DIE GEHEIMNISVOLLE SPHINX: und andere fantastische Geschichten
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Über dieses E-Book
Hans-Dieter Furrer ist es gelungen, einen eigenen Duktus in seinen Erzählungen zu entwickeln. Seine Erzählungen und Kurzgeschichten sind originell, scharf im Ausdruck und unverkennbar.
Ein Autor, den man sich merken muss.
Das Titelbild und die Innenillustrationen stammen von Rainer Schorm.
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Buchvorschau
DIE GEHEIMNISVOLLE SPHINX - Hans-Dieter Furrer
und andere fantastische Geschichten
AndroSF 198
Hans-Dieter Furrer
DIE GEHEIMNISVOLLE SPHINX
und andere fantastische Geschichten
AndroSF 198
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: April 2024
p.machinery Michael Haitel
Titelbild & Illustration: Rainer Schorm; ausgenommen Abbildung zur ersten Geschichte: Le Sphynx mystérieux, Charles Van der Stappen (1897), Musées royaux d'art et d'histoire, Bruxelles (Foto: Michel Wal)
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 391 8
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 727 5
Die geheimnisvolle Sphinx
wikipedia Musée_Cinquantenaire_Sphynx_mystérieuxIn Erinnerung an Tania Vandesande aus Brüssel, die mich zum ersten Mal mit chryselephantinen Skulpturen bekannt gemacht hat.
Die Dogge glänzte im Sonnenlicht. Sie war aus Bronze und überwachte von ihrem Sockel den Park. Eine ältere Dame in auffällig karierter Jacke spazierte an ihr vorüber, an der Leine einen langhaarigen Dackel nach sich ziehend. Der Dackel bellte kurz zu der bronzenen Dogge hinauf, als ob er sie grüßen wollte. Ich erhob mich von der Bank, auf der ich mich ein wenig ausgeruht hatte, und schlenderte im Schatten alter Bäume durch den Brüsseler Parc du Cinquantenaire auf das Königliche Museum für Kunst und Geschichte zu.
Mein Ziel war der Raum mit chryselephantinen Skulpturen der Art Nouveau, welche am Ende des neunzehnten Jahrhunderts entstanden. Für diese Kunstwerke arbeiteten die Künstler mit Elfenbein in Kombination mit Edelmetallen wie Gold und Silber. Sie gehören zur Kunstrichtung des Symbolismus. Eines der schönsten Werke dieser Art schuf Charles van der Stappen 1897 mit seiner Sphinx mystérieux, der geheimnisvollen Sphinx. Und ihr allein galt mein Museumsbesuch. Ihr Geheimnis wollte ich ergründen.
Über eine breite Treppe stieg ich zum Eingang hoch und kaufte an der Kasse eine Eintrittskarte. An diesem sonnigen Augustmorgen interessierten sich nur wenige Besucher für die Sammlung. Auf knarrenden Parkettböden ging ich ziemlich achtlos an wandgroßen Gobelins und Stilmöbeln mit feinen Holzintarsien vorbei und stand schon bald in dem Raum mit den Jugendstil-Skulpturen, die in hohen, mit dunklem Holz eingefassten Vitrinen schimmerten.
Und da war sie, auf Augenhöhe, inmitten einer Anzahl weiterer chryselephantinen Figuren, die Sphinx mystérieux, die ich bisher nur von Abbildungen aus Büchern gekannt hatte. Ihre Schönheit war überwältigend. Die Büste auf einem Sockel aus Onyx faszinierte mich vom ersten Augenblick an. Sie war größer, als ich sie mir vorgestellt hatte. Der Künstler hatte sie in Lebensgröße gestaltet. Das zarte Gesicht aus Elfenbein, der metallisch glänzende Harnisch und der Helm mit dem Vogelkopf aus einer Silberlegierung, wie ich dem Hinweisschild neben der Skulptur entnehmen konnte. Alles bis ins kleinste Detail meisterhaft verarbeitet. Kein Wunder, dass diese geheimnisvolle Gestalt die Menschen schon seit mehr als einem Jahrhundert in ihren Bann zog. Eine schmalgliedrige Elfenbeinhand hatte die Sphinx erhoben, fast ihre geschlossenen Lippen berührend. So als wollte sie ihr Geheimnis bewahren, mich zum Schweigen auffordern.
