalkonsul in Zürich teilt mir [dem zuständigen Beamten des Innenministeriums Pignatti, Anm. d. Verf.] Folgendes über Giovanoli und den Schmuggel mit, an dem er angeblich beteiligt ist. Ich möchte Ihre besondere Aufmerksamkeit auf die Berichte des königlichen Konsuls und seine Vorschläge für einen Überwachungsdienst lenken, der in Absprache mit der zuständigen königlichen Guardia di Finanza zur Entdeckung der Schmuggler führen könnte.

    ‹Gemäss den vom Königlichen Konsul in Chur eingeholten Informationen ist Herr Giovanoli Gaudenzio, Schweizer Staatsbürger (geboren in Soglio in Grigione […]), Volksschullehrer in Maloja (Engadina). Als Kommunist ist er ein aktiver Propagandist und Verteiler von Zeitungen und Parteipublikationen. Offenbar gelingt es ihm, unter Ausnutzung der Aktivitäten von Schmugglern, die zwischen Sils Maria und Livigno tätig sein sollen, gelegentlich subversives Propagandamaterial in das Königreich einzuschleusen. Die von den Schmugglern benutzten Pässe wären die des Val Muratto [!] – Fex und Tremoggio [!]. In Anbetracht der Bedeutung dieser Tatsache würde Herr Benzoni, Königlicher Konsul in Chur, es für angebracht halten, einen Fachmann einzuschalten, um ihn [Giovanoli] zu kontrollieren und, falls nötig, die Auswirkungen [seiner Aktionen] zu unterdrücken. Nun mangelt es in diesem Bezirk zwar nicht an Landsleuten, die hinreichend genaue Auskünfte über Sachverhalt und Personen erteilen können, wohl aber an Personen, die über all die unabdingbaren Voraussetzungen der verfügbaren Zeit, der natürlichen Begabung und der Berufspraxis für einen langwierigen und heiklen Ermittlungsdienst verfügen, wie er in dem betreffenden Fall erforderlich wäre. Cav. Benzoni fragt mich jedoch, ob ich es nicht für notwendig halte, vorübergehend eine geeignete Person an den Ort zu schicken, um Nachforschungen anzustellen und Bericht zu erstatten:

    ‚Wenn Eure Eminenz [der italienische Generalkonsul in Zürich] es für richtig hält, könnte ich hier nach einer solchen Person suchen, obwohl ich sehr skeptisch bin, ob ich sie finden kann, aber da die Mission erhebliche Ausgaben erfordern würde, halte ich es für angebracht, Eure Eminenz zu fragen, ob er sie genehmigen kann. Andererseits frage ich mich, ob es für das königliche Finanzministerium nicht besser wäre, selbst eine Person seines Vertrauens mit dieser Mission zu beauftragen, die mit diesen Pässen bereits vertraut ist und die bei der Schmuggelbekämpfung […] auch Nachforschungen über das Propagandamaterial von Giovanoli anstellen könnte.’›

    Der R[egio]-Minister fto [unterzeichnet]: Pignatti».²⁶

    Dieses Dokument ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Es belegt nicht nur, dass der Schmuggel an den Bündner Südgrenzen neben der ökonomischen auch eine politische Dimension bekommen konnte, was insbesondere zu Zeiten galt, in denen die Grenze stark unterschiedliche politische Systeme voneinander trennte. Es gibt darüber hinaus aber auch direkte Einblicke in die historisch so wohlbekannte wie stets geleugnete Spionagetätigkeit konsularischer Vertretungen und deren Methoden zur Personenüberwachung.

    Dass gerade Gaudenzio Giovanoli ins Visier der italienischen Staatsschützer geriet, ist kaum verwunderlich, da er aus seiner sozialistischen Einstellung keinen Hehl machte, sie im Gegenteil offen praktizierte: Unermüdlich warb er für die Ideen der Genossenschaftsbewegung und verwirklichte sie ab 1925 im Bergell auch praktisch durch die Gründung von Konsumvereinen in Maloja, Casaccia, Coltura und Soglio. Er publizierte in linksorientierten Volks- und Arbeiterblättern und setzte während seiner über vierzigjährigen Tätigkeit als Volksschullehrer sein ganzes – von ehemaligen Schülern vielfach bezeugtes – pädagogisches Geschick und Fachwissen dafür ein, seinen Schützlingen jenes Ideal einer sozialen, friedens- und gemeinschaftsorientierten Lebenseinstellung zu vermitteln, dem er selbst nachzuleben sich bemühte.²⁷

