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Der historische Jesus: Ein Lehrbuch
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eBook1.429 Seiten15 Stunden

Der historische Jesus: Ein Lehrbuch

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Über dieses E-Book

Das Lehrbuch will auf möglichst sachliche und verständliche Weise über die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung zum historischen Jesus informieren. Jesus wird als eine auch heute noch erkennbare, tief im Judentum verwurzelte, profilierte Gestalt dargestellt. Es wird verständlich, dass seine Anhänger ihn als Messias und Gottessohn verehrten.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum8. Mai 2013
ISBN9783647995847
Der historische Jesus: Ein Lehrbuch
Autor

Gerd Theißen

Gerd Theißen ist Professor Emeritus für Neutestamentliche Theologie an der Universität Heidelberg.

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    Buchvorschau

    Der historische Jesus - Gerd Theißen

    § 1:   DIE GESCHICHTE DER LEBEN-JESU-FORSCHUNG

    M. Baumotte (Hg.), Die Frage nach dem historischen Jesus. Texte aus drei Jahrhunderten (Reader Theologie), Gütersloh 1984; M.J. Borg, Jesus in Contemporary Scholarship, Valley Forge 1994; H. Braun, Der Sinn der neutestamentlichen Christologie, ZThK 54 (1957) 341–377; J.D. Crossan, The Cross that Spoke: The Origins of the Passion Narrative, San Francisco 1988; ders., Jesus*; G. Ebeling, Jesus und Glaube, ZThK 55 (1958) 64–110; E. Fuchs, Die Frage nach dem historischen Jesus, ZThK 53 (1956) 210–229; D. Georgi, Art. Leben-Jesu-Theologie/Leben-Jesu-Forschung, TRE 20 (1990) 566–575; E. Käsemann, Problem*; ders., Sackgassen im Streit um den historischen Jesus, Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 1964,31–68; ders., Der Ruf der Freiheit, Tübingen 1968 ⁵1972; W.G. Kümmel, Vierzig Jahre Jesusforschung (1950–1990), BBB 91, Weinheim 1994 (Lit.!); S. Neill/T. Wright, The Interpretation of the New Testament 1861–1986, Oxford 1988; S. J. Patterson, The Gospel of Thomas and Jesus, Sonoma, CA 1993; E.P. Sanders, Jesus*; K.L. Schmidt, Rahmen*; H. Schürmann, Die vorösterlichen Anfänge der Logientradition, in: H. Ristow/K. Matthias (Hg.), Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, Berlin 1960, 342–370; ders., Jesus. Gestalt und Geheimnis, Paderborn 1994; A. Schweitzer, Geschichte*; P. Stuhlmacher, Jesus als Versöhner. Überlegungen zum Problem der Darstellung Jesu im Rahmen einer biblischen Theologie des Neuen Testaments, in: Jesus Christus in Historie und Theologie (FS H. Conzelmann), hrsg. von G. Strecker, Tübingen 1975, 87–104 (= P. Stuhlmacher, Versöhnung, Gesetz und Gerechtigkeit. Aufsätze zur biblischen Theologie, Göttingen 1981, 9–26); G. Theißen, Theologie*; W. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, Göttingen 1901 ⁴1969.

    EINFÜHRUNG

    Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung enthält eine große innere Dramatik. Eine ganze Kultur ist darin groß geworden, alle Gedanken auf eine einzige Gestalt zu richten, in ihr den menschgewordenen Gott zu verehren, den eschatologischen Richter zu fürchten, den Erlöser zu lieben. Welch eine intellektuelle Unabhängigkeit gehört dazu, sie zum Gegenstand historischer Kritik zu machen! Am Anfang stand die Kritik der Quellen. Gefragt wurde, ob in den evangelischen Berichten alles historisch oder authentisch sei. Und dabei ging es nicht darum, ob wenige »satanische Verse« in die Quellen geraten waren, sondern ob in sehr vielen Versen Jesus mit einer unhistorischen Aura von Mythos und Dichtung umgeben worden ist. Zur Quellenkritik trat der historische Relativismus. Selbst wenn wir ein historisch zuverlässiges Bild von Jesus hätten, bliebe das Problem, daß diese Gestalt tief in die Geschichte eingebettet und weniger singulär und absolut war, als man glaubte. Hinzu kam schließlich das Bewußtsein hermeneutischer Fremdheit: Auch wenn man historisch zuverlässige Berichte besäße und in ihnen einer unverwechselbaren Person begegnete – dieser Jesus, der vielen in der Kindheit so nah war wie ein guter Freund, entfernte sich in seine vergangene Welt mit Teufelsaustreibungen und fremden Weltuntergangsängsten.

    Trotz solcher Distanzierung durch Quellenkritik, historischen Relativismus und hermeneutische Fremdheit hängt unsere Kultur bis heute an dieser Gestalt. Auch dort, wo man zu ihr nicht mehr als »Herrn« aufschaut, sucht man in dem Rabbi aus Nazareth den großen Bruder als Bundesgenossen: Wo man für eine sozialistische Gestaltung der Gesellschaft plädiert, wird Jesus zum Vorläufer des Sozialismus, er, der die Reichen kritisierte und den Mammon ablehnte. Wo man für Lebensfreude wirbt, wird Jesus zum galiläischen Lebenskünstler, von engherzigen Zeitgenossen als »Fresser und Weinsäufer, Freund von Zöllnern und Sündern« beschimpft. Wo man auf existentialistische Entschiedenheit dringt, wird Jesus zum Prediger eines Entscheidungsrufs, der den Einzelnen aus Lebensvergessenheit herausruft. Wo man einen Humanismus befürwortet, der sich von kirchlicher Bevormundung emanzipiert, wird Jesus zum Herausforderer der religiösen Institutionen. War es nicht sein Anspruch, »Mensch« schlechthin, der »Menschensohn« zu sein?

    Die Geschichte der Jesus-Forschung und der Jesus-Bilder ist eine Geschichte immer neuer Distanzierungen und Annäherungen an Jesus. Im folgenden werden nur die wichtigsten Phasen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Jesus skizziert – mit grundsätzlichen und methodischen Einsichten, die bis heute nachwirken. Eben deswegen sei betont: Die Geschichte der Jesusbilder ist reicher als die Geschichte der wissenschaftlichen Jesusbilder.

    Lektürevorschlag

    Lesen Sie A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung*, 29–42 (Vorrede zur 5. Aufl.) und 620–630 (Schlußbetrachtung) und R. Bultmann, Jesus (GTB 17), Gütersloh ⁴1970, 149–158 (Nachwort von W. Schmithals).

    1.  FÜNF PHASEN DER LEBEN-JESU-FORSCHUNG

    1.1.  Erste Phase: Die kritischen »Anstöße« zur Frage nach dem historischen Jesus durch H.S. Reimarus und D.F. Strauß

    1.1.1.  Hermann Samuel Reimarus (1694–1768)

    Der Hamburger Professor für orientalische Sprachen H.S. Reimarus war zu seinen Lebzeiten ein literarischer Vorkämpfer für die Vernunftreligion des englischen Deismus. Die historisch-kritische Grundlegung seiner Gedanken in der »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes« machte er dagegen nur engen Freunden zugänglich. Nach seinem Tod veröffentlichte G.E. Lessing sieben Fragmente aus diesem Werk (1774–78), ohne die Identität des Verfassers preiszugeben.¹ Mit Reimarus beginnt die Beschäftigung mit dem Leben Jesu unter rein historischen Gesichtspunkten.

    1. Bahnbrechend ist vor allem der methodische Ausgangspunkt; Reimarus unterscheidet die Verkündigung Jesu vom Christus glauben der Apostel: »ich finde große Ursache, dasjenige, was die Apostel in ihren eigenen Schriften vorbringen, von dem, was Jesus in seinem Leben würklich selbst ausgesprochen und gelehret hat, gänzlich abzusondern.«²

    2. Diesem Ausgangspunkt entspricht die historische Erkenntnis, daß die Verkündigung Jesu nur aus dem Kontext der jüdischen Religion seiner Zeit heraus zu verstehen ist. Das Zentrum der Verkündigung Jesu sieht Reimarus in der Predigt von der Nähe des Himmelreiches und dem daraus folgenden Ruf zur Buße. Dies ist »nach Jüdischer Redensart« zu verstehen. Jesus verheißt ein weltliches Königreich, »das Reich Christi oder des Meßias, worauf die Juden so lange gewartet und gehoffet hatten«.³ Jesus ist eine jüdische prophetisch-apokalyptische Gestalt, das sich vom Judentum lösende Christentum dagegen eine Neuschöpfung der Apostel.

    3. Die Diskrepanz zwischen der politisch-messianischen Botschaft Jesu und der Verkündigung eines durch Leiden erlösenden, auferstehenden und wiederkommenden Christus durch die Apostel erklärt Reimarus durch eine objektive Betrugstheorie. Die Jünger Jesu hätten, um sich nicht wie Jesus selbst als gescheitert ansehen zu müssen, den Leichnam gestohlen (vgl. Mt 28,11–15) und nach 50 Tagen (als die Leiche nicht mehr identifizierbar war) seine Auferstehung und baldige Wiederkunft verkündigt.

    Während die methodische Trennung zwischen dem historischen Jesus und dem Christusglauben der Apostel bis heute maßgeblich ist und die Einordnung Jesu in seinen jüdischen Kontext heute wieder zur Geltung kommt, wurde die Erklärung des Christusglaubens durch »Betrug« schon bald von einem zweiten großen Kritiker korrigiert: von D.F. Strauß.

    1.1.2.  David Friedrich Strauß (1808–1874)

    Der Philosoph und Theologe D.F. Strauß, Schüler F.Chr. Baurs und F.W. Hegels, veröffentlichte 1835/36 sein aufsehenerregendes »Leben Jesu«,⁴ das eine Flut von Widerlegungsversuchen hervorrief, seinem Verfasser lebenslange gesellschaftliche Ächtung bescherte, hinter dessen Grundthese von der mythischen Ausgestaltung der Jesusüberlieferung die Forschung aber nicht mehr zurück kann.

    1. Strauß’ Hauptverdienst ist die Anwendung des in der alttestamentlichen Forschung seiner Zeit bereits geläufigen Mythosbegriffs auf die Evangelien. Die mythische Betrachtung der Jesusüberlieferung erweist er als Synthese (im Hegelschen Sinn) aus den unzulänglichen Deutungen des Supranaturalismus einerseits und des Rationalismus andererseits.

    Das Hauptinteresse der rationalistischen Leben-Jesu-Darstellungen liegt in der »vernünftigen« Erklärung der Wunder Jesu und der wunderhaften Züge in den Evangelien. Beispielhaft wäre H.E.G. Paulus (1789–1851) zu nennen.⁵ Mehr oder weniger scharfsinnige Überlegungen sollen die Wunder dem »aufgeklärten« Bewußtsein verständlich machen (Auferweckung als Scheintod, Seewandel als Jüngervision etc.), die Darstellung der Evangelisten wird als Konzession an die »jüdische Wundersucht« entschuldigt. Strauß bereitete die Widerlegung dieser Art der Wunderdeutung noch größeres Vergnügen als die Auseinandersetzung mit der traditionellnaiven (supranaturalistischen) Gläubigkeit. Er spielt in allen Abschnitten seines Leben Jesu zunächst beide Richtungen gegeneinander aus, erweist ihre Mangelhaftigkeit und zeigt dann, daß die mythische Betrachtungsweise alle Probleme löst.