Von der Skulptur ging eine geradezu magische Anziehungskraft aus. Ganz unbewusst war ich einen Schritt nähergetreten. Wie unter einem unerklärlichen Zwang hob ich meine Hand und machte damit dieselbe Geste wie die Sphinx. Dabei stieß ich mit der Handkante gegen das Glas der Vitrine, und in diesem Augenblick geschah etwas Sonderbares.
Ich befand mich nicht länger im Ausstellungssaal, sondern lehnte an der rostzerfressenen Reling eines alten Dampfers, der von einem Schaufelrad am Heck langsam flussaufwärts getrieben wurde. Ich bemerkte, dass ich einen altertümlichen Feldstecher umhängen hatte, hob ihn an meine Augen und blickte zum Ufer hinüber. Ein langer Zug von schwarzen Trägern tauchte aus einem Waldstück auf. Sie waren mit Ketten aneinandergefesselt und trugen Elefantenstoßzähne. Begleitet wurde die Kolonne von bewaffneten, weißen Soldaten, welche mit Lederpeitschen auf die Träger einschlugen. Hinter den Bäumen stieg eine Rauchsäule in den Himmel. Schüsse und Schreie waren zu hören. Ich erkannte die brennenden Hütten eines Dorfes und fliehende Gestalten. Ein Schwarzer kam schreiend ans Ufer gerannt und streckte mir eine abgehackte Hand entgegen!
Etwas weiter flussaufwärts passierte unser Boot einen Elfenbein-Sammelplatz. Ein paar Strohdachhütten, Holzvorräte und aufgestapelte Stoßzähne. COMPAGNIE D’IVOIRE LEOPOLDVILLE las ich auf der Blechtafel an einem der Lagerschuppen. Auf einem kleinen Hügel im Hintergrund stand ein etwas größeres Holzhaus mit schattiger Veranda, auf der ein paar weisse Offiziere und Kolonialbeamte in weißen Anzügen den Nachmittagstee schlürften. Wie Schatten standen hinter ihnen die schwarzen Diener. Kein Zweifel, ich befand mich auf dem Kongo und wir fuhren mitten ins Herz der Finsternis.
Wie im Zeitraffer wurde der Flusslauf jetzt schmaler, der Baumbestand dichter. Wie durch ein grünes Tor fuhren wir in den Regenwald ein. Die Bäume bildeten ein undurchdringliches Blätterdach. Unheimliche Lichter geisterten durch das Dickicht, das bis ans Wasser reichte. Irgendwo über mir kreischte eine Horde Affen – oder hörte ich etwa menschliche Schreie? Eine grün schillernde Schlange klatschte direkt neben mir auf das Deck und glitt über die Bordwand ins dunkle Wasser. Und als ich dann wieder durch meinen Feldstecher sah, hatte ich vor meinen Augen eine fantastische Szenerie. Am Flussufer tat sich eine große Lichtung auf. Eine breite Treppe schwang sich hoch zu einem tempelartigen Gebäude, dessen Eingang eine riesige Elefantenskulptur bildete. Und davor stand eine schwarze Amazone in goldschimmernder Rüstung, flankiert von zwei schwarzen Panthern. Erst jetzt sah ich die zu beiden Seiten der Treppe an Elefantenstoßzähnen aufgespießten Köpfe. Es waren nicht die Köpfe von Schwarzen. Es waren die Schädel von schnauzbärtigen Weißen, die noch ihre Tropenhelme aufhatten …
»Ne touchez pas, Monsieur!«
Erschrocken zuckte ich zusammen und drehte mich um. Mein Tagtraum hatte wohl nur Sekunden gedauert. Vor mir stand die Museumsaufsicht, eine junge schwarze Frau in adretter dunkelblauer Uniform. Seltsamerweise dachte ich sogleich an eine Kongolesin aus Kinshasa. »Entschuldigen Sie …«, aber dann verstummte ich wieder und stand wie erstarrt. Ich blickte gebannt in die Augen der Frau und spürte, dass es im Raum, in dem anscheinend keine weiteren Besucher anwesend waren, jetzt wesentlich dunkler geworden war. Und wärmer!