    Der Zweite Weltkrieg

    Während des Zweiten Weltkriegs und vor allem in den Monaten nach Italiens Waffenstillstand mit den Alliierten (8. September 1943) und der nachfolgenden Besetzung Norditaliens durch die Deutschen wurde die lange Grenze zwischen Bergell und den benachbarten italienischen Tälern für zahlreiche jüdische Flüchtlinge, aber auch für entflohene alliierte Kriegsgefangene, bedrohte Partisaninnen und Partisanen, Deserteure und Refraktäre zur Trennlinie zwischen akuter Todesdrohung und erhoffter Lebensrettung. Darüber wird in einem späteren Kapitel ausführlich zu berichten sein (siehe S. 344ff.).

    In den letzten Kriegsjahren erlebte der Schmuggel zwischen der Provinz Sondrio und den Bündner Südtälern einen «gewaltigen»²⁸ Aufschwung. Dabei änderte er zeitweilig auch seinen Charakter, denn neben dem traditionellen Ausfuhrschmuggel von der Schweiz nach Italien entwickelte sich auch ein reger Einfuhrschmuggel mit Lebensmitteln, wie im nächsten Kapitel ausgeführt wird.

    Die Nachkriegszeit

    Nach Kriegsende kam es zur Wiederaufnahme der früheren wirtschaftlichen und soziokulturellen Beziehungen zwischen dem schweizerischen Bergell und Valchiavenna. Die Grenze bei Castasegna trennte allerdings am Ende des Zweiten Weltkriegs zwei Nationen, zwischen denen das Wirtschaftsgefälle sehr gross geworden war. In den italienischen Grenzgebieten herrschten Armut und Arbeitslosigkeit. Zahlreiche Landwirtschafts- sowie die wenigen Industriebetriebe waren zerstört, die Lira stark entwertet. Für die Bewohnerinnen und Bewohner des Valchiavenna wie für jene des Valmalenco gab es weiterhin nur wenige Verdienstmöglichkeiten. Eine war nach wie vor der Schmuggel, der an der Grenze zum Bergell länger florierte als an jener zum Fextal, nämlich bis in die 1970er-Jahre hinein. Eine weitere Möglichkeit war die Arbeitsmigration in die schweizerischen Nachbarregionen, vor allem ins Oberengadin, wo gleich nach Kriegsende die touristische Entwicklung einen Wiederaufschwung erlebte und billige Arbeitskräfte anzog.

    DER SCHMUGGEL IM FEXTAL

    Nachdem die beiden Grenztäler, auf die sich die vorliegende Forschung konzentriert, im vorherigen Kapitel vorgestellt worden sind, soll nun das Phänomen «Schmuggel» zunächst für das Fextal, dann für das Bergell aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden: aus jener der Grenzbehörde und einzelner Schmuggler aus den italienischen Nachbartälern sowie aus jener einiger Fexer, Silser oder Bergeller Grenzbewohnerinnen und -bewohner. Daneben wird am Beispiel der Fexer Grenzwächter die Frage untersucht, unter welchen Lebens- und Arbeitsbedingungen die Schweizer Grenzer in Berggebieten ihren Dienst versahen. Über das harte und gefahrvolle Dasein derer, die in Vorkriegs- und Kriegsjahren im Gebirge schmuggelten, ist in der einschlägigen Literatur oft berichtet worden. Wie entbehrungsreich und beschwerlich aber auch der berufliche Alltag ihrer Antagonisten, der Grenzwächter, war, blieb in der bisherigen Forschung weitgehend unberücksichtigt. Hier möchte diese Arbeit – mindestens exemplarisch – eine Lücke schliessen, was dank der in der Einführung erwähnten, ausserordentlich guten Quellenlage möglich ist, die es für den Fexer Posten erlaubt, auch die Routinen und Herausforderungen des Grenzwachtdienstes im Hochgebirge relativ genau zu rekonstruieren.