    Überall, wo in den Evangelienberichten die Naturgesetze außer Kraft gesetzt werden, die Überlieferungen einander widersprechen oder religionsgeschichtlich verbreitete, besonders alttestamentliche Motive auf Jesus übertragen werden, sieht Strauß den Mythos, »die absichtslos dichtende Sage«, am Werk.⁶ Unhistorisches wird – anders als bei Reimarus – nicht mehr auf bewußten Betrug zurückgeführt, sondern auf einen unbewußten Prozeß mythischer Imagination.

    2. Der innere Kern des christlichen Glaubens wird für den erklärten Hegelianer Strauß durch die mythische Betrachtungsweise nicht berührt. Denn in dem historischen Individuum Jesus realisiert sich die Idee der Gottmenschlichkeit, die höchste aller Ideen. Der Mythos ist die legitime »geschichtartige« Einkleidung dieser allgemein menschlichen Idee.

    3. Strauß hat auch als erster erkannt, daß das Johannesevangelium von theologischen Prämissen aus gestaltet und historisch weniger vertrauenswürdig als die Synoptiker ist. Zum Durchbruch verhalf dieser These F.Chr. Baur. Die Schwäche von Strauß’ Kritik lag in der von ihm vertretenen literarischen Verhältnisbestimmung der synoptischen Evangelien untereinander: Er vertrat die Ansicht, Mt und Lk seien die ältesten Evangelien, Mk ein Exzerpt aus beiden (die sog. Grießbach’sche Hypothese). Mit der Klärung der Quellenverhältnisse durch die Zwei-Quellen-Theorie konnte daher die liberale Theologie hoffen, den von Strauß ausgelösten »Schock« aufzufangen.

    1.2.  Zweite Phase: Der Optimismus der liberalen Leben-Jesu-Forschung

    Die Zeit des wilhelminischen Kaiserreichs war in Deutschland die Blütezeit des theologischen Liberalismus und der klassischen »Leben-Jesu-Forschung«. Man hoffte, durch historisch-kritische Rekonstruktion der autoritativen Persönlichkeit Jesu und ihrer Geschichte den christlichen Glauben zu erneuern und dabei das kirchliche Christusdogma hinter sich zu lassen. Als beispielhafter Vertreter kann Heinrich Julius Holtzmann (1832–1910) gelten.

    1. Die methodische Basis der liberalen Jesusforschung ist die literarkritische Erschließung der ältesten Quellen über Jesus: F.Chr. Baur erwies den Vorrang der Synoptiker vor dem Johannesevangelium, und H.J. Holtzmann verhalf der durch Christian Gottlob Wilke und Christian Hermann Weiße entwickelten Zwei-Quellen-Theorie zu dauerhaftem Erfolg:⁸ Mk und Q galten jetzt als älteste und weithin zuverlässige Quellen für den historischen Jesus, d.h. eine Quelle, die bisher im Schatten des Interesses gestanden hatte (Mk), und eine erst durch die Wissenschaft rekonstruierte Quelle (Q). Eine Emanzipation vom tradierten kirchlichen Jesusbild schien auf dieser Grundlage möglich.

    2. Aus dem Markusevangelium übernahm Holtzmann den Aufriß des Lebens Jesu, wobei er eine biographische Entwicklung mit Wendepunkt in Mk 8 herauslas: in Galiläa habe sich das messianische Bewußtsein Jesu gebildet, in Cäsarea Philippi gab er sich den Jüngern als Messias zu erkennen. In den aus Mk gewonnen biographischen Rahmen wurden die aus der Logienquelle rekonstruierten authentischen Worte Jesu eingefügt.

    3. Ergebnis der Verknüpfung der apriorischen Vorstellung einer sich in den Quellen spiegelnden Entwicklung der Persönlichkeit Jesu mit scharfsinniger literarkritischer Analyse sind die liberalen »Leben Jesu«, die das Persönlichkeitsideal ihres Verfassers in den Quellen über Jesus wiederzufinden glauben.

    1.3.  Dritte Phase: Die Krise der Leben-Jesu-Forschung

    In der Endphase des theologischen Liberalismus um die Jahrhundertwende führten drei wissenschaftliche Einsichten zu einer Krise der Leben-Jesu-Theologie:

    1. Der projektive Charakter der Leben-Jesu-Bilder wurde durch A. Schweitzers »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung« aufgedeckt.⁹ Schweitzer zeigte, daß jedes der liberalen Jesusbilder genau die Persönlichkeitsstruktur aufwies, die in den Augen ihres Verfassers als höchstes anzustrebendes, ethisches Ideal galt.

    2. Den tendenziösen Charakter der ältesten erhaltenen Quelle für das Leben Jesu wies W. Wrede 1901 nach: Das MkEv sei Ausdruck von Gemeindedogmatik. Der nachösterliche Glaube an die Messianität Jesu werde in ihm in das an sich unmessianische Leben Jesu zurückprojeziert. Die unhistorische »Messiasgeheimnistheorie« präge das ganze MkEv.¹⁰ Damit brach das Zutrauen zusammen, durch Rekurs auf zwei alte Quellen zwischen der Geschichte Jesu und nachösterlichem Christusbild unterscheiden zu können.

    3. Der fragmentarische Charakter der Evangelien wurde von K.L. Schmidt nachgewiesen, indem er zeigte, daß die Jesusüberlieferung aus »kleinen Einheiten« besteht und der chronologische und geographische »Rahmen der Geschichte Jesu«* sekundär vom Evangelisten Markus geschaffen wurde. Damit entfiel die Möglichkeit, eine Entwicklung der Persönlichkeit Jesu aus der Reihenfolge der Perikopen herauszulesen. Die Formgeschichte erkannte zudem, daß auch die »kleinen Einheiten« primär durch Gemeindebedürfnisse und nur sekundär durch historische Erinnerung geprägt sind – der kerygmatische Charakter der Jesusüberlieferung bestimmt auch die kleinste Perikope (M. Dibelius, FG* 1919, R. Bultmann, GST* 1921).

    Die durch diese Erkenntnisse hervorgerufene Skepsis wurde durch theologische Motive teils »aufgefangen«, teils programmatisch verschärft, so z.B. bei R. Bultmann (1884–1976), dem bedeutendsten Exegeten der dialektischen Theologie, die in der Zeit von 1919 bis 1968 ihre Blütezeit hatte.

    1. Die dialektische Theologie setzte Gott und Welt einander so radikal entgegen, daß sie sich nur in einem Punkt – wie die Tangente den Kreis – berühren: im »Daß« des Gekommenseins Jesu und im »Daß« seines Weggangs, in Kreuz und Auferstehung. Als entscheidend galt nicht, was Jesus gesagt und getan hatte, sondern was Gott in Kreuz und Auferstehung getan und gesagt hatte. Die Botschaft von diesem Handeln Gottes, das neutestamentliche »Kerygma«, hat nicht den historischen Jesus, sondern den »kerygmatischen Christus« zum Gegenstand.

    2. Nach Auffassung der existentialistischen Philosophie gewinnt der Mensch seine »Eigentlichkeit« erst in der Entscheidung, die nicht durch objektivierbare Argumente (wie historisches Wissen) abgesichert werden kann. Für einen christlichen Existentialismus ist diese Entscheidung Antwort auf den Ruf Gottes im Kerygma von Kreuz und Auferstehung Christi, das der Mensch durch ein existentielles Mit-Christus-Sterben und Leben nachvollzieht.

    3. Die beiden profiliertesten Entwürfe neutestamentlicher Theologie zeigen wenig Interesse am historischen Jesus. Paulus leugnet in 2Kor 5,16, daß es von theologischer Bedeutung ist, Christus nach dem Fleisch gekannt zu haben.¹¹ Im Johannesevangelium offenbart der Offenbarer nur, daß er der Offenbarer ist. Beide entfalten das Kerygma, d.h. einen nachösterlichen Glauben, der im Lichte von Kreuz und Auferstehung die vorösterliche Erinnerung »umgeschmolzen« hat. Wenn D.F. Strauß die Wahrheit des Christusmythos in der »Idee« sah, so R. Bultmann im »Kerygma«, einem von außen kommenden »Ruf Gottes«.

    4. Die religionsgeschichtliche Forschung machte deutlich, daß Jesus theologisch ins Judentum gehört¹² und das Christentum erst mit Ostern beginnt. R. Bultmann zog daraus den Schluß, daß die Lehre Jesu für eine christliche Theologie nicht von Bedeutung sei.¹³ Er konzedierte jedoch, daß die nachösterliche Christologie im vorösterlichen Entscheidungsruf Jesu »implizit« angelegt sei. Das war der Ausgangspunkt für seine Schüler, die Frage nach dem historischen Jesus neu zu stellen.

    1.4.  Vierte Phase: Die »neue Frage« nach dem historischen Jesus

    Während die (alte) liberale Frage nach dem historischen Jesus diesen gegen die Verkündigung der Kirche ausspielte, geht die im Kreis der Bultmannschüler aufbrechende »neue Frage«¹⁴ vom kerygmatisehen Christus aus und fragt, ob dessen in Kreuz und Auferstehung begründete Hoheit einen »Anhalt« in der vorösterlichen Verkündigung Jesu hat.¹⁵

    1. Das christologische Kerygma verpflichtet selbst zur Rückfrage nach dem historischen Jesus«, da es sich (in antienthusiastischer Frontstellung¹⁶) auf eine irdische Gestalt beruft und von ihr als einer irdischen Gestalt in den Evangelien erzählt. Die Identität des irdischen Jesus und des erhöhten Christus ist in allen urchristlichen Schriften vorausgesetzt.

    2. Die methodische Basis der »Rückfrage nach dem historischen Jesus« ist die Zuversicht, daß ein kritisch gesichertes Minimum »echter« Jesusüberlieferung gefunden werden kann, wenn man alles ausscheidet, was aus dem Judentum wie aus dem Urchristentum ableitbar ist. An die Stelle der literarkritischen Konstruktion der ältesten Quellen in der »alten« Leben-Jesu-Forschung der liberalen Theologie tritt methodisch ein religions- und traditionsgeschichtlicher Vergleich: das »Differenzkriterium«

    3. Die Suche nach einem vorösterlichen Anhalt des Christuskerygmas ist unabhängig davon, ob Jesus christologische Titel (wie Menschensohn, Messias, Sohn Gottes) gebraucht hat. Dieser Anspruch ist vielmehr implizit in seinem Verhalten und seiner Verkündigung enthalten:

    • als Entscheidungsruf Jesu angesichts der Gegenwart Gottes in der beginnenden Gottesherrschaft (R. Bultmann);¹⁷

    • als Gesetzeskritik Jesu, welche die Grundlagen aller antiken Religion in Frage stelle, ein »Ruf der Freiheit« (E. Käsemann);¹⁸

    • als Unmittelbarkeit Jesu, durch die er sich von Apokalyptik und Kasuistik seiner Umwelt unterscheide (G. Bornkamm);¹⁹

    • als Inanspruchnahme der Liebe Gottes für die Sünder sowohl im Verhalten wie in der Verkündigung Jesu (E. Fuchs);²⁰

    • als paradoxe Einheit der radikalisierten Thora und der radikalen Gnade, in denen Gottes Willen in Jesus begegnet und geschieht (H. Braun);²¹

    • als »Jesu Glauben«, der ihm Partizipation an Gottes Allmacht ermögliche: »Alles ist möglich dem, der glaubt« (G. Ebeling).²²

    4. Die theologische Intention, das Christuskerygma in nuce schon in der Verkündigung Jesu zu entdecken, führte im Verbund mit dem Differenzkriterium zwangsläufig zur Wahrnehmung Jesu im Kontrast zum Judentum.²³

    Exkurs: Die jüdische Jesusforschung

    G. Lindeskog, Die Jesusfrage im neuzeitlichen Judentum. Ein Beitrag zur Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (AMNSU 8), Leipzig/Uppsala 1938; W. Vogler, Jüdische Jesusinterpretationen in christlicher Sicht (AKG(W) 11), Weimar 1988.

