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Der Erste Weltkrieg: und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918
Der Erste Weltkrieg: und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918
Der Erste Weltkrieg: und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918
eBook2.250 Seiten27 Stunden

Der Erste Weltkrieg: und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918

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Über dieses E-Book

Nach der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand in Sarajevo stand fest, dass es Krieg geben würde. Kaiser Franz Joseph wollte es und in Wien rechnete man durchaus mit der Möglichkeit eines großen Kriegs. Wie der Krieg entfesselt wurde und bereits Wochen später Österreich-Ungarn nur deshalb nicht zur Aufgabe gezwungen war, weil es immer wieder deutsche Truppenhilfe bekam, hat bis heute nichts an Dramatik verloren. Zwei Monate vor seinem Tod verzichtete der österreichische Kaiser auf einen Teil seiner Souveränität und willigte in eine gemeinsame oberste Kriegsleitung unter der Führung des deutschen Kaisers ein. Der Nachfolger Franz Josephs, Kaiser Karl, konnte das nie mehr rückgängig machen. Auch ein Teil der Völker Österreich-Ungarns fürchtete die deutsche Dominanz. Schließlich konnten nicht einmal die militärischen Erfolge 1917 den Zerfall der Habsburgermonarchie verhindern. Das Buch beruht auf jahrzehntelangen Forschungen und bleibt bis zur letzten Seite fesselnd, obwohl man das Ende kennt. Viele Zusammenhänge werden aber erst jetzt klar. Rauchensteiner sieht den Ersten Weltkrieg als Zeitenwende. Ob er die "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts war, muss der Leser entscheiden.
SpracheDeutsch
HerausgeberBöhlau Wien
Erscheinungsdatum19. Sept. 2013
ISBN9783205792598
Der Erste Weltkrieg: und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918
Autor

Manfried Rauchensteiner

Manfried Rauchensteiner ist Historiker, Universitätsprofessor und Autor zahlreicher Bücher, darunter das Standardwerk "Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918". Er lebt und arbeitet in Wien.

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    Buchvorschau

    Der Erste Weltkrieg - Manfried Rauchensteiner

    Manfried Rauchensteiner

    DER ERSTE WELTKRIEG

    und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918

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    BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR · 2013

    Vollständig überarbeitete und wesentlich erweiterte Fassung des 1993 erschienenen Bandes

    Der Tod das Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg 1914–1918

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Umschlagabbildung:

    Ausschnitt aus: Albin Egger-Lienz, Den Namenlosen 1914; Tempera Leinwand, 1916

    © Wien, Heeresgeschichtliches Museum

    Sonstige Abbildungen:

    Aufmacherfotos zu den Kapiteln 1, 13, 19, 20, 23, 24, 26, 27 und 29 Österreichische Nationalbibliothek/Bildarchiv und Grafiksammlung; alle andere Fotos Österreichisches Staatsarchiv/Kriegsarchiv.

    © 2013 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar

    Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com

    Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

    Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

    Umschlaggestaltung: www.fuergestaltung.at

    Vor- und Nachsatz: Stefan Lechner, Wien

    Korrektorat: Jörg Eipper-Kaiser, Graz

    Satz: Michael Rauscher, Böhlau Wien

    Druck und Bindung: Balto Print, Vilnius

    Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier

    Printed in Lithuania

    Print-ISBN 978-3-205-78283-4

    Datenkonvertierung: Beltz, Bad Langensalza

    eBooks: 978-3-205-79259-8

    Inhalt

    1. Der Vorabend         ( 13 )

    Der Ballhausplatz und das Defizit an Krieg (17) – Das Pulverfass (22) – Die Sozialisierung der Gewalt (34) – Armer Staat, reiche Konzerne (44)

    2. Zwei Millionen Mann für den Krieg         ( 51 )

    Die »gesamte bewaffnete Macht« (51) – Zweibund und Dreibund (63) – Die militärischen Absprachen (68) – Präventivkrieg, ja oder nein? (78)

    3. Blutige Sonntage         ( 85 )

    Das Attentat (85) – Der Schock (89) – Die Julikrise (93)

    4. Die Entfesselung des Kriegs         ( 121 )

    Franz Joseph I. (123) – Die Ruhe vor dem Sturm (125) – Das »Gefecht« bei Temes Kubin (129) – Erlösung durch den Krieg (139) – Der erste Schuss (145) – Ein Reich macht mobil (147)

    5. »Gott sei Dank, das ist der große Krieg!«         ( 163 )

    Aufmarsch nach Staffeln und Paketen (163) – Erzherzog »Fritzl« geht an die Front (179) – Das Reitergefecht von Jarosławice (184) – Die Einleitungsfeldzüge (187)

    6. Die Umstellung auf einen langen Krieg         ( 203 )

    Die Kriegswirtschaft beherrscht den Alltag (204) – Verwundete, Kranke und Tote (221) – Das Hinterland wird zur Festung (225) – Amtlich wird verlautbart (229) – Der Tod des Generals Wodniansky (232)

    7. Das Ende der Euphorie         ( 247 )

    Die Festung am San (248) – Fleet in being (266) – Im Schatten des Galgens (271) – Belgrad und das Scheitern auf dem Balkan (279)

    8. Der erste Kriegswinter         ( 293 )

    Über die Kriegsziele (294) – Der Tod in den Karpaten (306) – Tarnów–Gorlice (321)

    9. Unter Beobachtung         ( 329 )

    Von Helden und Feiglingen (330) – Das Prager »Hausregiment« (354)

    10. »Der König von Italien hat Mir den Krieg erklärt«         ( 369 )

    »Sacro egoismo« (377) – Der Londoner Vertrag (383) – Das letzte Angebot (389)

    11. Die dritte Front         ( 399 )

    Das Prävenire (402) – Am Isonzo und in den Sieben Gemeinden (406) – Der Abnützungskrieg (419)

    12. Fabriklicher Krieg und innere Front 1915         ( 429 )

    Soldatsein und Arbeitsleid (437) – Armeeoberkommando und Innenpolitik (441) – Soldatenspielerei? (449) – Der Versuch, Stürgkh zu stürzen (452)

    13. Sommerschlacht und »Herbstsau«         ( 459 )

    Um den Vorrang der Kriegsschauplätze (459) – Die »schwarz-gelbe« Offensive (466) – Die vierte Offensive gegen Serbien (477)