Dann geschah etwas Unglaubliches! Das Gesicht der schwarzen Frau verwandelte sich. Gleich unter den Augen stülpte sich die Haut nach vorne. Zuerst sah es so aus, als würde sie ihre Backen aufblasen. Dann sprang der breite Mund mit den vollen Lippen auf. Zwei Reißzähne blitzten. Gleichzeitig vernahm ich das Reißen von Stoff. Die Uniformjacke platzte auf. Schwarz glänzendes Fell wurde darunter sichtbar. Kein Zweifel, die Museumswärterin verwandelte sich vor meinen Augen in einen schwarzen Panther. Und im Ausstellungsraum herrschte jetzt eine drückende tropische Hitze.
Ich stand einfach da. Reglos, wie eine der Skulpturen. Und ich starrte wie hypnotisiert auf den Panther, der sich vor mir sprungbereit auf dem Boden duckte. Er fauchte mich wütend an, und ich roch seinen animalischen Atem. Er war größer als die Leoparden, die ich von Zoobesuchen in Erinnerung hatte. Ganz unerwartet schoss plötzlich seine Pranke vor und riss mit gnadenlos offenen Krallen über meinen linken Arm. Der Hieb war so kräftig, dass er mich umwarf. Ich nahm noch wahr, wie sich der Ärmel meiner Jacke blutrot färbte. Dann verlor ich das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich am Fuß der Treppe unter dem Eingang zum Museum. Meine Verletzung verursachte höllisch brennende Schmerzen. Das Blut auf dem zerrissenen Ärmel war bereits eingetrocknet. Ich setzte mich auf. Es dämmerte schon und im Park vor mir war weit und breit kein Mensch mehr zu sehen. Was ich vor ein paar Stunden erlebt hatte, kam mir jetzt wie ein Albtraum vor. Aber die Krallenwunden an meinem linken Arm waren echt. Der schwarze Panther hatte mir einen Denkzettel verpasst. Und Auslöser für die fantastische Verwandlung der Kongolesin, deren Vorfahren im dunklen Afrika unter den weißen Ausbeutern gelitten hatten, war die geheimnisvolle Sphinx. Als am Ende des neunzehnten Jahrhunderts diese chryselephantine Skulptur entstand, war der Freistaat Kongo im Privatbesitz des belgischen Königs Leopold II, der seine Kolonie bedenkenlos ausbeutete. Damals kamen ganze Schiffsladungen mit Elfenbein nach Antwerpen. Und um den Kunstmarkt zu beleben, verschenkte der König einige der schon damals sehr wertvollen Elefantenstoßzähne an bekannte Bildhauer. War die Sphinx vielleicht aus einem jener Stoßzähne geschaffen worden, die der belgische Monarch verschenkt hatte? Lag etwa auf diesem Elfenbein, das der Bildhauer für sein Kunstwerk verwendet hatte, ein afrikanischer Fluch? Vielleicht gar der Fluch einer schwarzen Königin der Elefanten, die sich an den weißen Jägern rächte, so wie in meinem Tagtraum?
Eines war sicher: Meine Wunde war echt und brannte wie Feuer. Ich musste möglichst schnell verarztet werden. In der Rue Dekens ganz in der Nähe hatte ich kürzlich ein altes Stadthaus entdeckt, ein typischer Bau aus der Jugendstilzeit mit farbigen Glasfenstern im Erdgeschoss. In diesem Haus hatte ein Arzt seine Praxis. Mit etwas Glück würde er mich wieder erkennen. Ich hatte ihn vor dem Haus getroffen und ein paar Worte über die kunstvolle Fassadenarchitektur mit ihm gewechselt. Ich machte mich also auf den Weg und hoffte, niemandem zu begegnen. Mit meinem heruntergerissenen und blutverschmierten Jackenärmel sah ich nicht sehr vertrauenerweckend aus. Ich überquerte die Avenue des Nerviens und ging die Rue Deckens hinauf. Ein alter Mann mit einem Einkaufswagen auf der anderen Straßenseite war der einzige Mensch, der meinen Weg kreuzte. Die Backsteinfassade des Hauses war nicht zu übersehen. Doktor Henri Vernon – Médecin stand auf dem Messingschild über der Türglocke. Nach kurzem Klingeln öffnete sich die Türe. Doktor Vernon hatte seinen Arztkittel bereits durch eine bequeme Strickweste ersetzt, doch als er meinen zerrissenen Jackenärmel und das getrocknete Blut sah, führte er mich ohne lange Fragen ins Behandlungszimmer, desinfizierte fachmännisch meine Risswunden, gab mir eine Spritze – gegen Starrkrampf oder Tollwut vermutlich – und verpasste mir einen ordentlichen Verband.