    Während die christliche Theologie mit einer Abkehr vom theologischen Liberalismus die Suche nach dem historischen Jesus abwertete, setzte die gleichzeitig beginnende wissenschaftliche jüdische Jesusforschung die liberale Tradition fort und betonte dabei Aspekte, die in der christlichen Forschung zu kurz kamen, nämlich den jüdischen Charakter des Lebens und der Lehre Jesu – ein Vorgang, der zur »Heimholung Jesu ins Judentum« gehört. Weil man den Konflikt mit dem jüdischen Gesetz nicht mehr im Zentrum des Lebens Jesu verortete, wurden andere Möglichkeiten erwogen, Jesu gewaltsamen Tod historisch zu deuten: War er vielleicht ein politischer Rebell gegen die Römer? Die drei klassischen Jesusdarstellungen der Anfang dieses Jahrhunderts beginnenden jüdischen Jesusforschung stellen Jesus als Ethiker, Prophet und Rebell dar:

    1. Jesus als Ethiker: J. Klausner (Jesus von Nazareth, hebr. 1907, deutsch Berlin 1934) sah in Jesus den Vertreter einer beeindruckenden jüdischen Ethik. Er konnte ihn als extremen »Nationalisten« bezeichnen (573) – jedoch mit einem »neuen Gottesbegriff« (527), der sich von der Bindung an Volk und Geschichte löst.

    2. Jesus als Prophet: C.G. Montefiore (The Synoptic Gospels, 2 Bde, London 1909 ²1927 und mit vielen weiteren Veröffentlichungen) ist wohl der bedeutendste dieser ersten jüdischen Jesusforscher: Jesus setzt für ihn die Reihe der großen Propheten fort, jedoch in einer geschichtlich veränderten Situation. Die alten Propheten mußten sich noch nicht mit dem Gesetz als einer fertigen, abgeschlossenen Größe auseinandersetzen. Sie polemisierten gegen den Opferkult. Dieser aber war zu Jesu Zeiten auf den Jerusalemer Tempel beschränkt, während andere Riten – Sabbat, Speisegebote, Reinheitsgebote – sich veräußerlichten. Daher griff Jesus diese Riten an.

    3. Jesus als Rebell: Die am Anfang der Jesusforschung stehende These, Jesus habe ein weltliches Königreich gründen wollen (vgl. oben S. 22f zu Reimarus), lebte bei R. Eisler (ΙΗΣΟΥΣ ΒΑΣΙΛΕΥΣ ΟY ΒΑΣΙΛΕYΣΑΣ, 2 Bde, Heidelberg 1929/30)²⁴ wieder auf: In der ersten Hälfte seines Lebens habe Jesus eine gewaltfreie Lehre vertreten, dann aber mit Gewalt den Tempel erobert und besetzt und sei schließlich im Konflikt mit den Römern gescheitert.

    Die jüdische Jesusforschung hat sich auch von den speziellen theologischen Fragen der »neuen Frage« nach dem historischen Jesus frei gehalten. Zwei neuere Vertreter wurden so zu Vorläufern und Vertretern der »third quest« (s.u. 1.5.): D. Flusser (Jesus*, 1968) stellte Jesus als gesetzestreuen Juden dar. Nicht die Gesetzeskritik, sondern das Liebesgebot, die Überwindung des Vergeltungsgedankens und die Erwartung des Reiches Gottes – alles jüdische Traditionen – bestimmen seine Verkündigung. G. Vermes (Jesus the Jew, 1973) ordnete Jesus in ein charismatisches Milieu in Galiläa ein: Wundertaten und Weisheitssprüche finden wir auch bei Hanina ben Dosa im damaligen Gaüläa verbunden. Den christologischen »Hoheitstiteln« gibt er eine in den Rahmen des Judentums passende Interpretation: Menschensohn meine schlicht »einen Menschen« – eine These, die schon J. Wellhausen vertreten hatte – oder sei eine Umschreibung für »ich«.

    1.5.  Fünfte Phase: The »third quest« for the historical Jesus

    Mit dem Ausklingen der Bultmannschule wurden die Einseitigkeiten der »neuen Frage« nach dem historischen Jesus immer deutlicher. Sie war primär von dem theologischen Interesse bestimmt, christliche Identität durch Abgrenzung gegenüber dem Judentum zu begründen und durch Abgrenzung zu urchristlichen »Häresien« (wie Gnosis und Enthusiasmus) zu sichern. Sie bevorzugte daher »rechtgläubige« kanonische Quellen. In der zunächst vorwiegend im angelsächsischen Sprachraum hervorgetretenen »third quest«²⁵ tritt an die Stelle des theologischen ein sozialgeschichtliches Interesse, an die Stelle der Abgrenzung Jesu vom Judentum seine Einordnung in das Judentum, an die Stelle der Bevorzugung kanonischer Quellen die Offenheit auch für (z.T. »häretische«) nicht-kanonische Quellen.

    1. Das sozialgeschichtliche Interesse: Im Auftreten und Geschick Jesu schlagen sich die für die jüdische Gesellschaft des 1. Jh. n.Chr. charakteristischen Spannungen nieder. Vergleichbare »millenaristische« Erneuerungsbewegungen²⁶ in anderen Kulturen sind immer durch eine dominierende prophetische Gestalt geprägt. Auf sie können wir auch im Urchristentum zurückschließen: Zwischen dem vorösterlichen Jesuskreis und dem nachösterlichen Christentum gibt es in sozialer Hinsicht Kontinuität.²⁷ Urchristliche Wandercharismatiker führten den Predigt- und Lebensstil Jesu weiter.²⁸

    2. Die Einordnung ins Judentum: Jesus ist Gründer einer »innerjüdischen Erneuerungsbewegung«, deren Intensivierung von Thora und Eschatologie formal anderen »radikaltheokratischen« Bewegungen entspricht.²⁹ Inhaltlich ist die Verkündigung Jesu »Restaurationseschatologie«: Sie zielt auf Wiederherstellung des jüdischen Volkes.³⁰ Zwischen Jesus und dem kerygmatischen Christus besteht auch theologisch größere Kontinuität, da die Hoheit Jesu nach Ostern mit Hilfe jüdisch-biblischer Interpretationsmuster artikuliert wurde.³¹

    3. Die Berücksichtigung nicht-kanonischer Quellen: Zunehmende Bedeutung gewinnt die aus den kanonischen Quellen rekonstruierte Logienquelle und das um 1945 gefundene Thomasevangelium, soweit es als unabhängig von den synoptischen Evangelien eingeschätzt wird.³² Konsens ist, daß die Mannigfaltigkeit urchristlicher Jesusbilder unabhängig von der Kanongrenze verständlich gemacht werden muß (H. Köster; J. Robinson).³³ Umstritten ist freilich die Bevorzugung außerkanonischer Quellen vor den kanonischen Quellen bei J.D. Crossan, der keines der kanonischen Evangelien zu den primären Quellen zählt, wohl aber u.a. die älteste Schicht des ThEv, das Egerton-Evangelium, das Hebräer-Evangelium, die Logienquelle und ein aus dem Petrus-Evangelium rekonstruiertes »Cross Gospel«.³⁴

    Inzwischen hat sich die Jesusforschung innerhalb der »third quest« in verschiedene Strömungen aufgespalten (vgl. M.J. Borg, Jesus). Die wichtigste Ausdifferenzierung ist auf der einen Seite die Rückkehr zu einem »nicht-eschatologischen Jesusbild«, bei dem Jesus zum Vertreter paradoxer Lebensweisheit wird, beeinflußt vom Kynismus – ein »jüdischer Kyniker«, der, von hellenistischen Einflüssen geprägt, an den Rand des Judentums rückt (B.L. Mack; J.D. Crossan). Auf der anderen Seite wird er wie in der bisherigen Forschung im Rahmen seiner Eschatologie interpretiert und mitten im Judentum angesiedelt, auf dessen Wiederherstellung er hoffte (E.P. Sanders). Die hier vorgelegte Jesusdeutung gehört zur zweiten Richtung. Der »nichteschatologische Jesus« scheint mehr kalifornisches als galiläisches Lokalkolorit zu haben.

    Für alle Strömungen innerhalb der »third quest« aber gilt: Die Jesusforschung löst sich eindeutig vom »Differenzkriterium« als methodischer Grundlage der Jesusforschung, sie tendiert zu einem historischen Plausibilitätskriterium: Was im jüdischen Kontext plausibel ist und die Entstehung des Urchristentums verständlich macht, dürfte historisch sein (s.u. § 4).

    2.  ZUSAMMENFASSENDE ÜBERSICHT: DIE GESCHICHTE DER LEBEN-JESU-FORSCHUNG

    3.  HERMENEUTISCHE REFLEXION

    Die Vielfalt der Jesusbilder legt den Verdacht nahe, Jesusdarstellungen seien in Wirklichkeit Selbstdarstellungen ihrer Autoren. Daß sie gewiß mehr sind als das, zeigt folgendes Gedankenexperiment: Man nehme alle biographischen Darstellungen der Weltgeschichte und anonymisiere sie durch Tilgung von Eigennamen (also von Personen, Orten und Institutionen) – trotzdem würden sich alle Jesusbücher deutlich aus ihnen herausheben. Denn sie müßten dieselben Quellen benutzen, dieselbe Konstellation von Personen erkennen lassen, dieselben Kernsätze Jesu zitieren. Schon die Stichworte: »zwölf Jünger«, die Mahnung »Liebet eure Feinde!« und die Erwähnung der Kreuzigung reichten zur eindeutigen Identifikation aus.