    14. Kriegsziele und Mitteleuropa         ( 487 )

    Das Saloniki-Problem (487) – Winterkrieg in Russland und Montenegro (491) – Die Mittelmächte und Mitteleuropa (496) – Die Vision vom Siegfrieden (504)

    15. Südtirol: Das Ende einer Illusion (I)         ( 517 )

    Die Osterbegehrschrift (519) – Die »Strafexpedition« wird vorbereitet (522) – Der Angriff (533)

    16. Luck: Das Ende einer Illusion (II)         ( 541 )

    Die Brusilov-Offensive (541) – Die Hindenburg-Front (552) – Giftgas (560) – Die »Gemeinsame Oberste Kriegsleitung« (565)

    17. Wie finanziert man einen Krieg?         ( 577 )

    Die Suche nach dem Nervus Rerum (577) – Die Kriegsanleihen (585) – Das Wüten der Notenpresse (598)

    18. Die Namenlosen         ( 605 )

    Die Friedensaktion der Mittelmächte (611) – Hohenzollern gegen Habsburg (614) – Um den Zusammentritt des österreichischen Parlaments (621) – Karl Graf Stürgkh (1859–1916) (624)

    19. Der Tod des alten Kaisers         ( 631 )

    Nachruf auf den Übervater (638) – Der geriatrische Zirkel (645) – Die Militärkanzlei Seiner Majestät (650) – Der Thronfolger (655) – Das Testament (658)

    20. Kaiser Karl         ( 665 )

    Die neuen Diener ihres Herrn (668) – Das Hindenburg-Programm (674) – Von Koerber zu Clam-Martinic (675)

    21. Die Zeichen an der Wand         ( 683 )

    Hunger und Krönung (683) – Der Sieg über Rumänien (692) – Friedensschritte (695) – Der uneingeschränkte U-Boot-Krieg (700) – Conrad-Krise (710)

    22. Die Folgen der russischen Februarrevolution         ( 717 )

    Der strategische Gleichklang (717) – Der Sturz des Zaren (719) – Frieden ohne Annexionen und Kontributionen (725) – Proletarier aller Länder, vereinigt euch! (730) – Die Wiedereröffnung des Reichsrats (734)

    23. Sommer 1917         ( 741 )

    Clam-Martinic am Ende (741) – Das System frisst seine Kinder (749) – Die Militärverwaltung in den besetzten Gebieten (755) – Tiszas Sturz (765)

    24. Kerenskij-Offensive und Friedensbemühungen         ( 771 )

    Der Seesieg in der Otrantostraße (772) – Die »Hand des Kindes« (775) – Die tschechische Legion (779) – Ein deutscher General über die Donaumonarchie (787) – Friedensfühler (791)

    25. Der Pyrrhussieg: die Durchbruchsschlacht von Flitsch–Tolmein         ( 799 )

    Das Festungssyndrom (799) – Operation »Waffentreue« (805) – Krieg gegen die USA (827)

    26. Lager         ( 835 )

    Fremde in der Heimat (836) – Die Internierten (849) – Von Iwans, Serben und Wallischen (853) – Die Sibirische Klarheit (864) – Italien (873)

    27. Friedensfühler im Schatten von Brest-Litovsk         ( 879 )

    Die russische Oktoberrevolution (879) – Neue Gespräche in der Schweiz (883) – Nochmals Polen (887) – Jahreswende 1918 (889) – Die Verhandlungen in Brest (896) – Wilsons 14 Punkte (899)

    28. Innere Front         ( 905 )

    Die Jännerstreiks (905) – Fortsetzung in Brest (910) – Der sogenannte Brotfrieden (914) – Meuterei (921)

    29. Die Junischlacht in Venezien         ( 931 )

    Die »Parma-Verschwörung« (931) – Der Zusammenbruch der Rüstungsindustrie (941) – Die Idee zur letzten Offensive (945) – Der Waffenbund (948) – Der Angriff (952)

    30. Ein Reich resigniert         ( 965 )

    Generalmajor von Bolzano vermisst (965) – Vier Millionen Helden (972) – Die Armee zerfällt (981)

    31. Das Dämmerreich         ( 995 )

    Gericht über Österreich-Ungarns letzte Offensive (995) – Das vorletzte Kabinett des habsburgischen Österreich (999) – Die Radikalen geben den Ton an (1003) – Österreichisch-ungarische Truppen an der Westfront (1007) – D’Annunzio über Wien (1010) – Der Untergang der »Szent István« (1014) – Front und Hinterland (1018)

    32. Der Krieg wird Geschichte         ( 1025 )

    Das Kaisermanifest (1027) – Die Auflösung beginnt (1033) – Der Angriff der Alliierten (1039) – Der Waffenstillstand in der Villa Giusti (1043) – Der letzte Armeeoberkommandant (1047) – Te Deum laudamus (1050)

    Epilog        (1053)

    Nachwort        (1055)

    Danksagung und Widmung        (1063)

    Anmerkungen        (1067)

    Gedruckte Quellen und Literatur        (1157)

    Personen- und Ortsregister        (1197)

    Karte – Der russische Kriegsschauplatz         (Vorsatz)

    Karte – Der italienische Kriegsschauplatz         (Nachsatz)

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    Hundertjahr-Feier der Völkerschlacht von Leipzig in Wien, 16. Oktober 1913. Kaiser Franz Joseph vor den Fahnendeputationen an der Ringstraße. Rechts von ihm der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand

    und die Erzherzöge mit militärischen Rängen. In der zweiten Reihe ganz rechts Erzherzog Friedrich.  [<< 12] 

    1. Der Vorabend

    Schon vor Jahrzehnten hat man im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg und der Eroberungspolitik des nationalsozialistischen Deutschland die Semantik bemüht und gefragt, ob dieser Krieg ausgebrochen oder bewusst entfesselt worden ist. Verhältnismäßig einmütig wurde von Entfesselung gesprochen. Beim Ersten Weltkrieg ist das nicht so klar. Er ist wohl ebenso herbeigeführt und entfesselt worden, wie er ausgebrochen ist. Doch wer herbeiführte, auslöste, entfesselte oder auch nur nicht verhinderte, ist meist Sache subjektiver Einschätzungen und Hervorhebungen geworden. Jeder Standpunkt wurde bereits mit Vehemenz vorgetragen und mit Dokumenten untermauert.¹ Mittlerweile ist die Formulierung des amerikanischen Diplomaten George F. Kennan eine Art unverbindlicher Gemeinplatz geworden, wonach man es mit der »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« zu tun hätte.²

    Bereits lange vor 1914 wurde in zahllosen Publikationen über einen zukünftigen Krieg sehr verallgemeinernd der Begriff »Weltkrieg« verwendet. Als ob man seine Dimension in Worte fassen und zur Abschreckung verwenden wollte. Dann gab es ihn. In der englischen, französischen und italienischen Literatur festigte sich der Begriff vom »Großen Krieg« (Great War, Grande guerre, Grande guerra), während das deutsche Reichsarchiv nach dem Krieg den Begriff »Weltkrieg« aktualisierte.³ In Österreich mischte sich Nostalgisches in die Begrifflichkeit, und man sprach und schrieb dann von Österreich-Ungarns letztem Krieg.