    Der eidgenössische Grenzwachtdienst

    Zuerst soll die Organisation des eidgenössischen Grenzwachtdienstes in den 1930er- und 1940er-Jahren kurz skizziert werden. Das Schweizer Gebiet war in sechs Zollkreise aufgeteilt, die der Oberzolldirektion (OZD) unterstellt waren. Der Zollkreis III, mit Direktion in Chur, umfasste die Kantone Appenzell, St. Gallen und Graubünden ohne Misox, das, zusammen mit dem Kanton Tessin, den Zollkreis IV bildete. Jede Zollkreisdirektion hatte zwei Dienstzweige: Einer befasste sich in den Zollämtern mit Abfertigungsdienst, der andere mit Grenzwachtdienst. Jede Zollkreisdirektion hatte ein Grenzwachtkorps mit Grenzwachtkommandanten. Jedes Grenzwachtkorps war in zwei oder drei Sektoren aufgeteilt, die unter der Leitung eines Sektoroffiziers standen. Das Fextal und das Bergell befanden sich im Sektor II des Grenzwachtkorps III. Die Sektoren waren ihrerseits noch in Unterabschnitte unterteilt: Der Sektor II vom Grenzwachtkorps III mit Hauptsitz in Samedan umfasste in den 1930er- und 1940er-Jahren die Unterabschnitte 4–8; der Grenzwachtposten Fex gehörte, zusammen mit den Bergeller Posten Maloja, Bondo, Castasegna und Soglio, zum Unterabschnitt 8.

    Der Dienstweg für Weisungen und Befehle ging also von der OZD über die Zollkreise, die Grenzwachtkommandanten, die Sektoroffiziere und Unterabschnittschefs bis zum Grenzwachtposten. Mitteilungen der Postenchefs folgten dem umgekehrten Weg. Die Grenzwachtposten durften von keiner anderen Stelle Befehle annehmen und an keine andere Stelle Informationen weiterleiten.

    ORGANIGRAMM GRENZWACHTKORPS DES III. ZOLLKREISES (1940)

    Angaben nach Gillardon, Mathias: Der Werdegang des Grenzwachtkorps III. Chur 1940, S. 133.

    Die Vorgeschichte des Postens im Fextal (1919–1935)

    Die frühesten vorhandenen Dokumente zum Fexer Grenzwachtposten sind die Dienstregister vom Sommer 1935.¹ Zwar war schon einmal zwischen 1919 und 1921 ein lediger Grenzwächter jeweils während der Sommermonate im Fextal stationiert gewesen,² aber Dienstregister oder sonstige Unterlagen aus dieser Zeit sind nicht vorhanden. Dieser Posten wurde bald wieder aufgehoben, und so fiel ab 1922 und bis 1935 die Überwachung des Schmuggelverkehrs zwischen dem Valmalenco und dem Fextal in den Aufgabenbereich der Grenzwächter vom Posten Maloja. Ab den frühen 1930er-Jahren nahmen die Schmuggleraktivitäten in diesem Gebiet stark zu. Zu den Hauptgründen zählt die Weltwirtschaftskrise, die auch in Italien zu einer Zunahme der Arbeitslosigkeit führte. Da ausserdem viele Staaten, um die eigenen Arbeitsmärkte zu schützen, die Einwanderung einschränkten, indem sie ihre Grenzen schlossen, blieb für zahlreiche Arbeitslose in den italienischen Grenzregionen der Schmuggel eine der wenigen Möglichkeiten, sich und die eigene Familie über Wasser zu halten. Zur Stärkung dieser Tätigkeit trug ausserdem auch die restriktive Zoll- und Steuerpolitik der italienischen Regierung bei: In der Zwischenkriegszeit beschloss der Staat nämlich, neben den bereits bestehenden Steuermonopolen für Salz und Tabak ein Produktions- oder Verkaufsmonopol, das sogenannte Handelsmonopol, für Produkte wie Kaffee, Zucker, Tee, Streichhölzer, Glühbirnen, Paraffin und so weiter zu errichten.³ Die Folge waren einerseits hohe Zolltarife und Verbrauchssteuern auf diese Waren, andererseits harte Strafen für diejenigen, die die Staatsmonopole umgingen. Niemand durfte demnach ohne staatliche Erlaubnis zum Beispiel Tabak anbauen, verarbeiten, importieren oder transportieren. Die Menge der geschmuggelten Waren spielte dabei keine Rolle. Schon der Transport einer einzigen ausländischen Zigarette über die Grenze reichte in den 1930er-Jahren für eine Strafe von 350 Lire.⁴ Dieser Betrag entsprach in den Jahren von 1933 bis 1936 etwa dem Monatslohn eines Facharbeiters (300–400 Lire).⁵ Auch beim Schmuggel mit Salz waren die Strafen drakonisch, was für die Bergbevölkerung, die viel Salz zum Konservieren benötigte, zu einer grossen Belastung wurde.