    Dennoch bliebe eine große Spannbreite. Denn alle Jesusdarstellungen enthalten ein konstruktives Element, das über die in den Quellen enthaltenen Daten hinausgeht. Historische Imagination schafft mit ihren Hypothesen ebenso eine »Fiktionalitätsaura« um die Gestalt Jesu wie die religiöse Imagination des Urchristentums. Denn hier wie dort ist eine kreative Vorstellungskraft am Werk, entzündet durch dieselbe historische Gestalt. Hier wie dort wirkt sie in unabgeschlossener Weise: Religiöse Symbole, Bilder und Mythen lassen sich immer wieder neu interpretieren, historische Hypothesen immer wieder neu korrigieren. Dabei verfährt weder die religiöse noch die historische Konstruktion der Geschichte Jesu willkürlich, sondern aufgrund von axiomatischen Überzeugungen. Die religiöse Imagination des Urchristentums wird von dem festen Glauben geleitet, daß durch Jesus eine Kontaktaufnahme mit Gott, der letztgültigen Wirklichkeit, möglich ist. Die historische Imagination ist durch die Grundüberzeugungen des historischen Bewußtseins bestimmt: Alle Quellen stammen von irrtumsfähigen Menschen und müssen deshalb historischer Kritik unterzogen werden. Ferner müssen sie alle im Lichte eines historischen Relativismus gedeutet werden, der weiß: Alles steht in Korrelation mit anderem; alles hat Analogien. Schließlich gilt der Grundsatz, daß der historische Abstand eine anachronistische Deutung der Quellen im Rahmen gegenwärtiger Werte und Überzeugungen verbietet. Wissenschaftliche Jesusdarstellungen sind von solchen Ideen geleitete Konstrukte historischer Imagination: relativ willkürfreie, an Quellen korrigierbare und in ihren Voraussetzungen durchschaubare Gebilde. Geht es der religiösen Imagination um Zugang zu Gott, so der historischen um Zugang zu einer vergangenen Wirklichkeit. Daher sind historische Quellen das entscheidende Kriterium für ihre Arbeit. Alles muß sich an ihnen messen, jeder Gedanke ihnen unterworfen werden. Mit einer Vorstellung der Quellen zum historischen Jesus muß daher jede wissenschaftliche Jesusdarstellung beginnen.

    4.  AUFGABEN

    4.1.  Fünf Phasen der Leben-Jesu-Forschung

    Im folgenden finden Sie fünf Texte, die jeweils einer der fünf Phasen der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung angehören. Ordnen Sie die Texte der jeweiligen Epoche zu und begründen Sie Ihre Zuordnung, indem Sie kurz die wichtigsten Identifikationsmerkmale notieren. Wagen Sie außerdem einen Tip, wer der Verfasser sein könnte.

    Text 1:

    »Einig ist sich wohl die gesamte Exegese darin, daß an der Authentie der ersten, zweiten und vierten Antithese der Bergpredigt nicht gezweifelt werden kann. … Entscheidend ist …, daß mit dem ἐγώ δὲ λέγω [= ich aber sage] eine Autorität beansprucht wird, welche neben und gegen diejenige des Moses tritt. … Dazu gibt es keine Parallelen auf jüdischem Boden und kann es sie nicht geben. Denn der Jude, der tut, was hier geschieht, hat sich aus dem Verband des Judentums gelöst oder – er bringt die messianische Tora und ist der Messias. … Die Unerhörtheit des Wortes bezeugt seine Echtheit. … Jesus … ist wohl Jude gewesen und setzt spätjüdische Frömmigkeit voraus, aber er zerbricht gleichzeitig mit seinem Anspruch diese Sphäre.«

    Text 2:

    »Man denke sich eine junge Gemeinde, welche ihren Stifter … verehrt, … eine Gemeinde, geschwängert mit einer Masse neuer Ideen, … eine Gemeinde… von größtentheils ungelehrten Menschen, welche also jene Ideen nicht in der abstrakten Form des Verstandes und Begriffs, sondern einzig in der concreten Weise der Phantasie, als Bilder und Geschichten sich anzueignen und auszudrücken im Stande waren: … es mußte unter diesen Umständen entstehen, was entstanden ist, eine Reihe heiliger Erzählungen, durch welche man die ganze Masse neuer, durch Jesum angeregter, so wie alter, auf ihn übertragener Ideen als einzelne Momente seines Lebens sich zur Anschauung brachte. Das einfache historische Gerüste des Lebens Jesu … wurde mit den mannigfaltigsten und sinnvollsten Gewinden frommer Reflexionen und Phantasieen umgeben, indem alle Ideen, welche die erste Christenheit über ihren entrissenen Meister hatte, in Thatsachen verwandelt, seinem Lebenslaufe eingewoben wurden.«

    Text 3:

    »Denn freilich bin ich der Meinung, daß wir vom Leben und von der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen können, da die christlichen Quellen sich dafür nicht interessiert haben, außerdem sehr fragmentarisch und von der Legende überwuchert sind, und da andere Quellen über Jesus nicht existieren. Was seit etwa anderthalb Jahrhunderten über das Leben Jesu, seine Persönlichkeit, seine innere Entwicklung … geschrieben ist, ist … phantastisch und romanhaft. … Ich habe aber in der folgenden Darstellung diese Frage überhaupt nicht berücksichtigt, und zwar im letzten Grunde nicht deshalb, weil sich darüber nichts Sicheres sagen läßt, sondern weil ich die Frage für nebensächlich halte.«

    Text 4:

    »Was immer Jesus sonst noch war, er war ein Jude aus Galiläa, und die Jesusbewegung war zumindest in den Anfängen galiläisch- oder jedenfalls palästinisch-jüdisch. … Es gibt … zwei Zugänge zu Jesus: die Geschichte des Urchristentums, soweit sie sich als Wirkungsgeschichte Jesu begreifen läßt, und die Geschichte Palästinas, soweit sie der Ort des Wirkens Jesu war … Die Zugänge ergänzen sich, zum Teil überlappen sie sich. Jesus und die Anfänge des Urchristentums gehören selber zur Geschichte des palästinischen Judentums.«

    Text 5:

    »Schließlich muß auch darauf noch aufmerksam gemacht werden, wie beide Quellen [gemeint sind Mk und Q] sich so vollkommen homogen verhalten bezüglich des Materials, das sie eingehenderen Bestimmungsversuchen des sittlichen Charakters Jesu überhaupt bieten. Hier wie dort wird ein harmonisch angelegtes Geistesbild entfaltet, dessen Grundzug in der Kräftigkeit des allezeit und allerorts präsenten Gottesbewusstseins besteht; eine vielseitig fortschreitende Lebensentwicklung, deren treibendes Princip der religiös-sittliche Faktor bildet«.

    _____________

    ¹ Besonders das 6. und 7. Fragment (»Über die Auferstehungsgeschichte«; »Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger«) sind für die Frage nach dem historischen Jesus von Bedeutung.

    ² Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger, § 3; zit. nach M. Baumotte, Frage.

    ³ Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger, § 4.

    ⁴ D.F. Strauß, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, 2 Bde, Tübingen 1835/36; ²1837; 3. entschärfte Auflage 1838/39; 4. wieder mit der Erstauflage übereinstimmende Fassung 1840.

    ⁵ Das Leben Jesu als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentums, Heidelberg 1828.

    ⁶ Strauß bestreitet zwar nicht, daß die Erzählungen auch historische Erinnerungen enthalten, diesen aber gilt nicht sein Interesse, ihm liegt allein an der Aufdeckung der Allgegenwart des Mythos.

    ⁷ Es würde zu weit führen, die spekulative Christologie Strauß’ zu entfalten. Hingewiesen sei noch auf die für orthodoxe Zeitgenossen hochanstößige Folgerung, eine Idee realisiere sich nicht in einem Exemplar, darum seien die klassischen Attribute Christi (Vereinigung von göttlicher und menschlicher Natur etc.) der Menschheit als ganzer (als Gattung) zuzuweisen.

    ⁸ Maßgebend war H.J. Holtzmanns Werk »Die synoptischen Evangelien. Ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter«, Leipzig 1863. Die Zwei-Quellen-Theorie wird u. S. 41f kurz dargestellt.

    ⁹ Die 1. Auflage erschien 1906 unter dem Titel »Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der LebenJesu-Forschung«. Der Titel der 2., stark erweiterten Auflage von 1913 lautete »Geschichte der Leben-JesuForschung«. Die weiteren Auflagen erschienen unverändert, der 5. Aufl. von 1951 fügte Schweitzer eine neue Vorrede hinzu.

    ¹⁰ W. Wrede, Messiasgeheimnis.

    ¹¹ 2Kor 5,16 ist wahrscheinlich so zu verstehen, daß nicht vom »Christus nach dem Fleisch«, sondern von dessen »Kennen nach dem Fleische« die Rede ist.

    ¹² Vgl. das berühmt gewordene Diktum J. Wellhausens: »Jesus war kein Christ, sondern Jude«, Einleitung in die ersten drei Evangelien, Berlin ²1911, 102.

    ¹³ R. Bultmanns Theologie* beginnt bekanntlich mit dem Satz: »Die Verkündigung Jesu gehört zu den Voraussetzungen der Theologie des NT und ist nicht ein Teil dieser selbst.« (1)

    ¹⁴ Ausgelöst wurde die »neue« Frage durch E. Käsemanns 1953 in Jugenheim im Kreis der »Alten Marburger« gehaltenen Vortrag »Das Problem des historischen Jesus«*.

    ¹⁵ Charakteristisch für diese Fragerichtung ist der zum terminus technicus gewordene Ausdruck »Rückfrage nach dem historischen Jesus«.

    ¹⁶ Die These, daß antienthusiastische/antidoketische Motive bei der Evangelienschreibung eine Rolle gespielt haben, vertritt besonders E. Käsemann (z.B. Problem*, 138–142).

    ¹⁷ Bultmann selbst maß der Tatsache, »daß Jesu Auftreten und seine Verkündigung eine Christologie impliziert, insofern er die Entscheidung gegenüber seiner Person als dem Träger des Wortes Gottes gefordert hat« allerdings im Unterschied zu seinen Schülern keine wesentliche Bedeutung zu. Denn dieser Vollmachtsanspruch bleibe ein historisches Phänomen, über dessen Sachgemäßheit nicht zu entscheiden sei. Die sachliche Einheit von Verkündigung Jesu und Christuskerygma erschließt sich nur existentialer Interpretation: beide stellen vor die Entscheidung und ermöglichen eine neue Existenz. Allerdings ist nach Ostern das Kerygma an die Stelle der Verkündigung des historischen Jesus getreten – eine Rückfrage ist im Grunde überflüssig. Vgl. Bultmanns Auseinandersetzung mit seinen Schülern in dem Aufsatz »Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus«, das obige Zitat findet sich dort S. 457.

    ¹⁸ E. Käsemann, Der Ruf der Freiheit.

    ¹⁹ G. Bornkamm, Jesus*, passim.

    ²⁰ E. Fuchs, Die Frage nach dem historischen Jesus.

    ²¹ H. Braun, Der Sinn der neutestamentlichen Christologie.

    ²² G. Ebeling, Jesus und Glaube.

    ²³ G. Theißen, Theologie*, 319–325.

    ²⁴ Der Buchtitel lautet übersetzt: Jesus ein König, der nicht König wurde.

    ²⁵ Den Terminus »third quest« prägten S. Neill/T. Wright, Interpretation, 379ff.

    ²⁶ »Millenaristisch« kommt von »Millenium« (= 1000) und bezieht sich ursprünglich auf das lOOOj ährige Reich von Apk 20. Millenaristisch (oder chiliastisch) werden Bewegungen genannt, die einen grundsätzlichen Wandel der Dinge erwarten.

    ²⁷ H. Schürmann, Anfänge; ders., Jesus, 85–104 war der Erste, der schon vor Einsetzen der »third quest« diese soziale Kontinuität zwischen Jesus und dem Urchristentum erkannte.