    Doch das mit der »Urkatastrophe« hat gewiss einiges für sich, denn aus den Folgen des ersten großen Kriegs des 20. Jahrhunderts, mit seiner doch weit gehenden Beschränkung auf Europa und seine angrenzenden Gebiete, resultierten die meisten Voraussetzungen für den zweiten tatsächlichen Weltkrieg, vor allem das Aufkommen totalitärer Regime in Russland und Deutschland sowie die Involvierung von Staaten aller sechs Kontinente und aller Weltmeere. Und bis zu einem gewissen Grad wurde der Erste Weltkrieg erst ein Vierteljahrhundert später, doch noch innerhalb derselben Generation zu Ende gekämpft. Während aber die meisten Mächte, die schon im Ersten Weltkrieg die Bezeichnung »Hauptkriegführende« erhalten hatten, ihren Anteil am zweiten großen Krieg des 20. Jahrhunderts noch steigerten, galt das für ein Reich nicht mehr: Österreich-Ungarn. Es war im Gegensatz zum Deutschen Reich, dem zur  [<< 13] Sowjetunion gewordenen Russland, aber auch der nunmehr neutralen Türkei unwiederbringlich dahin. Die Donaumonarchie unter habsburgischer Herrschaft war an den Folgen der »Urkatastrophe« zugrunde gegangen. Sie zählte ab nun zu den gescheiterten Staaten.

    Auf der Suche nach den Ursachen für den ersten großen Konflikt wurde vieles genannt, nicht zuletzt auch die ins Auge springende Tatsache, dass für die meisten großen Mächte, die wissentlich und willentlich 1914 Krieg begannen, in erster Linie deren Stärke, vielleicht auch nur deren scheinbare Stärke und der Wunsch nach Gebietserweiterung, zumindest aber Machtzuwachs ausschlaggebend waren. Deutschland suchte Macht und Einfluss auszuweiten, zumindest aber nicht zu verlieren. Ihm wurde eine »Flucht in den Krieg« nachgesagt.⁴ Für Frankreich wurden Prestige und eine ordentliche Portion Revanchismus und für Russland gerade jüngst wieder das Bestreben, im Umweg über einen siegreichen Krieg den Weg nach Konstantinopel zu finden, genannt.⁵ Großbritannien fürchtete die deutsche Dominanz, das Osmanische Reich wollte die in mehreren Kriegen verlorenen Territorien wiedergewinnen. Italien, schließlich, wollte sich mit seinem Beitritt zur Koalition von Briten, Franzosen und Russen um die von Italienern bewohnten Gebiete erweitern und seine nationalen Träume erfüllen. Österreich-Ungarn aber, eine – wie es so schön hieß – »stagnierende Großmacht«⁶, sah ähnlich wie Großbritannien in der Aufrechterhaltung der geltenden europäischen Ordnung eine Chance. Das aber nicht aus innerster Überzeugung, sondern aufgrund einer evidenten Schwäche. Sie, und vor allem sie war der Grund dafür, dass Krieg zur Lösung der Probleme dann doch wenn schon nicht angestrebt, so nicht mehr regelrecht ausgeschlossen wurde.

    Dieses Zögern der Habsburgermonarchie, ihre staatlichen Ziele entschlossener zu vertreten, wird mit ihren strukturellen Besonderheiten, dem komplizierten dualistischen Aufbau des Vielvölkerreichs in eine österreichische und eine ungarische Reichshälfte, den besonderen und vor allem durch Nationalitätenfragen ausgelösten Problemen, mit den vorhandenen Bündnissen und schließlich auch mit personellen Fragen in Verbindung gebracht. Es sind dies aber nur einige Aspekte für die meist nicht reflektierte Feststellung, die Monarchie hätte sich überlebt gehabt. Vielleicht ist sie an ihrem »Absolutismus« zugrunde gegangen, den der österreichische Sozialdemokrat Viktor Adler lediglich »durch Schlamperei gemildert« sah. Schon lange vor 1914 waren Staatsbesuche in der Donaumonarchie auch mit der Feststellung kommentiert worden, die ausländischen Gäste würden kommen, um sich Österreich noch einmal anzuschauen, »eh’s zerfallt«.

    Bei der Beschreibung dessen, was gerade die Habsburgermonarchie die Flucht in den Krieg antreten ließ, wird aber auch noch anderes berücksichtigt werden müssen. Das Fin de Siècle, jene Stimmung, die zunehmend und nicht zuletzt in der Kunst ihren Ausdruck fand, war wohl weniger Endstimmung als vielmehr ungeduldiges Aufbre [<< 14] chen in eine neue Zeit. Das Wegtrotzen stieß jedoch nicht nur in der Kunst an seine Grenzen, sondern ebenso in der Wirtschaft und vor allem in der Politik. Die Völker des Reichs wurden von zentrifugalen Kräften beherrscht. Es war wie eine zeitverschobene Wiederholung von Biedermeier und Vormärz, nur dass weniger der staatliche Zwang als die Konvention die Zügel anlegten. Letztlich staute sich Jahrzehnte hindurch etwas auf, bis schließlich ein einzelnes Ereignis eine Kettenreaktion auslöste.