    Piz Chapütschin mit Gletscher, 1930er- oder 1940er-Jahre.

    Piz Tremoggia, Fexgletscher und Piz Fora (v.l.n.r.), 1940er-Jahre.

    Fexgletscher, Piz Fora, Piz Güz und Piz Led (v.l.n.r.), 1940er-Jahre.

    Mit drei bis fünf Jahren Gefängnis mussten all die Schmuggler rechnen, die «in unione»⁶ agierten, also in Gruppen ab drei Personen. In kleinen Gruppen unterwegs zu sein, war aber im Gebirge beinahe überlebensnotwendig, auf Routen, die in grosse Höhen und über teilweise vergletschertes Gelände führten und auf denen einem auch die Witterungsverhältnisse zum Verhängnis werden konnten. Zu solchen Routen gehörten auch die Übergänge, die vom Fextal über die Fuorcla Fex-Scerscen, den Tremoggiapass oder die Fuorcla dal Chapütsch ins Valmalenco führten. Die Schmuggler benötigten zwischen dreieinhalb und viereinhalb Stunden für den Aufstieg vom Fextal zu diesen Pässen und weitere zwei bis viereinhalb Stunden für den Abstieg bis zum ersten grösseren Ort im Valmalenco. Von den drei Routen war diejenige über den Tremoggiapass die beliebteste, da sie nur eine kurze Gletscherpartie enthielt. Die kürzeste, aber auch die gefährlichste Strecke war, aufgrund der vielen zu überquerenden Spalten im Fexgletscher, jene über die Fuorcla dal Chapütsch.⁷ Die drei Routen wurden von den Malenker Schmugglern ab den späten 1920er-Jahren viel häufiger gewählt als in früherer Zeit, da der leichtere, weniger steile Übergang am Murettopass nun auf italienischer Seite immer stärker bewacht wurde.⁸

    Fexer Ausfuhrschmuggel zu Beginn der 1930er-Jahre

    Wie rege der Schmuggel in den frühen 1930er-Jahren im Fextal war und wie widersprüchlich dabei die Haltung der lokalen Behörde ihm gegenüber, beweisen unter anderem einige Dokumente, die sich im Bündner Staatsarchiv in Chur befinden.

    In einem Schreiben des Bündner Landjägerkommandos⁹ in Chur vom 9. November 1931 an den Landjägerposten Silvaplana wird an eine seit langem gültige eidgenössische Verfügung erinnert, der zufolge es an den Bündner Südgrenzen lediglich drei offiziell anerkannte Grenzübergangsstellen gebe: Campocologno, Castasegna und Splügen. Der Grenzübertritt an jeder anderen Stelle in diesem Abschnitt sei demnach verboten. Der Verfasser fügt noch hinzu: «Nachdem es sich um eine von den Bundesbehörden erlassene Vorschrift handelt, begreift man den Standpunkt der Zollorgane nicht recht, dass sie diesem Grenzübertritt zum Zwecke des Schmuggels an andern [Fextal, Anm. d. Verf.] als an den bezeichneten Stellen ruhig zusehen.»¹⁰

    Sehr ausführlich nimmt der auf dem Polizeiposten von Silvaplana stationierte Landjäger Juon zwei Tage später gegenüber dem Kommando in Chur zu dieser Sachlage Stellung. Er erklärt, dass nach Kriegsende

    «[…] Inhaber von Lebensmittelgeschäften an der Grenze wie Münster, Campocologno & Castasegna […] bei unserer Behörde vorstellig geworden [sind], damit nun dieser Ausfuhrschmuggel seitens der Aufsichtsorgane […] geduldet werde. Sie begründeten dieses Begehren damit, dass ein solcher Ausfuhrschmuggel den Handel an der Grenze fördere. Soviel ich orientiert bin, hat unser Kleine Rat bei der Zolldirektion interveniert, damit eine Duldung in dieser Richtung erfolge.