    ²⁸ G. Theißen, Wanderradikalismus*; ders., Soziologie*.

    ²⁹ G. Theißen, Soziologie*.

    ³⁰ E.P. Sanders, Jesus*.

    ³¹ Repräsentativ ist z.B. der Aufsatz P. Stuhlmachers »Jesus als Versöhner«.

    ³² S.J. Patterson, Gospel.

    ³³ Siehe dazu u. § 2.1.3. S. 40f.

    ³⁴ J.D. Crossan, Jesus*; ders., Cross.

    ERSTER TEIL:

    DIE QUELLEN UND IHRE AUSWERTUNG

    § 2:   CHRISTLICHE QUELLEN ÜBER JESUS

    W. Bauer, Das Leben Jesu im Zeitalter der Neutestamentlichen Apokryphen, Tübingen 1909, repr. 1967; R. Cameron (Hg.), The Other Gospels. Non-Canonical Gospel Texts, Philadelphia 1982 (Lit!); ders. (Hg.), The Apocryphal Jesus and Christian Origins, Semeia 49 (1990); J.H. Charlesworth, Research on the New Testament Apocrypha and Pseudepigrapha, ANRW II 25.5 (1988) 3920–3968 (Lit!); ders., The New Testament Apocrypha and Pseudepigrapha: A Guide to Publications, with Excursus on Apocalypses (ATLA Bibliography Series, no. 17), Metuchen, N.J./London 1987; ders./C.A. Evans, Jesus in the Agrapha and Apocryphal Gospels, in: Studying*, 479–533; J.D. Crossan, Four Other Gospels. Shadows on the Contours of Canon, Minneapolis 1985; C.A. Evans, Noncanonical Writings*; S. Gero, Apocryphal Gospels: A Survey of Textual and Literary Problems, ANRW II 25.5 (1988) 3969–3996; O. Hofius, Art. Agrapha, TRE 2 (1978) 103–110; ders., »Unbekannte Jesusworte«, in: P. Stuhlmacher (Hg.), Das Evangelium und die Evangelien (WUNT 28), Tübingen 1983, 355–382; J. Jeremias, Unbekannte Jesusworte, Zürich 1948; Gütersloh ³1963 = ⁴1965; C.W. Hedrick (Hg.), The Historical Jesus and the Rejected Gospels, Semeia 44 (1988); E. Klostermann, Apocrypha I (Kleine Texte 3), Bonn ²1908; H. Köster, Apocryphal and Canonical Gospels, HThR 73 (1980) 105–130; ders., Überlieferung und Geschichte der frühchristlichen Evangelienliteratur, ANRW II 25.2 (1984) 1463–1542; ders., Ancient Christian Gospels. Their History and Development, Philadelphia 1990; H. Köster/J.M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen 1971; A. Läpple, Außerbiblische Jesusgeschichten. Ein Plädoyer für die Apokryphen, München 1983; J.P. Meier, Marginal Jew 1*, 41–55.112–166; F. Neirynck, Evangelica: Gospel Studies – Études d’évangile. Collected Essays I–II, ed. F. Van Segbroeck (BETL 60; 99) Leuven 1982/1991; W. Rebell, Neutestamentliche Apokryphen und Apostolische Väter, München 1992; W. Schmithals, Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin/New York 1985; U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 1994; G. Strecker, Literaturgeschichte des Neuen Testaments, Göttingen 1992; B.H. Streeter, The Four Gospels. A Study of Origins, London 1924 ⁵1936; P. Vielhauer, Geschichte*; D. Wenham (Hg.), The Jesus Tradition Outside the Gospels (Gospel Perspectives 5), Sheffield 1985; R. Mc L. Wilson, Art. Apokryphen II, TRE 3 (1978) 316–362.

    EINFÜHRUNG

    Bei der Beurteilung der Quellen zum historischen Jesus sind zwei Gesichtspunkte zu berücksichtigen: ihre geschichtliche Nähe zum historischen Jesus und ihre Unabhängigkeit.

    Eine Quelle ist um so wertvoller, je näher sie uns an den historischen Jesus heranführt. Daher ist die Altersbestimmung der Quellen wichtig. Aber Alter ist nicht mit geschichtlicher Nähe identisch: Die Paulusbriefe sind älter als die synoptischen Evangelien – und dennoch stehen letztere dem historischen Jesus geschichtlich näher. Zunächst weil sie viele Einzeltraditionen enthalten, die älter als die pln Briefe sind, vor allem aber weil sie frei von der paulinischen »Tendenz« sind, in Jesus ein präexistentes, mythisches Wesen zu sehen. Die altkirchliche Tradition versuchte, die geschichtliche Nähe der Evangelien durch die Zuschreibung an apostolische Verfasser zu sichern: Das Mt- und JohEv stammen demnach von Aposteln Jesu (also von Augenzeugen), das Mk- und LkEv von Apostelschülern (also Menschen, die Zugang zu Augenzeugentraditionen hatten). In der Gegenwart gibt es eine Tendenz, diese altkirchliche Tradition teilweise zu rehabilitieren, das MkEv auf Johannes Markus, das LkEv auf den Paulusbegleiter Lukas, das JohEv auf einen Jesusjünger und Presbyter Johannes zurückzuführen. Doch auch unabhängig davon kann man die geschichtliche Nähe oder Ferne einer Quelle zu Jesus zu bestimmen versuchen.

    Dabei spielt der zweite Gesichtspunkt, die Unabhängigkeit der Quellen voneinander, eine wichtige Rolle. Denn wir können niemals unsere Quellen durch direkten Vergleich mit der historischen Realität überprüfen, sondern immer nur durch Vergleich mit anderen Quellen. Bei allzu weitgehender Übereinstimmung der Quellen nehmen wir an, daß sie voneinander abhängig sind. Bei allzu schroffen Widersprüchen müssen wir vermuten, daß eine (oder beide) die Wirklichkeit stark verzerren und wertlos sind. Die Quellenlage ist dort günstig, wo Inkohärenzen zwischen den Quellen ihre Unabhängigkeit verbürgen, sie aber dennoch kohärent als Zeugen ein und derselben historischen Realität interpretiert werden können.

    Diese Unabhängigkeit mehrerer Quellen voneinander kann sich bei traditionsverarbeitenden Schriften auf diese Traditionen beziehen – unabhängig davon, ob der Autor, der sie sammelte, vielleicht die anderen Evangelien kannte. Entscheidend ist, daß er einer den anderen Evangelien gegenüber autonomen Tradition folgt. Dabei ist gleichgültig, ob es sich um kanonische oder nicht-kanonische Quellen handelt. Alle Quellen haben für eine historische Betrachtungsweise die gleichen Ausgangschancen, was nicht heißen muß, daß ihnen nach einer historischen Überprüfung der gleiche geschichtliche Wert zugesprochen werden kann. Da diese Gleichstellung kanonischer und nicht-kanonischer Jesusüberlieferung keineswegs unumstritten ist, beginnt dieser Überblick über die Quellen mit einer Skizze der Forschungstendenzen und -phasen bei der Auswertung sogenannter apokrypher Überlieferung.

    Aufgabe

    Verschaffen Sie sich an Hand des Inhaltsverzeichnisses der 5. Auflage von W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen, Bd. 1: Evangelien, Tübingen 1987 (abgekürzt: NTApo 1) einen Überblick über die außerkanonische Evangelienliteratur. Lesen Sie ausgewählte Quellentexte, z.B. das Thomasevangelium, die Papyrusfragmente unbekannter Evangelien (POx 840; Papyrus Egerton), das Fragment des Petrusevangeliums, das Apokryphon des Jakobus, die Fragmente der judenchristlichen Evangelien, das Fragment des Geheimen Markusevangeliums.

    1.  DIE BEDEUTUNG AUSSERKANONISCHER CHRISTLICHER LITERATUR FÜR DIE JESUSFORSCHUNG: TENDENZEN UND PHASEN DER FORSCHUNG

    Zunächst sind einige sprachliche Vorklärungen nötig. Unter den außerkanonischen Quellen unterscheidet man traditionell mehrere Gruppen von Schriften, deren Benennung heute zunehmend als problematisch erkannt wird:

    »Neutestamentliche Apokryphen«: alle frühchristlichen Schriften, die nicht in den Kanon aufgenommen wurden, nicht zu den apostolischen Vätern gehören und sich in inhaltlicher oder gattungsgeschichtlicher Hinsicht auf das NT beziehen. Dieser angenommene Bezug auf das NT trifft das Selbstverständnis der meisten dieser Schriften allerdings nicht. Apokryph« (ἀπόκρυφος = verborgen) wird entweder neutral (»nicht zum Kanon gehörig«), pejorativ (»häretisch«, »gefälscht« – so die Kirchenväter) oder esoterisch (»geheim«–so die Selbstbezeichnung mancher gnostischer Schriften) verwendet.

    »Apostolische Väter«: eine im 17. Jh. festgelegte und seitdem mehrfach erweiterte Gruppe von frühchristlichen Schriften, von denen man annahm, daß sie noch in apostolischer Zeit oder (da das für keine der Schriften zutrifft) von frühen Garanten der apostolischen Lehre verfaßt wurden. Hauptkriterium ist die angenommene »Rechtgläubigkeit« und Verläßlichkeit dieser Schriften im Gegensatz zu den Apokryphen. Dazu zählen der 1. Klemensbrief; die Ignatiusbriefe und der Polykarpbrief, die Didache, der Barnabasbrief, der 2. Klemensbrief, der Diognetbrief und der Hirte des Hermas.

    »Agrapha« (oder im Singular: Agraphon, von ἄγραφος = ungeschrieben): nicht in den kanonischen Evangelien enthaltene Jesusworte. Bezieht sich auf mündlich überlieferte Jesusworte bei Kirchenvätern oder auf in Apokryphen, apostolischen Vätern oder im NT außerhalb der Evangelien überlieferte Worte. Manchmal wird »Agraphon« auch als positiver Gegenbegriff zum abgewerteten »Apokryphon« verwendet (»echtes Jesuswort«).

    Die bisherige historisch-kritische Jesusforschung hat fast ausschließlich die kanonischen Evangelien als Quellen herangezogen, wie der Überblick über die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (§1) erkennen ließ. Man war davon überzeugt, daß im Kanon die frühesten und besten christlichen Quellen erhalten sind. Die Apokryphen galten als zeitlich spät und inhaltlich minderwertige im besten Falle: phantastisch, im schlimmsten: häretisch. Diese Überzeugung begann in den letzten Jahrzehnten zu wanken, u.a. weil im Lauf der letzten hundert Jahre mehrere frühchristliche Schriften und Fragmente entdeckt und ediert worden sind, deren Abfassung erheblich vor der Konsolidierung des neutestamentlichen Kanons liegt und die teilweise parallel zu den kanonischen Texten stattgefunden haben könnte.

    So wurde die Didache 1873 entdeckt und 1883 gedruckt; das Petrusevangelium 1886/7 gefunden und 1892 publiziert; seit 1897 kamen die wichtigen Papyrusfunde aus Oxyrhynchos ans Licht; der Egertonpapyrus 2 wurde 1935 herausgegeben; die Nag-Hammadi-Schriften (unter ihnen das Thomasevangelium) wurden um 1945 entdeckt und in den folgenden Jahrzehnten ediert; das Fragment des Geheimen Markusevangeliums wurde 1958 aufgefunden und 1973 veröffentlicht.