    Immer häufiger war die Ansicht zu hören, nur ein Krieg könnte helfen, die anstehenden Probleme zu überwinden. Das war freilich keine ausschließlich österreichisch-ungarische Marotte oder Ausdruck eines gesteigerten Bellizismus. Auch Staaten wie Großbritannien, Frankreich und Russland, aber auch Italien, das Osmanische Reich und die Länder im Balkanraum hatten immer wieder Krieg als Mittel zur Konfliktregelung eingesetzt. Die Habsburgermonarchie aber erweckte den Anschein, als ob sie so sehr mit sich selbst beschäftigt wäre, dass sie weder die Sozialisierung der Gewalt mitmachte noch Krieg als Mittel der Politik einzusetzen bereit und imstande wäre. Bis sie schließlich doch in dieses europäische Konzert einstimmte. Vielleicht hatte sie sich gerade wegen ihres Zögerns, Krieg zu führen, in den Augen jener, die ihre Armeen sehr viel eher einzusetzen bereit waren, überlebt. Doch der Tod des Doppeladlers ging in Etappen vor sich.

    1908 schien die Welt noch einigermaßen in Ordnung zu sein, zumindest aus Wiener Sicht. Der 78-jährige Kaiser Franz Joseph feierte sein 60-jähriges Regierungsjubiläum. Es war nicht sein Wunsch gewesen, dass es groß begangen wurde, doch nach einigem Zögern fügte sich der Monarch den Argumenten eines rührigen Personenkomitees. Dabei wurde ein Aspekt ganz bewusst in den Vordergrund gerückt: Die Feier und vor allem ein Huldigungs-Festzug vom Wiener Prater über die Ringstraße sollten dazu dienen, die Einheit in der Vielfalt zu demonstrieren, die Völker der Habsburgermonarchie ein gemeinsames Bekenntnis ablegen zu lassen und Treue zum Herrscher zu bekunden.⁸ Es ging darum, den übernationalen Reichsgedanken zu beschwören. Am Freitag, dem 12. Juni 1908, fand der Festzug statt. Spektakel, Schaustellung und Huldigung gingen programmgemäß über die Bühne. 12.000 Menschen setzten sich in einem sieben Kilometer langen Zug in Bewegung. Hunderttausende sahen zu. Im Nationalitätenzug marschierten vorneweg Vertreter des Königreichs Böhmen, gefolgt von jenen der Königreiche Dalmatien und Galizien, geteilt in eine ost- und eine westgalizische Abordnung, dann die Gruppen der Erzherzogtümer Niederösterreich und Oberösterreich, der Herzogtümer Salzburg, Steiermark, Kärnten, Krain, Schlesien und der Bukowina, unter denen sich auch Rumänen, Ruthenen und Lippowaner fanden. Eine der prächtigsten Gruppen repräsentierte die Markgrafschaft Mähren, dann folgten die Gruppen der Markgrafschaft Istrien und Triest, der gefürsteten Grafschaften Görz und Gradisca und schon gegen Ende des Nationalitätenzugs die Gruppen der gefürsteten Grafschaft Tirol und des Landes Vorarlberg.  [<< 15] Sämtliche Glocken Wiens läuteten, Ansprachen wurden gehalten, die Volkshymne erklang. Die Sonne schien, der Kaiser war zufrieden. Doch bei genauerem Hinsehen waren nicht nur die Gruppen und Delegationen aufgefallen, die in diesem Festzug mitgezogen waren, sondern auch jene, die fehlten. Die Völker der ungarischen Reichshälfte, vornehmlich also Ungarn, Slowaken, Kroaten und Serben, hatten keine Veranlassung gesehen, bei diesem Wiener Spektakel mitzumachen. Sie kamen zwar in den historischen Szenen vor, doch nicht im Zug der Nationalitäten. Ebenso wenig wie die Vertreter des bosnisch-herzegowinischen Okkupationsgebiets. Das ließ sich irgendwie erklären: Die Völker Österreichs huldigten, nicht aber jene des Königreichs Ungarn. Die Tschechen Böhmens und Mährens aber hatten unter einem an sich nichtigen Vorwand ihre Nicht-Teilnahme verkündet und wollten nicht gemeinsam mit den Deutschen dieser Kronländer am Festzug teilnehmen. Und auch die Italiener fehlten unter den Südtiroler und Trentiner Abordnungen. Man ging darüber hinweg, und von ausländischen Diplomaten war zu hören: »In der ganzen Welt gibt es kein Land, wo die Dynastie so fest steht wie hier und wo man so etwas zustande brächte.« Der österreichisch-ungarische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand meinte sogar, »dies wäre mehr als eine gewonnene Schlacht« gewesen.⁹ Am Tag danach schien alles wie vorher – und doch war es anders geworden. Ein vergleichbarer Aufmarsch der Nationalitäten sollte nie mehr stattfinden. So gesehen markierte der Kaiser-Huldigungs-Festzug das Ende einer Ära, ehe sie noch zu Ende war. Doch die Weichenstellungen waren schon Jahrzehnte vorher erfolgt, und gerade die Jahre von 1908 an brachten nur die Beschleunigung eines Prozesses, der von Zeitgenossen und Nachlebenden mit zunehmender Erregung erlebt wurde.

    Seit 1867 die Auflösung der Habsburgermonarchie mit der Reichsteilung in eine österreichische und eine ungarische Reichshälfte begonnen und die k. u. k. Monarchie ihren Anfang genommen hatte, liefen zwar die Auflösungs- und die Stabilisierungstendenzen parallel ab, doch der Erfolg Ungarns bei seinen Unabhängigkeitsbestrebungen war jedenfalls Vorbild für andere Völker des Reichs. Phasen faktischer Unregierbarkeit waren die Folge. Und nach Jahrzehnten unausgesetzter Bemühungen, dauerhafte Lösungen zu finden, machten sich Zeichen der Resignation bemerkbar. Es musste also etwas geschehen. Das glaubten nicht nur Außenpolitiker und »Präventivkrieger«, sondern viele und vor allem Intellektuelle. Jene noch zu beschreibende Stimmung in der Julikrise 1914, in der die Geistigkeit Europas mit wenigen Ausnahmen den Krieg begrüßte, und zwar nicht nur aus nationalen, sondern aus grundsätzlichen Erwägungen heraus, war in Österreich-Ungarn in hohem Maß vorhanden. Die Philosophie, Soziologie, Psychologie, Journalistik und, nicht zu vergessen, die Geschichtswissenschaft leisteten das Ihre, um im Krieg etwas Selbstverständliches und Notwendiges zu sehen. Schließlich wurde auch seit der Jahrhundertwende international vorexerziert, wo der Krieg im Rahmen des politischen Verkehrs seinen Platz hatte. So gut wie kein Jahr ver [<< 16] ging, in dem es nicht irgendwo auf der Welt einen größeren Krieg gab, der die Mächte des sogenannten europäischen Konzerts militärisch forderte. Es gab folglich schon ausgeprägte Erwartungshaltungen und Voraussetzungen, die letztlich die Entfesselung des Weltkriegs zu einem einfachen Handgriff werden ließen. Und Österreich-Ungarn, das eine Art »Defizit an Krieg« hatte, tat schließlich, was es glaubte, tun zu müssen, und legte Hand an sich selber an.