    Es liegt klar auf der Hand, dass eine solche Instruktion nicht schriftlich erlassen wurde, bzw. werden durfte. Seither ist dann diese Duldung auch von der Grenzwacht sowie von der Kantonspolizei in Münster, Castasegna & Campocologno praktiziert worden.

    Diese konnte auch keine schlimmen Folgen nach sich tragen, da diese erwähnten Grenzorte auch unmittelbar an der Landesgrenze stehen. […]

    Es handelt sich hier […] nur um eine den Geschäftsleuten an der Grenze entgegenkommende Duldung eines illegalen Verkehr[s] abseits der Grenze. [!] & ohne Schriften erfolgter Grenzübertritt zum Ankaufe von Schmuggelwaren (Kaffee, Tabak etc.). Im Fextal bestand dieser Schmuggelverkehr auch bisher […] Diese Ausfuhrschmuggler überschreiten den Tremoggioübergang [!], durchschreiten das ganze Fextal, um in Sils ihre Ware anzukaufen. Ich habe von jeher diesen Schleichverkehr mit allen Mitteln unterbunden, indem ich Zurückweisungen, Verhaftungen & Abnahme von Bussendepositen zu Handen des Kreisamtes vornahm & bis 1929 hatte ich diesen auf ein Minimum heruntergesetzt.»¹¹

    Zur Begründung seines Vorgehens brachte Juon in seinem Rapport mehrere Argumente: Erstens sei Sils als Tourismusort mit «Sommer & Wintersaison» nicht so abhängig vom Schmuggelverkehr wie «die verkehrsarmen Gemeinden» Castasegna oder Campocologno – gemeint ist hier der touristische Verkehr. Zweitens, so Juon, liege Sils nicht direkt an der Grenze wie die genannten Orte, also seien die Schmuggler, um einkaufen zu können, genötigt, das ganze Fextal zu durchwandern, was schon zu kriminellen Aktionen geführt habe: «Das Fextal ist bewohnt & es sind dort auch verschiedene temporär leerstehende Fremden-Villen vorhanden. Zur Zeit meines Vorgängers ist schon vorgekommen, dass Schmuggler aus dem Malencotal ihre Gänge mit Diebstahl verbanden & auch Jagdfrevel wurde […] betrieben. Aus sicherheitspolizeilichen Gründen schon ist dieser Verkehr energisch zu unterbinden.»¹²

    Als dritten Grund für die Bekämpfung des Schmuggels im Fextal nennt der Landjäger die Gefahr, dass die Malenker, die auf dem Weg nach Sils «Alp & Weidegebiet» durchschreiten und «Viehställe als Unterschlupf» benutzen, auch Viehseuchen würden einschleppen können.

    Dadurch, dass «die Grenzwacht […] Weisung [hat], auch am Tremoggioübergang & Fextal diesen Ausfuhrschmuggel zu dulden»,¹³ würden sich, teilt Juon seinen Vorgesetzten mit, groteske Situationen ergeben: «Es kommt oft vor, dass die Kantonspolizei, zu gleicher Zeit auch die Grenzwacht, jedoch ohne Anwesenheitskenntnis voneinander, im Fextal Grenzkontrolle ausüben, wobei einreisende Schmuggler (Ausfuhrschmuggler) durch die Grenzwächter anstandslos nach Sils gehen dürfen. Unmittelbar nachher werden diese durch die Polizei verhaftet, zurückgewiesen oder durch Abnahme einer Bussenkaution für das Kreisamt beanstandet.»¹⁴

    Um diesen «Missstand, der von der Gemeindebehörde Sils sowie von der Bevölkerung nicht verstanden wird, zu beseitigen», hatte der Landjäger das Gespräch mit den Verantwortlichen bei der Grenzwacht und mit dem Silser Gemeindepräsidenten gesucht. Obwohl sich beide Seiten in Bezug auf den Ausfuhrschmuggel im Fextal mit ihm einverstanden erklärt hätten, habe sich nichts geändert: «Die Duldung besteht in ihrer vollen Auswirkung immer noch bei der Grenzwache, während ich immer noch das Gegenteil ausführe. Letzten Sommer [1931, Anm. d. Verf.] hat dieser illegale Grenzübertritt stark zugenommen, was immerhin auch dieser Duldung zuzuschreiben ist.»¹⁵

    Auch diese Stellungnahme des gewissenhaften Landjägers Juon führte zu keiner Änderung in der Haltung der Grenzwächter gegenüber den Warentransporten durch das Fextal und über die Grenze. Bis sich im März 1933 im Tal tatsächlich einer jener Zwischenfälle ereignete, vor denen der Landjäger von Silvaplana seine Vorgesetzten gewarnt hatte.