    Die äußere Bezeugung von kanonischer und außerkanonischer Jesusliteratur ist für die ersten 200 Jahren fast ausgeglichen, sowohl hinsichtlich der Erwähnungen und Zitate bei frühen Kirchenvätern, als auch hinsichtlich der handschriftlichen Evidenz.

    Bis zur Wende zum 3. Jh. kennt man lediglich je zwei Papyri des JohEv (P⁵²; P⁶⁶) und MtEv (P⁶⁴; P⁶⁷) einerseits und des unbekannten Egertonevangeliums, des Petrusevangeliums (POx 2949, 4009) und des Thomasevangeliums (POx 1) andererseits. Aus dem dritten Jahrhundert besitzt man mehrere Papyri aller kanonischen Evangelien und Fragmente des Thomasevangeliums (POx 654, 655), des Protevangeliums Jakobi (Papyrus Bodmer V), des Mariaevangeliums (POx 3525) und eines unbekannten Evangeliums (Papyrus Rainer/Fayyum Fragment). Die Kirchenväter zitieren neben den kanonischen ein gutes Dutzend weiterer Evangelien.¹

    Trotzdem ist der Wert außerkanonischer Literatur für die Erforschung der Geschichte des frühen Christentums und der Geschichte Jesu bis heute außerordentlich umstritten. Drei miteinander konkurrierende Forschungspositionen seien im folgenden dargestellt. Die erste erklärt, nichtkanonische Schriften könnten keinen relevanten Beitrag zur Erforschung der Anfänge leisten; die zweite gesteht ihnen neben den kanonischen Schriften einen ergänzenden Rang zu und eine dritte erklärt, kanonische und außerkanonische christliche Schriften seien als prinzipiell gleichwertige Quellen heranzuziehen.

    1.1.  Die Unergiebigkeit »apokrypher« Schriften bei der Erforschung des Lebens Jesu

    Gelegentlich wird den außerkanonischen frühchristlichen Schriften programmatisch jeglicher Wert bezüglich der Rekonstruktion der Anfänge bestritten. Als neuere Beispiele können die 1990 bzw. 1993 erschienenen Jesusmonographien von J. Gnilka und R. Schnackenburg² dienen. Sie begründen ihre Beschränkung auf die kanonischen Evangelien mit drei »klassischen« Argumenten:

    • Das Altersargument: Es wird vorausgesetzt, die außerkanonischen Evangelien seien erheblich später entstanden als die kanonischen. Mit identifizierbaren alten Traditionen in ihnen wird nicht gerechnet. Umgekehrt wird der Vier-Evangelien-Kanon von R. Schnackenburg schon zu Beginn des 2. Jh. verortet.

    • Das Argument der größeren historischen Zuverlässigkeit: Den synoptischen Evangelien wird – bei aller zugestandenen Formung durch Gemeindebedürfnisse – relative historische Glaubwürdigkeit bescheinigt. Die Apokryphen dagegen seien »von Legende und zum Teil phantastischen Erzählungen überlagert«.³

    • Das Argument der apostolischen Tradition (Rechtgläubigkeitsargument): Allein die kanonischen Evangelien »verbürgen die apostolische Überlieferung«,⁴ die Apokryphen dagegen verdanken sich späteren »Wucherungen und Fehlentwicklungen« der frühchristlichen Tradition, »die teils der Phantasie, teils der Irrlehre entsprangen«.⁵

    Diese Argumentation erweckt den Verdacht, ein nur notdürftig wissenschaftlich bemänteltes Bekenntnis zur Priorität des Kanons und zum kirchlich tradierten Geschichtsbild zu sein. Man vergleiche mit den obigen Argumenten die Formulierung des Athanasius im 39. Osterfestbrief des Jahres 367. Nach der Aufzählung der kanonischen Bücher heißt es: »Dieses sind die Quellen des Heils … In ihnen allein wird die Lehre der Frömmigkeit verkündigt. Niemand soll ihnen etwas hinzufügen…« Es folgt eine Warnung vor den Apokryphen: sie sind »eine Erfindung von Häretikern, die sie niederschreiben, wann es ihnen beliebt, und ihnen freigiebig eine frühe Abfassungszeit zusprechen, damit sie sie als angeblich alte Schriften heranziehen können und einen Grund haben, aus ihnen die Arglosen zu täuschen.«

    Gegen alle drei Argumente können gewichtige historische und methodische Einwände erhoben werden:

    • Zum Altersargument: Zwar ist es außerordentlich schwierig, die relevanten Texte zu datieren, wie die folgenden Ausführungen immer wieder zeigen werden. Doch muß es nach heutigem Forschungsstand als wahrscheinlich gelten, daß in manchen außerkanonischen Quellen Überlieferungen aus dem 1. Jh. greifbar werden.

    • Zur historischen Zuverlässigkeit: Man muß sich davor hüten, mit zweierlei Maß zu messen. Auch die Synoptiker enthalten »Legenden« und »phantastische Erzählungen«. Entscheidungen sollten immer nur am Einzeltext gefällt werden – unabhängig von dessen Zugehörigkeit zum Kanon.

    • Zur Rechtgläubigkeit: Die Vorstellung, die ursprünglich reine apostolische Lehre sei später durch Irrlehren entstellt worden, ist ein dogmatisches Konstrukt. »Rechtgläubigkeit und Ketzerei« haben sich zeitlich parallel und in engem gegenseitigen Austausch entwickelt. Auch die später als häretisch ausgeschiedenen Gruppen beziehen sich (wenigstens zum Teil) auf urchristliche Traditionen und bilden sie ihren Bedürfnissen entsprechend weiter – darin unterscheiden sie sich prinzipiell nicht von den »rechtgläubigen« Gemeinden.

    1.2.  Die Agrapha-Forschung: Suche nach unbekannten Jesusworten zur Ergänzung des synoptischen Jesusbildes

    Am häufigsten werden außerchristliche Quellen selektiv zur Untermauerung von Ergebnissen benutzt, die an den neutestamentlichen Texten gewonnen wurden. Bei der Beschäftigung mit der Lehre Jesu ist diese Grundhaltung besonders in der sogenannten Agrapha-Forschung zur wissenschaftlichen Blüte gelangt. Ihre wichtigsten Forschungsstadien sind folgende:

    • Die erste wissenschaftlich fundierte Sammlung aller damals bekannten außerbiblischen Jesusworte legte 1889 Alfred Resch unter dem Titel »Agrapha. Ausserkanonische Evangelienfragmente«⁷ vor.⁸

    • Seit 1897 wurde die Agrapha-Forschung durch aufsehenerregende Papyrusfunde belebt, die bislang unbekannte Jesusworte und -erzählungen ans Licht brachten, Bruchstücke verlorengegangener Evangelien. B.P Greenfell und A.S. Hunt veröffentlichten im Jahr 1897 den Oxyrhynchos-Papyrus 1 (POx l);⁹ kurz darauf folgten POx 654 und 655. Diese Fragmente enthalten mehrere mit »es sagt Jesus« eingeleitete Logien, die teils neutestamentliche Parallelen haben, teils vollkommen neu waren. 1905 fanden dieselben Forscher mit POx 840 ein Evangelienfragment, das ein bislang nicht bekanntes Streitgespräch erzählt.¹⁰1935 wurde ein weiteres Fragment eines unbekannten Evangeliums veröffentlicht, der sogenannte Papyrus Egerton 2.¹¹

    • Die zahlreichen in den folgenden Jahrzehnten erschienenen Beiträge zur Agraphadebatte faßte J.Jeremias in seinem 1948 erschienen Buch »Unbekannte Jesusworte« zusammen und stieß damit auf breites Interesse. Er besprach 21 Agrapha, davon 10 »echte«, wahrscheinlich von Jesus stammende Logien. Das Auswahlprinzip, nach dem er möglicherweise echtes von sicher unechtem Gut trennt, ist ausdrücklich an den kanonischen Schriften gewonnen: »Wir besprechen diejenigen Agrapha, die inhaltlich, formal und überlieferungsgeschichtlich den Jesusworten der synoptischen Evangelien an die Seite gestellt werden können«.¹²

    • Mit der Veröffentlichung der um 1945 in Nag-Hammadi gefundenen Manuskripte, besonders des Thomasevangeliums (ThEv), wurden viele neue Agrapha bekannt. Die Oxyrhynchos-Papyri 1, 654 und 655 und ihre Jesusworte entpuppten sich als griechische Fragmente des nun in koptischer Sprache vorliegenden umfangreichen ThEv. Synoptische Redetraditionen lagen nun in großer Zahl in einer weiteren Fassung vor, die teils einen archaischen Eindruck machte, teils deutlich gnostisch überarbeitet schien. Über der Beschäftigung mit dem ThEv begann die bis dahin fast unangefochtene Priorität der kanonischen Schriften für die Rekonstruktion der Anfänge zu wanken – die Möglichkeit eines außerkanonischen unabhängigen Traditionsstranges kam in den Blick.

    1.3.  Die prinzipielle Gleichwertigkeit kanonischer und außerkanonischer Quellen in der Jesusforschung

    Die Einsicht in die Notwendigkeit der Überschreitung der Kanongrenzen in der neutestamentlichen Exegese ist relativ jung. Sie gründet in der Erkenntnis, daß die kanonischen Schriften weder inhaltlich oder formal noch, was die Abfassungszeit betrifft, grundsätzlich von außerkanonischen frühchristlichen Schriften abzuheben sind. Diesem Bewußtsein haben sowohl historische, als auch form- und gattungsgeschichtliche Arbeiten den Boden bereitet:

    • Historisch wurde erkannt, daß das kirchliche Christentum, dem sich die Auswahl und Durchsetzung des Kanons verdankt, das Ergebnis eines längeren Prozesses ist, innerhalb dessen andere Traditionen mit ebenfalls auf die Anfänge zurückgreifenden Schriften ausgeschieden worden sind. Wegweisend war die 1934 von Walter Bauer unter dem Titel »Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum« vorgelegte Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums, die das kirchlich tradierte Geschichtsbild auf den Kopf stellte. Nach Bauer gingen in manchen Gebieten wie Ägypten und Ost-Syrien (Edessa) später als heterodox betrachtete Formen des Christentums den »rechtgläubigen« Gemeinden zeitlich voran. In Kleinasien und Makedonien existierten »katholische« und »häretische« Anschauungen über Jahrzehnte in denselben Gemeinden nebeneinander, ehe sich im späten 2. Jh. unter römischem Einfluß die Orthodoxie durchsetzte.

    • Formgeschichtlich wurde die Nachwirkung der freien Jesusüberlieferung entdeckt. Die klassische Formgeschichte hatte zunächst die Wichtigkeit der mündlichen Tradition für die Vorgeschichte der Evangelienschreibung herausgearbeitet. H. Köster wies in seiner 1957 erschienenen Untersuchung »Synoptische Überlieferung bei den Apostolischen Vätern« nach, daß von den schriftlich existierenden Evangelien unabhängige mündliche oder schriftliche freie Jesusüberlieferung in den Gemeinden noch in der ersten Hälfte des 2. Jh. in Liturgie, Katechese und Gemeindeordnung in Gebrauch war.