Doch dann wollte er es doch noch wissen: »Wie ist das eigentlich passiert?«
Dass ich im Museum von einem schwarzen Panther angefallen worden war, konnte ich ihm natürlich nicht erzählen. Aber da erinnerte ich mich an die bronzene Dogge, die ich im Park bewundert hatte, und murmelte irgendwas von einem großen Hund, der mich angesprungen hätte. »Es war eine schwarze Dogge«, bekräftigte ich. Doktor Vernon schien mir nicht ganz zu glauben. Er kannte sicher den Unterschied zwischen den Krallen einer Hundepfote und den Pranken einer Raubkatze. Er ging aber zum Glück nicht weiter auf meine Geschichte ein. »Ein paar Narben werden wohl bleiben« meinte er nur, und ich solle doch in einer Woche nochmals vorbeikommen, um den Verband zu erneuern.
Mein Museumsbesuch liegt jetzt schon etliche Jahre zurück. Drei verheilte, aber gut sichtbare Narben laufen schräg über meinen linken Oberarm. Sie sind eine bleibende Erinnerung an die geheimnisvolle Sphinx. Manchmal röten sie sich stärker und beginnen zu brennen. Dann kehren die Bilder von den Gräueltaten im Kongo zurück.
Madame Delvaux
»Il ne faut pas oublier qu’un tableau est un tableau,
c’est-à-dire une autre réalité.«
(Man darf nicht vergessen, dass ein Bild ein Bild ist,
das heißt eine andere Realität.)
Paul Delvaux
Mit dem TGV Thalis war ich im Juli 1997 von Paris nach Brüssel gefahren. Wie jedes Mal führte mich mein erster Weg in dieser Stadt über die Grand Place und durch die Galeries Saint-Hubert direkt ins »Mort subite«, in jenes Bierlokal, in dem die Zeit stillzustehen schien. Alles war unverändert. In der Ecke lag noch immer die graue Hauskatze in ihrem Körbchen, als schliefe sie seit Jahren ihren Dornröschenschlaf. Das »Mort subite« war so etwas wie ein persönlicher Kraftort für mich. Hier fühlte ich mich wohl und bekam dieses angenehme Kribbeln im Bauch. Und das lag nicht nur am Bier. Anschließend spazierte ich auf den Mont des Arts hinauf, auf den Berg der Kunst, zu den Königlichen Kunstmuseen und stellte erfreut fest, dass dort eine große Ausstellung mit Werken von Paul Delvaux gezeigt wurde. Ich war schon immer fasziniert von den Bildern dieses Surrealisten, in denen auf einsamen Bahnhöfen im Mondlicht weiß gekleidete oder nackte Frauen auf Dampfzüge und Straßenbahnen warten. Oder wo vor Kabinetten mit roten Samtvorhängen unbekannte Schöne neben klappernden Skeletten stehen und dem Betrachter ihre entblößten Busen zeigen. Wie im Traum ging ich durch die Säle der Musées royaux des Beaux-Arts und stand oft minutenlang vor Delvaux fantastischen Gemälden. Viele der Bilder zogen meinen Blick förmlich in sich hinein, über die weiten, von sonderbaren Gestalten bevölkerten Plätze bis in den Hintergrund, wo über breiten Treppenaufgängen antike Tempelstädte in den grauen Himmel ragten.
Es war bereits Abend, als ich die Ausstellung verließ. Zeit für ein weiteres feines Bier, diesmal im »Cirio« in der Nähe der Place de la Bourse.