    Der Fexer Hotelier und langjährige Gemeindepräsident von Sils, Gian Fümm (1897–1956), besass zuhinterst im Tal sowohl das Hotel Fex als auch den nahegelegenen Hof Chalchais, einen landwirtschaftlichen Betrieb mit Wohnhaus und Ökonomiegebäuden. Das Gut wie das Hotel wurden im Winter nicht bewirtschaftet und blieben geschlossen. In der Nacht vom 8. auf den 9. März 1933 drang eine grössere Gruppe von Schmugglern in den Stall von Chalchais ein und machte Feuer, um sich aufzuwärmen. In der darüberliegenden Scheune lagerten 200 Zentner Heu. «[E]s ist ein wahres Wunder, dass es zu keinem Feuerausbruch gekommen ist», schrieb der Hotelier zwei Tage später in einem Brief an das kantonale Justiz- und Polizeidepartement in Chur.¹⁶ Aufschlussreich in diesem Schreiben ist nicht nur Fümms Beschreibung des damals sommers wie winters beträchtlichen Schmuggelverkehrs durch das Fextal, sondern auch sein Vorschlag zur Lösung des Problems: Er, der als Silser Gemeindepräsident bislang auf Juons Vorstösse zur Bekämpfung des Schmuggels im Fextal nicht reagiert hatte, wollte auch nach diesem Zwischenfall keinesfalls, dass man den Malenkern «das Handwerk legt»,¹⁷ denn er wusste, wie gross die ökonomischen Vorteile für die Silser Ladenbesitzer in dieser wirtschaftlichen Krisenzeit waren. Er zeigte strategisches Geschick, indem er stattdessen anregte, «dass man die Händler, die in Sils die Schmugglerware verkaufen, für einen eventuellen Schaden haftbar mache. Damit erhielten die Schmuggler von den Verkäufern die nötigen Instruktionen, wie sie sich zu verhalten haben.»¹⁸

    Gian Fümm, 1930er-Jahre.

    Das Hotel Fex im Fextal, 1920er-Jahre. Der Hof Chalchais ist im Hintergrund erkennbar.

    Der Hof Chalchais, um 1900.

    Erst gut zwei Monate nach dem Vorfall im Hof Chalchais, am 13. Mai 1933, bekam Gian Fümm endlich Antwort vom kantonalen Justiz- und Polizeidepartement. Dieses Schreiben bestätigt einmal mehr, dass die Zuständigkeiten in Bezug auf den Schmuggel damals unklar waren. Eigentlich, so stand im Schreiben des Polizeidepartements, «kann die Frage des Schmugglerunwesens nicht durch unser Polizei-Department gelöst werden».¹⁹ Aber: «Wir haben mit den Zollorganen Fühlung genommen, und es ist eine gemeinsame Besprechung in Aussicht genommen worden.»²⁰