    Der Ballhausplatz und das Defizit an Krieg

    Bei der Frage, wo denn bei der Vorgeschichte des Weltkriegs anzusetzen ist, spielt natürlich die Außenpolitik eine besondere Rolle. Die Zusammenhänge verleiten zwar dazu, immer weiter zurückzugehen und schon weit zurückliegende Geschehnisse in die Darlegung der Kriegsursachen mit einzubeziehen. Denn wäre das oder jenes nicht gewesen, dann hätte dies und das nicht stattgefunden.¹⁰ Sucht man jedoch nach jenen Vorgängen, die die Außenpolitik Österreich-Ungarns im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert am nachhaltigsten beeinflusst haben, dann stößt man sehr rasch auf den Machtverlust des Osmanischen Reichs. Dadurch, dass die Habsburgermonarchie an der Peripherie eines kollabierenden Großreichs lag, wurde ihre Außenpolitik auf ganz bestimmte Räume gelenkt. Die Erbschaft, die hier anzutreten war, schien aber alles einzuschließen, was auch den Türken zu schaffen gemacht hatte. Der Zerfall oder auch nur die drohende Auflösung eines Großreichs zieht ja immer gewaltige Probleme nach sich, denn jene, die stabilisierend wirken und ein Reich erhalten wollen, stehen naturgemäß mit jenen in Konflikt, die eine Erbschaft antreten wollen.¹¹ Das war im Fall des Osmanischen Reichs genauso wie dann später im Fall Österreich-Ungarns, der kollabierenden Großmacht im Donauraum. Noch unternahm die Habsburgermonarchie gezielte Anstrengungen, um dem Verfall entgegenzuwirken. Vielleicht war es aber gerade der fast zwanghafte Versuch, aus dem verhängnisvollen Kreis ausbrechen zu wollen, der der österreichisch-ungarischen Politik etwas Hektisches und manchmal auch etwas Unberechenbares gab.¹²

    Die Außenpolitik der Monarchie stieß dort an ihre Grenzen, wo es zu einer Interessenkollision mit jenen Mächten kam, die als dynamische imperialistische Großmächte auftraten, also vor allem dort, wo Großbritannien, Frankreich und das Deutsche Reich ins Spiel kamen; dort, wo sich der Rivale im Kampf um die türkische Erbschaft, nämlich das zaristische Russland, zu Wort meldete, und wo nach Expansion suchende Mittel- und Kleinstaaten auftraten, die ihre jeweiligen Forderungen durchzusetzen bestrebt waren. Das galt vor allem für Italien und schließlich für Serbien. Dass ihr Zusammenspiel und ihre Gegnerschaft bei der Darlegung der Gründe für den Ausbruch des Weltkriegs berücksichtigt werden müssen, ergibt sich von selbst. Wie sonst wollte  [<< 17] man die Reaktionen auf bestimmte Vorgänge, die Bündnispolitik und schließlich die Kriegsziele verstehen?

    Der Krieg bereitete sich in erster Linie auf dem Balkan vor. Zwar war immer wieder der Ausbruch eines Kriegs gegen Russland oder die Einbeziehung der Habsburgermonarchie in einen deutsch-französischen Krieg befürchtet worden, doch den Spannungen zwischen Österreich-Ungarn bzw. Deutschland einerseits und Russland andererseits oder auch den Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich fehlte jene spontane Aggressivität und das Irrationale, das auf dem Balkan ins Spiel kam. Dort war nichts fest gefügt und gab es kein Gleichgewicht. Und als der österreichisch-ungarische Außenminister Baron Aloys Lexa von Aehrenthal 1908 die Monarchie auf eine aktivere Außenpolitik einschwor und damit eine Revision der Politik seines Vorgängers, des polnischen Grafen Agenor Gołuchowski, einleitete, kam das Gefüge auf dem Balkan noch zusätzlich und auf dramatische Weise in Unordnung.

    Aehrenthal hatte als Präsidialchef im Ministerium des Äußern, dann als Gesandter in Bukarest (Bucureşti) und schließlich von 1899 bis 1906 als Botschafter in St. Petersburg reichlich Erfahrungen sammeln und Einblicke gewinnen können, und was er begann, schien zunächst weder besonders unlogisch noch besonders aufregend. Es kam bestenfalls überraschend.¹³ Der Berliner Kongress hatte Österreich-Ungarn 1878 ein Mandat zur Okkupation Bosniens und der Herzegowina gegeben. Ebenso sollte ein zwischen Serbien und dem im Westen der Balkanhalbinsel gelegenen Fürstentum Montenegro liegendes Gebiet, der sogenannte Sandschak von Novi Pazar, von Österreich besetzt werden. Österreich-Ungarn durfte im Okkupationsgebiet Truppen stationieren (in Bosnien und Herzegowina auch Soldaten ausheben) sowie administrative Angleichungen vornehmen und die Verkehrswege ausbauen, im Übrigen aber sollte die nominelle Oberhoheit des Sultans erhalten bleiben. Doch Österreich-Ungarn sah in den beiden Provinzen eine Art Ersatzkolonie und hatte ja auch schon große Erfahrung in der »Europäisierung« von ost- und südosteuropäischen Gebieten. Also wurden die Strukturen des habsburgischen Vielvölkerreichs auf das Okkupationsgebiet ausgedehnt. 1907 war darangegangen worden, von Wien nach Sarajevo, der Hauptstadt Bosniens, und von dort nach Mitrovica im Sandschak eine Bahnlinie zu bauen. Das hätte nach der Fertigstellung des Projekts eine außerhalb Serbiens führende Bahnverbindung nach Saloniki entstehen lassen. Das Projekt hatte in Serbien helle Empörung ausgelöst, denn in Belgrad fürchtete man eine Festigung der österreichisch-ungarischen Herrschaft im Okkupationsgebiet, an dem ja auch die Serben interessiert waren. Russland unterstützte Serbien. Der Bau der Bahnlinie wurde dennoch begonnen, allerdings kam man nicht sehr weit.