    • Gattungsgeschichtlich sind die kanonischen Evangelien und die ihnen zugrundeliegenden Quellen nicht isoliert von außerkanonischer EvangeUenliteratur zu verstehen: James M. Robinson zeichnete in dem Aufsatz »LOGOI SOPHON. Zur Gattung der Spruchquelle Q« die Entwicklung der Gattung »Spruchsammlung« im Urchristentum an Hand von kanonischen und außerkanonischen Quellen nach. Der Anfang liegt in den frühen Sammlungen der Sprüche Jesu, die in der jüdischen Weisheitstradition wurzeln und nur noch indirekt greifbar sind: Neben der bekannten, von Mt und Lk verwendeten Spruchquelle Q stehen z.B. auch hinter Mk 4 und 1 Klem 13,2 weisheitliche Spruchsammlungen. Ein fortgeschrittenes Stadium der Geschichte dieser Gattung liegt im ThEv vor: Der Anspruch des Weisheitslehrers ist von dem des Offenbarers esoterisch-gnostischen Wissens überformt worden – eine durch die Gattung nahegelegte Entwicklung, die sich bereits in Q anbahnt. Auch andere Gattungen haben sich sowohl in kanonischen wie außerkanonischen Evangelien entfaltet: Dialoge (Joh, Egertonevangelium und gnostische Dialogevangelien), Kindheitsgeschichten (Mt 1–2/Lk 1–2 und Kindheitsevangelien), Passionserzählungen (kanonische Evangelien und Petrusevangelium).

    Im Rahmen der so beschriebenen neuen Prämissen hat seit etwa 10 Jahren besonders im englischsprachigen Raum eine umfangreiche Forschungstätigkeit an den frühen außerkanonischen Quellen begonnen. Diese werden hinsichtlich ihres Alters und traditionsgeschichtlichen Ortes oft radikal anders bestimmt als bisher. Die Ergebnisse dieser Forschung werden in Deutschland nur zögernd rezipiert, teilweise aus einem berechtigten Vorbehalt gegenüber allzu frühen Datierungen. H. Köster hat in ausgewogener Rezeption dieser Einzelstudien 1990 den Entwurf einer Entwicklungsgeschichte der Evangelienliteratur vorgelegt: »Ancient Christian Gospels. Their History and Development«. Kanonische und außerkanonische Evangelien und ihre Quellen werden hier erstmals gleichberechtigt berücksichtigt. Unabhängig von der Beurteilung einzelner Fragen ist dies ein Meilenstein, hinter den die Forschung methodisch nicht mehr zurück sollte.

    Für die Jesusforschung sind die Ergebnisse dieser neuen Beurteilung der Quellenlage bisher nur in Ansätzen fruchtbar gemacht worden; hier ist für die Zukunft noch einiges zu erwarten.¹³

    Aus der Fülle von frühchristlichen kanonischen und außerkanonischen Quellen werden in den folgenden Abschnitten nur die besprochen, die möglicherweise für die Rekonstruktion von Lehre und Leben Jesu relevant sein könnten. In aller Regel sind dies Texte, die im 1. oder 2. Jh. entstanden sind oder Traditionen enthalten, die in diese Zeit zurückreichen.

    2.  DIE SYNOPTISCHEN QUELLEN

    Die synoptischen Quellen umfassen die drei ersten Evangelien mit den ihnen zugrundeliegenden Quellen. Als »Synoptiker« werden sie zusammengefaßt, weil sie ein gegenüber dem JohEv deutlich anderes Jesusbild entwerfen und literarisch teilweise voneinander abhängig sind. Das MkEv (oder ein leicht überarbeiteter Deutero-Mk) liegt Mt und Lk als Quelle zugrunde, beide verwenden darüberhinaus die Logienquelle (Q), die sich aus ihnen rekonstruieren läßt. Diese hier vorausgesetzte Zwei-Quellen-Theorie bedeutet für die Jesusforschung, daß wir über zwei alte Quellen (Mk und Q) verfügen, die voneinander unabhängig sind, dazu über größere Komplexe mt und lk Sonderguts, das jeweils eine unabhängige (mündliche oder schriftliche?) Tradition repräsentiert.

    Für die Jesusforschung ist wichtig, daß diese vier unabhängigen Quellen (bzw. Traditionskomplexe) sachlich verwandt sind: Wir begegnen hier denselben Formen und Gattungen, Themen und Motiven. Jesus erscheint übereinstimmend in allen Synoptikern als eschatologischer Prediger, der in Wort und Tat, in Gleichnissen und Wundern Gottes hereinbrechende Königsherrschaft als Zuwendung zu den Armen und Sündern verkündet und repräsentiert. Wegen des hohen Alters und der Streubreite der synoptischen Traditionen, die auch außerhalb des im engeren Sinne synoptischen Traditionsbereiches begegnen (z.B. im JohEv, ThEv und in der urchristlichen Briefliteratur), besteht ein breiter wissenschaftlicher Konsens darüber, daß wir am ehesten über die synoptische Tradition Zugang zum historischen Jesus finden.

    2.1.  Das Markusevangelium

    P.J. Achtemeier, Toward the Isolation of Pre-Markan Miracle Catenae, JBL 89 (1970) 265–91; ders., Origin and Function of Pre-Markan Miracle Catenae, JBL 91 (1972) 198–221; E. Brandenburger, Mk 13 und die Apokalyptik (FRLANT 134), Göttingen 1984; M. Hengel, Entstehungszeit und Situation des Markusevangeliums, in: H. Cancik, Markus-Philologie (WUNT 33), Tübingen 1984, 1–45; ders., Probleme des Markusevangeliums, in: P. Stuhlmacher (Hg.), Das Evangelium und die Evangelien (WUNT 28), Tübingen 1983, 221–265; H.-W. Kuhn, Ältere Sammlungen im Markusvangelium (StUNT 8), Göttingen 1971; R. Laufen, Die Doppelüberlieferungen der Logienquelle und des Markusevangeliums (BBB 54), Königstein/Bonn 1980; Petr Pokorny, Das Markus-Evangelium: Literarische und theologische Einleitung mit Forschungsbericht, ANRW II 25.3 (1985) 1969–2035; R. Pesch, Das Markusevangelium (WdF 411), Darmstadt 1979; G. Strecker (Hg.), Minor Agreements (GThA 50), Göttingen 1993.

    1. Der Text: Das MkEv ist das älteste erhaltene Evangelium, es liegt Mt und Lk als Quelle zugrunde. Allerdings gibt es Hinweise darauf, daß die handschriftlich erst ab dem 3. Jh. bezeugte kanonisch gewordene Fassung nicht die einzige Form des Textes ist, die in Umlauf war:

    • Die Instabilität des Textes: Mk 6, 45–8, 26 fehlt bei Lk; da gerade dieser Abschnitt Dubletten enthält, war er vielleicht kein ursprünglicher Bestandteil des Ev. Das abrupte Ende in Mk 16,8 (die Frauen richten die Botschaft von der Auferstehung nicht aus) führte schon im 2. Jh. zur Abfassung eines sekundären Mk-Schlusses. Im Geheimen Markusevangelium lag wahrscheinlich eine längere Fassung des MkEv vor, die aber traditionsgeschichtlich altes Material bot (s.u. 4.2.).

    • Manche der Minor Agreements, der kleineren Übereinstimmungen zwischen Mt und Lk gegen Mk in Texten, die sie aus Mk übernommen haben, könnten auf eine gemeinsame, vom kanonischen MkEv abweichende Vorlage weisen.

    • Markinisches Sondergut, d.h. mk Texte, die Mt und Lk ohne erkennbaren Grund nicht bieten (z.B. Mk 2,27; 4,26–29; 9,48; 12,32–34; 15,44f), stand vielleicht nicht in ihrer Vorlage.

    Es gab also vermutlich mehrere Ausgaben des MkEv.¹⁴ Jedoch lag der größte Teil des Textes nachweislich Mt und Lk vor.

    2. Ort und Zeit der Entstehung: Der frühesten kirchlichen Tradition zufolge ist das MkEv in Rom aufgrund der mündlichen Lehrvorträge des Petrus von seinem Dolmetscher Johannes Markus aufgeschrieben worden (vgl. 1Petr 5, 13: Markus und Petrus in Rom).¹⁵ Gegen diese Darstellung, die beispielsweise M.Hengel für im wesentlichen glaubhaft hält,¹⁶ spricht vor allem das heterogene Quellenmaterial, das der Evangelist verarbeitet hat. Im MkEv finden wir palästinische Jesusüberlieferungen mit reichem Lokalkolorit neben vorpaulinisch-hellenistischen Überlieferungen (vgl. Abendmahlsworte, Lasterkatalog in Mk 7,21f, Begriff εὐαγγέλιον [Evangelium]). Diese Verbindung ist am ehesten in den syrischen Nachbarstädten Palästinas denkbar, z.B. in Antiochien, wo die Autorität des Johannes Markus ursprünglich beheimatet war, was die Zuschreibung an ihn erklären könnte.¹⁷ Mk ist um das Jahr 70 herum entstanden,¹⁸ da der jüdisch-römische Krieg (66–74 n.Chr.) sich deutlich im MkEv niederschlägt, u.z. in Abschnitten, die sich auf die Gegenwart des Verfassers und seiner ersten Leser beziehen. Umstritten ist, ob die in Mk 13,2 angekündigte Tempelzerstörung schon geschehen ist,¹⁹ oder noch erwartet wird.²⁰

    3. Zugrundeliegende Quellen: Der Mk-Evangelist ist Sammler, insofern er nachweislich formal und theologisch unterschiedlich geprägte schriftliche und mündliche Traditionsstoffe aufnimmt. Dazu zählen:

    • eine zusammenhängende Passionsgeschichte, die wahrscheinlich schon schriftlich vorlag (die genaue Abgrenzung ist umstritten);

    • mündliche oder schriftliche (Sammlungen von) Wundererzählungen;²¹

    • apokalyptische Traditionen, besonders die sog. »,synoptische Apokalypse« Mk 13, die wahrscheinlich bereits schriftlich fixiert war;²²

    • Streit- und Schulgespräche, für die teilweise schriftliche Vorlagen vermutet werden;²³ darüberhinaus weitere Wortüberlieferung, z.B. die wohl schon traditionelle Zusammenstellung von Gleichnissen und Bildworten in Mk 4. Einige mk Logien sind Parallelüberlieferungen zu Q.²⁴

    4. Theologische Gestaltung: Der Mk-Evangelist ist gestaltender Theologe, insofern er das traditionelle Material unter übergreifenden christologischen Leitgedanken zusammenfügt und etwas Neues schafft: ein Evangelium, das man als Passionsgeschichte mit ausführlicher biographischer Einleitung charakterisieren könnte. Jesus ist in ihm von einem Geheimnis umgeben, das sukzessive enthüllt wird.

    5. Mk als Quelle der Jesusforschung: Der chronologische und geographische Aufriß des MkEv ist gegenüber den Einzeltraditionen sekundär, in seiner Gestaltung von theologischen Prämissen bestimmt und darum historisch wertlos (dasselbe gilt für Lk/Mt/Joh). Doch die von Mk gebotenen Überlieferungsstoffe reichen teilweise zeitlich weit zurück und stellen wichtige Quellen zur Rekonstruktion der Lehre und des Lebens Jesu dar.