    Ob diese Besprechung stattfand, ob Polizei- und Zollorgane gemeinsam Massnahmen ergriffen, ist aus den in diesem Konvolut enthaltenen Dokumenten nicht mehr direkt ersichtlich. Sicher ist, dass die Schmuggler nicht aufhörten, die Routen vom Valmalenco ins Fextal zu benutzen, um sich in Sils mit Waren einzudecken. So erhielt im Sommer darauf, am 2. Juli 1933, das kantonale Justiz- und Polizeidepartement in Chur wieder ein Schreiben aus Sils. Verfasser war dieses Mal der Besitzer eines Lebensmittelladens, Agostino Prevosti (1874–1948), der drei Schmuggler, Opfer einer ungerechten Justiz, in Schutz nehmen wollte. Prevosti beschwerte sich darüber, dass die drei Italiener im Fextal von dem «Gendarm Gefreiter Juon»²¹ mit zwanzig Franken pro Kopf gebüsst worden waren – damals eine wahrhaft hohe Summe. Offensichtlich führte also der Silvaplaner Landjäger seinen Einzelkampf gegen die «Missstände» im Fextal fort. Da Agostino Prevosti, der aus Vicosoprano im Bergell stammte, zu wissen meinte, dass «sonst überall in unserer Republik, zum Beispiel im Bergell und Puschlav, sich die Schmuggler ungestört bewegen können», konnte er nicht begreifen, «warum nur uns hier von der Polizei solche Hindernisse in den Weg gelegt werden»²² und fügte hinzu: «Diese Hindernisse verursachen uns erhebliche Schäden, die nicht leicht zu ertragen sind, und das besonders jetzt, da alle anderen Einkommensquellen infolge der herrschenden Krise stark zurückgegangen sind.»²³

    Agostino Prevosti, 1920er-Jahre.

    Rosa, Tosca, René und Fabio Prevosti (v.l.n.r.) vor ihrem Laden in Sils, 1947.

    Die Pension zur Post in Sils Ende 1940er-Jahre. Links das Lebensmittelgeschäft von Prevosti.

    Im Unterschied zu dem, was Juon am 11. November 1931 in seinem eingangs zitierten Schreiben an die Vorgesetzten in Chur behauptet hatte, waren die Händler selbst in einem touristischen Ort wie Sils aufgrund der Wirtschaftskrise, die auch dem Tourismus zusetzte, auf die Geschäfte mit Schmugglern angewiesen.

    Die aus diesem Brief sich entwickelnde Korrespondenz zwischen Prevosti, dem Churer Landjägerkommando und dem Oberengadiner Kreisgericht erstreckte sich über Monate. Schliesslich blieb aber alles beim Alten und die Malenker pendelten weiter zwischen Chiesa und Sils über die Berge, zumindest solange keine Viehseuche in Italien zur totalen Grenzschliessung führte.

    Eine Zeitzeugin aus Sils: Tosca Nett-Prevosti

    Agostino Prevostis Sohn Fabio und dessen Frau Rosa übernahmen später das Lebensmittelgeschäft in Sils Maria, im Erdgeschoss des heutigen Hotel Post. Ihre Tochter Tosca Nett-Prevosti (1930–2024) erinnert sich gut an die vielen Schmuggler, die in den 1930er-Jahren und dann während des Kriegs nach Sils kamen und bei ihnen Waren einkauften. Die meisten kannte Fabio Prevosti sehr gut, so seine Tochter, diese brauchten nicht gleich bar zu zahlen. Die Stammkunden hatten kleine Hefte, in die ihre Schulden eingetragen wurden. Beglichen wurden sie Ende Monat. Schmuggler aus demselben Malenker Dorf bildeten kleine Gruppen, jede Gruppe hatte ihr Heft bei Prevosti. Für Tosca und ihren jüngeren Bruder Renè waren diese fremden Männer abenteuerlich-märchenhafte Erscheinungen: «Wir haben geglaubt, das seien Ali Baba und die 40 Räuber. Denn die Schmuggler tauchten in grossen Gruppen und vermummt auf, meistens in der Nacht. Die Eltern erlaubten den erschöpften und hungrigen Männern, sich im Keller auszuruhen und dort auf dem Herd Polenta oder eine Suppe zu kochen, bevor sie die Rückreise antraten.»²⁴

    Perspektivenwechsel: eine Schmugglerstimme

    Einer dieser «40 Räuber», deren Erscheinung die Prevosti-Kinder stark beeindruckte, könnte jener Costanzo aus Chiesa in Valmalenco sein, dessen Erinnerungen an die Schmuggelzeit in den 1930er-Jahren von den Autoren Massimo Mandelli und Diego Zoia publiziert wurden:

    «In den 30er Jahren hat man geschmuggelt, weil es keine Arbeit gab, man wusste weder ein noch aus. Die ganze Familie machte mit, jeder, wie er konnte. Meine Mutter war eine sehr initiative Frau, sie brachte die geschmuggelte Ware den Leuten, die sie bestellt hatten, und zwar in ihrem Rückentragkorb, unter einem Reisigbündel. […] [I]n der Zeit, als die Grenze auch auf Schweizer Seite geschlossen war, weil auf unseren Alpen Fälle von Maul- und Klauenseuche festgestellt worden waren, […] ging man nicht unten durch das Fextal, sondern oben, auf Höhe des Lej Sgrischus, über den Engadiner Alpen […]. Einmal wurden ich und Fermo di Vassallini von der Polizei [Grenzwache, Anm. d. Verf.]²⁵ überrascht. Wir waren über den Piz Fora ins Fextal gekommen, hatten einen Teil der Ware bereits vom Dorfladen in Sils bis zum Waldrand transportiert und wollten nun zum Laden zurückkehren, um den Rest zu holen. Aber der Wächter hatte unsere Bewegungen die ganze Zeit mit dem Fernglas beobachtet und hielt uns an. Er war eigentlich sehr wohlwollend und gab die Schuld nicht so sehr uns, die eine so anstrengende Reise übernahmen, um etwas zu verdienen. Die Schweizer Händler hätten ja den aktuellen Gesetzen gehorchen und uns keine Waren verkaufen dürfen. Er brachte uns zum Wachtposten nach Maloja, wo man uns zu essen gab und sogar noch ein paar Brote für die Rückreise. Aber das Geld, das wir mit uns hatten, mussten wir den Polizisten als Strafgeld geben. Sie begleiteten uns bis zum Cavloc-See und gaben uns den Rat, nicht über den Murettopass zu gehen, der immer bewacht war. Viel sicherer war der Fornopass. Am Schluss schenkten sie uns sogar eine Packung Zigaretten.

    Des öfteren holten wir die Ware (Tabak, Zigaretten, Kaffee, Zucker) im Laden der ‹Witwe›²⁶ im Fex, nur wenn sie nichts hatte, gingen wir hinunter bis Sils, bis zum Laden, wo die Fexer Dame inzwischen Bescheid gegeben hatte, dass wir kommen würden und dass wir dies und jenes kaufen wollten. In Sils waren wir zuhause, die Leute, die uns die Ware verkauften, hatten so viel Vertrauen, dass sie uns ohne weiteres auch Kredit gegeben hätten. Es kam vor, dass einer von uns eine ‹bricolla› bis zum Tremoggiapass hochtrug […] und dann wieder hinunter ging, um eine zweite Ladung zu holen. Mit der geschmuggelten Ware konnte man gut verdienen: Wir kauften zum Beispiel Zucker für eine Lira pro Kilo und verkauften ihn für fünf Lire. Ein junger Mann, der dann als Soldat im Krieg an der russischen Front fiel, trug einmal allein 50 Kg. Zucker nach Hause. Eine denkwürdige Leistung. Normalerweise war eine bricolla 25 bis 30 Kg. schwer, nicht mehr.

    Oft enthielt der Sack verschiedene Waren, z. B. Zucker und Kaffee. Letzterer wurde in einem separaten Beutel über den grösseren Beutel mit Zucker gelegt, so dass man, wenn man von den Finanzieri gejagt wurde, den Kaffee abwerfen konnte, mit dem doppelten Nutzen (sozusagen), dass die Verfolger anhielten, um ihn aufzuheben, und wir schneller laufen konnten. Tabak und Zigaretten brachten mehr ein als Kaffee, insbesondere die wertvollen Marken, die einige Urlauber begehrten und die sie gut bezahlten. Die Schweizer Wächter waren anständige Leute, wenn wir uns gut benahmen, dann liessen sie uns in Ruhe, sie plauderten sogar gerne mit uns und gaben uns wichtige Informationen. Einige von uns hatten einen vertraulichen Umgang mit ihnen.»²⁷

    Wegen der Maul- und Klauenseuche wurde die Grenze zum italienischen Nachbarn in den 1930er-Jahren oft geschlossen, wie weiter hinten ausgeführt wird. In diesen Phasen war jeglicher Personenverkehr über die Grenze und jede Ein- und Ausfuhr von Waren verboten, denn auch durch Personen, Kleider oder Waren konnte die hochansteckende Tierkrankheit übertragen werden. Die Grenzwächter hatten dann die seuchenpolizeiliche Aufgabe, zu kontrollieren, ob die Massnahmen zur Bekämpfung der Viehseuchen befolgt wurden. Aber selbst in solchen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1