    Das Bahnprojekt war ein weiterer Stein auf dem Weg einer Verständigung Serbiens mit der Donaumonarchie, und fortan wurde jeder, der sich in Serbien für eine Annäherung einsetzte, der Anbiederung geziehen. Wien kam nur insofern in eine komfortablere Situation, als die Ermordung des serbischen Königs Aleksandar und seiner  [<< 18] Frau und das Massaker, das eine Gruppe von Offizieren 1903 verübt hatte, schockartig wirkten und auch in der westlichen Presse die Schlussfolgerung nach sich zog: Serbien gehört nicht zu den zivilisierten Staaten Europas! »Der geeignete Ort für so einen grausamen, im Voraus geplanten Mord an einem König wäre ein mittelasiatisches Khanat, jedoch nicht eine Stadt in Europa«,¹⁴ schrieb man in einer britischen Zeitung. Die Putschisten bildeten dann den Kern der Geheimorganisation »Die Schwarze Hand«.

    Während des russisch-japanischen Kriegs 1904/05 fürchtete man in Russlands Hauptstadt St. Petersburg genauso wie in Belgrad, dass Österreich-Ungarn die Situation nützen und das Okkupationsgebiet Bosnien und Herzegowina annektieren würde. Doch in Wien wurden nicht einmal nennenswerte Erwägungen in diese Richtung angestellt. Der Minister des Äußern, Graf Gołuchowski, hatte andere Sorgen und Prioritäten. Wohl aber brachte dann sein Nachfolger, Aehrenthal, im Januar 1908 das Sandschak-Bahnprojekt neuerlich zur Sprache, das ihm als Vorstufe zu einer regelrechten Angliederung wichtig schien. Er stellte das Einvernehmen mit den Türken her und informierte anschließend den russischen Außenminister, Graf Aleksej Izvolskij, über die österreichischen Absichten. Russland verhielt sich keinesfalls ablehnend. Es verfolgte jedoch eigene Ziele und wollte seine wegen des Kriegs in Fernost unterbrochene Hinwendung nach Europa in der Weise wieder beginnen, dass es in der Meerengenfrage, dem alten russischen Traum von der Beherrschung von Bosporus und Dardanellen, initiativ wurde. In St. Petersburg begann man zu sondieren und suchte nicht zuletzt die Unterstützung Österreich-Ungarns. Zeitgleich ereignete sich im Osmanischen Reich die sogenannte jungtürkische Revolution. Das Osmanische Reich erhielt eine neue Verfassung, und es schien durchaus möglich, dass der Sultan aus innenpolitischen Zwängen die 1878 von Österreich-Ungarn okkupierten Provinzen zurückforderte. Damit wären alle Investitionen ebenso wie die strategischen Ziele verloren gegangen. Auch wenn das Spekulation bleiben sollte, trieb es doch die Politik Aehrenthals voran. Er sah es als naheliegend an, dass sich Österreich-Ungarn mit Russland verständigte und einen Abtausch der Interessen vornahm.¹⁵ Am 16. September 1908 kam es zu einem Treffen Aehrenthals mit Izvolskij im mährischen Städtchen Buchlau (Buchlovice), in einem Schloss des Grafen Leopold Berchtold, des Nachfolgers Aehrenthals als Botschafter Österreich-Ungarns in Russland. Die Abgeschiedenheit des Orts der Unterredung hatte zwei Gründe: Zum einen konnte man abseits der Wahrnehmung anderer Staatskanzleien konferieren; und außerdem war die gegenseitige Sympathie der beiden Außenminister enden wollend, also sollte die Begegnung möglichst kurz gehalten werden. In einem kleinen Salon und unter vier Augen verständigten sich die beiden Außenminister innerhalb weniger Stunden dahin gehend, dass Österreich-Ungarn Bosnien und die Herzegowina annektieren, den Sandschak aber an die Türkei zurückgeben würde. Im Gegenzug wollte die Donaumonarchie die russische Meerengenpolitik unterstützen.¹⁶ Das Zögern von Zar Nikolaj II., auf diese Regelung einzu [<< 19] gehen, und – was noch schlimmer war – der dumme Ehrgeiz und die Voreiligkeit eines österreichischen Diplomaten, des Botschafters in Paris, Rudolf Graf Khevenhüller-Metsch, der die Buchlauer Abmachung noch vor dem vereinbarten Termin weitererzählte, führten zum Eklat. Die Meerengenfrage interessierte natürlich auch andere, vor allem Großbritannien. Und in London schloss man kategorisch aus, Russland die seit dem Krimkrieg verwehrte freie Durchfahrt von Kriegsschiffen durch den Bosporus und die Dardanellen zu erlauben. Außenminister Izvolskij spielte daraufhin die Sache herunter und erklärte, in Buchlau nur über die Möglichkeit eines neuen, dem Berliner Kongress von 1878 ähnelnden Treffens der europäischen Großmächte gesprochen zu haben. Dort hätte Österreich-Ungarn seine Wünsche vorbringen sollen und wäre des russischen Verständnisses sicher gewesen. Aehrenthal hatte das aber anders in Erinnerung und sah die Kehrtwendung Izvolskijs als schlichte Ausrede. Dass die Russen mit ihrem Meerengenprojekt nicht weiterkamen, war letztlich deren Problem. Aehrenthal seinerseits wollte die Bosnien- bzw. Sandschak-Frage jedenfalls ganz im Sinne der Buchlauer Vereinbarungen lösen. Bei diesem Vorgehen fand er die Zustimmung der Parlamente Österreichs und Ungarns, aber auch jene Kaiser Franz Josephs und des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand. Am 7. Oktober 1908 erfolgte die kaiserliche Proklamation der Annexion Bosniens und der Herzegowina. Sie sollten künftig »normale« Provinzen der österreichisch-ungarischen Monarchie sein.

    Spätestens hier könnte man einen Ausflug in die kontrafaktische Geschichte machen und sich fragen: Was wäre gewesen, wenn? Hätten die Türken die beiden Provinzen zurückgefordert und bei einer Weigerung womöglich Krieg gegen Österreich-Ungarn geführt? Wäre der österreichisch-serbische Konflikt ohne das bosnische Problem eskaliert? Hätte sich an der russischen Haltung gegenüber der Habsburgermonarchie etwas geändert? Wäre der österreichisch-ungarische Thronfolger vielleicht nie nach Sarajevo gefahren …? Es kam anders!