    2.2.  Die Logienquelle

    T. Bergemann, Q auf dem Prüfstand (FRLANT 158), Göttingen 1993; J. Delobel (Hg.), LOGIA, Leuven 1982 (Lit.!); P. Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle (NTANF 8), Münster ³1982; J. Jeremias, Zur Hypothese einer schriftlichen Logienquelle Q, ZNW 29 (1930) 147–149; J.S. Kloppenborg, Tradition and Redaction in the Synoptic Sayings Source, CBQ 46 (1984) 34–62; ders., The Formation of Q. Trajectories in Ancient Wisdom Collections, Philadelphia 1987; D. Lührmann, Die Redaktion der Logienquelle (WMANT 33), Neukirchen-Vluyn 1969; A. Polag, Fragmenta Q, Neukirchen-Vluyn 1979 ²1982; J. Schüling, Studien zum Verhältnis von Logienquelle und Markusevangelium (fzb 65), Würzburg 1991; S. Schulz, Q – Die Spruchquelle der Evangelisten, Zürich 1972; V. Taylor, The Order of Q, in: JThS 4 (1953) 27–31 (= New Testament Essays, London 1970, 90–94); D. Zeller, Kommentar zur Logienquelle (SKK NT 21), Stuttgart 1984.

    1. Der Text: Die sog. Logienquelle (kurz Q für Quelle) ist eine erschlossene Größe. Mt und Lk bieten neben ihrem Mk-Stoff noch zahlreiche gemeinsame Texte, überwiegend Spruchgut, das sie nachweislich unabhängig voneinander aufgenommen haben. Aller Wahrscheinlichkeit nach lag es ihnen in griechischer Sprache und schriftlich vor.²⁵ Nur der von Mt und Lk gemeinsam bezeugte Stoff kann Q mit einiger Sicherheit zugewiesen werden, wobei Lk die ursprüngliche Reihenfolge vermutlich eher erhalten hat als Mt.²⁶ Daß aus dem verbleibenden mt und 1k Sondergut etliches aus der Logienquelle stammt, ist denkbar, aber nicht zu beweisen.²⁷

    2. Aufgenommene Traditionen, Gattung und Sitz im Leben: Q enthält fast nur Worte Jesu, z.B. Weisheitsworte, prophetische und apokalyptische Worte, Gesetzesworte und Gemeinderegeln sowie Gleichnisse. Sie gehen teilweise sicher auf aramäische Logien und damit auf die Anfänge der Überlieferung zurück. Eine Passionsgeschichte und sonstige Erzählüberlieferungen fehlen, Ausnahmen sind lediglich die Perikopen von der Versuchung Jesu (Mt 4, 1–11/Lk 4, 1–13) und vom Hauptmann von Kapernaum (Mt 8, 5–13/Lk 7, 1–10), in denen aber das Gewicht auch auf den Worten liegt. Formgeschichtlich ist die Logienquelle als Spruchsammlung zu charakterisieren, in der die Lehre Jesu festgehalten wurde. Gesammelt und verbreitet wurden die Logien wahrscheinlich von urchristlichen Wandercharismatikern, die den Lebensstil und die Predigt Jesu fortführten. Zentrales Verkündigungsanliegen ist der Ruf in die Nachfolge Jesu angesichts der hereinbrechenden Gottesherrschaft. Jesus ist als Sohn Gottes vollmächtiger Lehrer des Willens Gottes und wird im wiederkommenden Menschensohn als eschatologischer Richter erwartet. Sein Tod wird als Prophetengeschick gedeutet: er ist einer von vielen abgelehnten Boten der Weisheit (Lk 13, 34f; 11, 49ff).

    3. Entstehungszeit und -ort: Q ist erkennbar aus kleineren Sammlungen heraus gewachsen. Jede Rekonstruktion von Wachstumsschichten und dazugehörigen Redaktionen und Trägerkreisen muß aber hypothetisch bleiben.²⁸ Verläßliche Aussagen lassen sich allenfalls über die Endredaktion machen, indem man sich auf die Gesamtkomposition und die Auswahl und Verknüpfung der verschiedenen Themen konzentriert. So ist Q sicher vor dem jüdischen Krieg und der Tempelzerstörung entstanden, da das Kommen des Menschensohns im tiefsten Frieden erwartet wird und die Drohung begegnet, Gott werde den Tempel verlassen. Die Versuchungsgeschichte läßt deutliche Anklänge an die überwundene Caligula-Krise erkennen (39/40 n.Chr.). Das Bild der Pharisäer als Verfolger der Christen ist historisch in den 40er und frühen 50er Jahren zu verorten, gleiches gilt von der an Israel orientierten Predigt und Mission, die in Q vorausgesetzt wird. Q ist wahrscheinlich in Palästina entstanden.²⁹

    4. Logienquelle und historischer Jesus: Q ist zweifellos die wichtigste Quelle zur Rekonstruktion der Lehre Jesu. Doch auch hier begegnen die authentischen Überlieferungen von Jesus in, mit und unter den Worten ihm nachfolgender Generationen. Auch aus den Q-Überlieferungen lassen sich deshalb ganz verschiedene Jesusbilder rekonstruieren. So entwirft etwa B.L. Mack auf der Basis der sieben von ihm der ältesten Schicht von Q zugewiesenen thematischen Gruppen von Logien das Bild von Jesus als galiläischem Kyniker.³⁰ Hält man dagegen die apokalyptischen Worte für jesuanisch, ergibt sich ein ganz anderes Bild.

    2.3.  Das Matthäusevangelium

    D.L. Balch (Hg.), Social History of the Matthean Community, Minneapolis 1991; H.D. Betz, Essays on the Sermon on the Mount, Philadelphia 1985 (dt.: Studien zur Bergpredigt, Tübingen 1985); G. Bornkamm, Enderwartung und Kirche im Matthäusevangelium, in: W.D. Davies/D. Daube (Hg.), The Background of the New Testament and its Eschatology: Studies in Honour of C.H. Dodd, Cambridge 1956, 222–260; ders., Die Binde- und Lösegewalt in der Kirche des Matthäus, in: Die Zeit Jesu (FS H. Schlier), Freiburg 1970, 93–107 [= Geschichte und Glaube II, München 1971, 37–50]; G. Bornkamm/G. Barth/H.J. Held, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium (WMANT 1), Neukirchen-Vluyn 1960 ⁷1975; W.D. Davies, The Setting of the Sermon on the Mount, Cambridge 1966; G.D. Kilpatrick, The Origins of the Gospel According to St. Matthew, Oxford 1946 ²1950; R. Hummel, Die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Judentum im Matthäusevangelium (BETh 33), München 1963 ²1966; J. Lange (Hg.), Das Matthäus-Evangelium (WdF 525), Darmstadt 1980; J. Ernst, Matthäus. Ein theologisches Porträt, Düsseldorf 1989; U. Luz, Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukirchen-Vluyn 1993; A. Sand, Das Matthäus-Evangelium (EdF 275), Darmstadt 1991; E. Schweizer, Matthäus und seine Gemeinde (SBS 71), Stuttgart 1974; D. Senior, What Are They Saying About Matthew? New York/Ramsey 1983; G.N. Stanton, The Origin and Purpose of Matthew’s Gospel: Matthean Scholarship from 1945 to 1980, ANRW II 25.3 (1984) 1889–1951; ders., A Gospel for a New People. Studies in Matthew, Edinburgh 1992; K. Stendahl, The School of St. Matthew and its Use of the Old Testament, Uppsala 1954; G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit. Untersuchungen zur Theologie des Matthäus (FRLANT 82), Göttingen 1962 ³1971; W. Trilling, Das wahre Israel. Studien zur Theologie des Matthäus-Evangeliums (StANT 10), München ³1964; K.-C. Wong, Interkulturelle Theologie und multikulturelle Gemeinde im Matthäusevangelium (NTOA 22), Freiburg Schweiz/Göttingen 1992.

    1. Der Text: Das MtEv ist durch frühe Papyri (ab ca. 200) und Zitate bei Kirchenvätern (seit der Mitte des 2. Jh.) hervorragend bezeugt. Die Integrität des auf Griechisch verfaßten Textes steht nicht in Frage, trotz der seit Papias und Irenäus (bei Euseb HistEccl 3,39,16; 5,8,2) vertretenen Ansicht, Mt habe ursprünglich aramäisch (oder hebräisch) geschrieben.

    2. Quellen und Aufbau: Dem MtEv liegen das MkEv, die Logienquelle und heterogenes Sondergut³¹ zugrunde, dessen Quellenwert jeweils am Einzeltext geprüft werden muß: Spruchüberlieferungen (allein acht Gleichnisse) stehen neben legendarischen Stoffen (wie den Vorgeschichten Mt 1–2 oder 14,28–31; 17,24–27; 27,3–10. 19.24f) und weitgehend redaktionell gestalteten Perikopen (z.B. Mt 28,16–20). Im Aufriß folgt Mt überwiegend Mk, hat aber innerhalb von Mk 1–13 unter thematischen Gesichtspunkten einige Umgruppierungen vorgenommen (z.B. die Zusammenstellung der Taten Jesu in Mt 8–9). An passender oder mk vorgegebener Stelle hat Mt fünf große Reden eingearbeitet, die jeweils Material aus allen drei Quellengruppen verwenden: Bergpredigt (5–7),³² Aussendungsrede (9,35–10,42), Parabelrede (13), Gemeinderede (18) und eschatologische Rede (23–25).³³

    3. Entstehungszeit und -ort: Das MtEv setzt die Tempelzerstörung voraus (Mt 22,7); der terminus ante quem ist durch Ignatius von Antiochien (um 110–117) gegeben, der in Sm 1,1 eine redaktionelle Phrase aus Mt 3,15 zitiert. Auch die Didache (um 100?) scheint sich unter der Bezeichnung »das Evangelium« (15,3 u.ö.) auf das MtEv zu beziehen.³⁴ Am wahrscheinlichsten ist eine Entstehung in den 80er, spätestens 90er Jahren. Mt läßt eine östliche oder nordöstliche Lokalperspektive auf Palästina erkennen: Mt 19,1 lokalisiert Judäa jenseits des Jordans«; in Mt 4,24 trägt der Verfasser gegen Mk ein, daß Jesu Ruf in »ganz Syrien« erscholl. Irgendwo im syrischen Binnenland, vielleicht im Gebiet von Damaskus oder der Dekapolis dürfte Mt entstanden sein.³⁵

    4. Sitz im Leben: Die deutliche Verbindung von judenchristlichen und heidenchristlichen Traditionen im MtEv einerseits und die intensive Polemik des mt Jesus gegen die jüdischen Autoritäten andererseits spiegeln die aktuelle Bezogenheit des Verfassers auf das Judentum. Es ist allerdings umstritten, ob sich im MtEv ein innerjüdischer Konflikt niederschlägt, die mt Gemeinde also noch im Synagogenverband lebt (intra muros),³⁶ oder ob es sich, was wohl wahrscheinlicher ist, um einen Konflikt nach der Trennung handelt (extra muros),³⁷ bei dem es um

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