    Mit dem Osmanischen Reich gab es bald wieder Einvernehmen, da Österreich-Ungarn für türkische Domänen in den annektierten Gebieten eine angemessene Entschädigung zahlen wollte. Außerdem wurde der Sandschak von Novi Pazar mit seinen rund 350.000 Menschen an die Türkei zurückgegeben; und insgesamt hatte das Osmanische Reich kein Interesse daran, es sich mit der Habsburgermonarchie auf Dauer zu verscherzen. Doch die Auseinandersetzungen Österreichs mit Russland und vor allem mit Serbien, das die staatsrechtliche Veränderung auf dem Balkan als bedrohlich und vor allem auch als etwas ansah, das seiner eigenen Expansion hinderlich war, gingen weiter. Zu guter Letzt sah sich Aehrenthal veranlasst, die mit Russland getroffenen Vereinbarungen auszugsweise zu publizieren, um über den aktuellen Anlass hinausgehend deutlich zu machen, dass Russland einer Annexion schon 1876 und 1877 zugestimmt hatte und dass auch die Vereinbarung mit Izvolskij bei Weitem konkreter war, als es der Russe mittlerweile wahrhaben wollte. [<< 20] 

    Dieser Schritt wurde – berechtigt oder nicht – von St. Petersburg als Peinlichkeit empfunden und als Demütigung gesehen. Doch damit nicht genug: Da Serbien zwei Tage nach der österreichischen Annexionserklärung eine Teilmobilmachung durchführte und sich auch verbal überaus aggressiv zeigte, verlangte Aehrenthal von Belgrad eine Erklärung, in der es seine Bereitschaft bekunden sollte, mit Österreich-Ungarn wieder normale gutnachbarliche Beziehungen aufzunehmen. Serbien antwortete mit der Forderung nach einer Kompensation für den Länderzuwachs der Habsburgermonarchie. Das war nun wirklich schwer zu begründen und fand auch bei den Russen keine Unterstützung. In St. Petersburg ging man sogar so weit, Österreich zu verstehen zu geben, dass die Donaumonarchie mit einem Eingreifen Russlands nur dann zu rechnen hätte, wenn sie sich zu einer »Promenade militaire« nach Belgrad entschließen sollte.

    Schließlich unternahm Großbritannien einen Vermittlungsversuch, der nach endlosem Hin und Her und nachdem sich auch das Deutsche Reich eingeschaltet hatte, von Österreich-Ungarn akzeptiert wurde. Serbien gab eine Erklärung ab, wonach es die Beziehungen zu Österreich-Ungarn wieder positiv gestalten wollte. Auch wenn dieser Erklärung keine wirkliche Bedeutung zukam und man in Österreich-Ungarn wohl auch nicht mitbekam, dass sich in Serbien eine weitere Geheimorganisation, die Narodna Odbrana (Nationale Verteidigung), mit dem Ziel gebildet hatte, die Vereinigung aller Serben, auch jener Österreich-Ungarns, mit dem südslawischen Königreich zu erreichen und obendrein die vermeintliche Schmach zu rächen, die Serbien widerfahren war, war zumindest nach außen hin wieder ein normaler zwischenstaatlicher Verkehr möglich.

    Auch im Inneren der Habsburgermonarchie glätteten sich allmählich die Wogen. Doch die Annexion hatte sehr wohl zu überbordenden Reaktionen geführt. Vor allem in den Ländern der böhmischen Krone machte man kein Hehl daraus, dass man weit mehr mit Serbien sympathisierte, als dass man es dem Kaiser gönnte, »Mehrer des Reiches« zu sein. Und ausgerechnet am Jahrestag seiner Thronbesteigung, am 2. Dezember 1908, musste in Prag das Standrecht verkündet werden, um die Ausschreitungen zu beenden und die Ruhe wieder herzustellen.

    Am Ende der Annexionskrise war zu registrieren, dass sich 1908/1909 einige Handlungsmuster ergeben hatten, die auch später immer wieder als Vorlage dienten. Der Habsburgermonarchie war bei ihrem Vorgehen seitens des Deutschen Reichs Rückendeckung zuteil geworden. Der deutsche Reichskanzler Bernhard von Bülow hatte am 30. Oktober 1908 Österreich-Ungarn unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass das Deutsche Reich jede Entscheidung mittragen und folglich auch militärisch Rückendeckung geben würde.¹⁷ Das war aber nur eine Erfahrung, die zu gewinnen gewesen war. Frankreich und England hatten sich mit der Annexion Bosniens und der Herzegowina abgefunden. Ihre Interessen lagen anderswo, und gerade imperialistischen Mächten konnte eine koloniale Anwandlung nicht fremd sein. Die Reaktion Italiens  [<< 21] regte nicht auf. Was aber durchaus zu Buche schlug, war der Umstand, dass Österreich sein Verhältnis zu Russland und Serbien gewaltig strapaziert hatte. Und das sollte nie vergessen werden. Bestimmte Vorgänge im zwischenstaatlichen Bereich werden ja nicht deshalb zu entscheidenden Faktoren, weil sie unmittelbar wirksam werden. Wohl aber lassen Demütigungen oder schwere Schädigungen von als national angesehenen Interessen Aversionen und Rachegefühle wachsen, die zwar nichts in der Politik verloren haben, aber aus jenem Hintergrund, vor dem sich die Politik abspielt, nicht extrapoliert werden können. Dergleichen schlägt sich dem Konfliktpotenzial zu. Izvolskij wurde als Minister abgelöst und ging als russischer Botschafter nach Paris. Er spielte in der Folge auch in der Julikrise 1914 eine Rolle und trat wohl zum wenigsten für ein Nachgeben Russlands und Serbiens ein, als es darum ging, die Folgen des Mordes von Sarajevo zu beurteilen. Er hatte ja noch so etwas wie eine persönliche Rechnung zu begleichen.

    Das Pulverfass

    Aehrenthal hatte mit seiner Politik letztlich Erfolg gehabt. Und dass sie Kaiser Franz Joseph billigte, fand nicht zuletzt darin seinen Ausdruck, dass der Kaiser seinen Minister des Äußern 1909 in den Grafenstand erhob. Es war nichts Mutwilliges an Aehrenthals Politik gewesen, die mit den österreichischen Entscheidungsträgern, aber auch mit dem Ausland abgestimmt gewesen war. Doch das sollte nicht besagen, dass seine Politik nicht auch umstritten war. Weder die deutschen Parteien der Habsburgermonarchie noch die nationalen Ungarn waren über den Zuwachs an slawischen Gebieten erfreut. Dennoch strebten beide Reichshälften danach, die Neoakquisita ihrem Länderkomplex zugeschlagen zu bekommen. Es gab keine Einigung. Die Folge war, dass die annektierten Provinzen jenes staatliche Niemandsland blieben, das sie seit Beginn der Okkupation 1878 gewesen waren. Der jeweilige gemeinsame Finanzminister Österreich-Ungarns, einer der drei gemeinsamen Minister der Donaumonarchie, und nicht die Regierung einer der beiden Reichshälften Österreich-Ungarns war für die Verwaltung Bosniens und der Herzegowina zuständig. Aber das Sagen hatte ohnedies der Zivil- und Militärgouverneur, und das war ein General.

    Kritisiert wurde das augenscheinliche Kriegsrisiko, das der Minister des Äußern eingegangen war. Es gab aber auch Stimmen, die bedauerten, dass die Annexion friedlich erfolgt war und sich daraus kein Krieg mit Serbien ergeben hatte. Exponent dieser Gruppe war der Chef des Generalstabs für die gesamte bewaffnete Macht Österreich-Ungarns, General Franz Conrad von Hötzendorf. Er machte kein Hehl daraus, dass er die Annexion gerne zum Anlass genommen hätte, einen Präventivkrieg gegen Serbien zu führen. Russland, so der Generalstabschef, sei nicht kriegsbereit, ebenso wenig wie Italien und Frankreich. England würde keinen Krieg wollen, und Rumänien sei ein Ver [<< 22] bündeter. Eine wunderbare Gelegenheit also. Doch Aehrenthal hatte mehrmals unmissverständlich betont, dass an einen Angriffskrieg nicht zu denken wäre. Und er wusste sich der Zustimmung des Kaisers wie des Thronfolgers sicher. Tatsächlich erklärte Serbien am 10. März 1909 vergleichsweise feierlich, es würde seine Vorbehalte gegen die Annexion Bosnien-Herzegowinas aufgegeben haben, keinerlei feindselige Absichten gegenüber Österreich-Ungarn hegen und bestrebt sein, gute Nachbarschaft zu pflegen. Damit wurde Österreich ganz offensichtlich jeglicher Kriegsgrund genommen.

    Das Verhältnis zwischen Conrad und Aehrenthal verschlechterte sich fast schlagartig. Conrad wollte auch in den Folgejahren einfach nicht wahrhaben, dass sich die für die Außenpolitik der Monarchie Verantwortlichen seinem Drängen nach Krieg widersetzten. Und nachträglich – allerdings nicht unter Zugrundelegung eines moralischen Standpunkts – schien er recht gehabt zu haben: Die Niederwerfung Serbiens hätte alles anders werden lassen.

    Außer Politikern, Diplomaten und einigen Parteien war noch eine Gruppe strikt gegen die Annexion gewesen, nämlich die österreichische Friedensbewegung, die unter der Führung Bertha von Suttners zu einer recht einflussreichen Schar geworden war. Massenbeitritte ganzer Organisationen wie von Lehrervereinigungen und kirchlichen Vereinen ließen die Mitgliederzahl der österreichischen Friedensbewegung stark ansteigen. Allerdings wurde auch argumentativ eine Gratwanderung beschritten, da man in der Zeitschrift dieser Bewegung, der »Friedenswarte«, zwischen Kulturnationen und rückständigen Völkern zu differenzieren begann und die Balkanvölker, aber auch Russland unmissverständlich der letzteren Gruppe zurechnete.¹⁸ Vorerst konnten sich aber auch Frau von Suttner und die Ihren darüber freuen, dass es doch noch nicht zum Krieg gekommen war.

    Obwohl also eine gefährliche Zuspitzung der Krise vermieden werden konnte, war man europaweit in Balkanfragen sensibilisiert. Da Krieg und Frieden so offensichtlich mit dem Balkan zusammenzuhängen schienen, trug denn auch jedes Ereignis, trug jede Veränderung des Status quo auf dem Balkan dazu bei, in den Staatskanzleien die Alarmglocken schrillen zu lassen.

    Der Konflikt zwischen Conrad und Aehrenthal erreichte aber erst in den darauf folgenden Jahren seinen Höhepunkt, als sich Serbien und Bulgarien überraschend für eine gemeinsame Politik entschieden und mit russischer Zustimmung und Hilfe einen Balkanbund zu schaffen begannen. Serbien war offensichtlich auf Machtzuwachs aus und erhielt dabei breite Unterstützung. Conrad warf Aehrenthal einmal mehr vor, sich 1909 einem Präventivkrieg widersetzt zu haben. Am 18. Juli 1911 schrieb Conrad an den Minister des Äußern: »Ich kann nicht umhin, auf meine seit jeher vertretene Ansicht zurückzukommen, dass ein vor Jahren geführter Krieg unsere militärische Lage bei Balkanunternehmungen wesentlich günstiger gestaltet hätte, sowie dass die Führung des Kriegs gegen Serbien im Jahre 1909 mit einem Schlage die Monarchie in jene  [<< 23] Position am Balkan gebracht hätte, die sie einnehmen muss, deren Erringung aber jetzt weit schwierigere Verhältnisse findet als damals.«¹⁹ In dieser Äußerung, der zahlreiche ähnliche vorangingen und noch folgen sollten, wurde nicht nur der Fall Serbien thematisiert, sondern auch das Defizit an Krieg überdeutlich zum Ausdruck gebracht.

    Aehrenthal wollte nicht zuletzt wegen seines Konflikts mit Conrad mehrfach demissionieren. Der Kaiser lehnte das ab und versicherte dem Minister sein Vertrauen. So blieb also der schon vom Tod gezeichnete, an schwerer Leukämie leidende Aehrenthal im Amt und stemmte sich weiterhin mit aller Vehemenz gegen die Präventivkriegswünsche der »Kriegspartei«. Auch als Conrad im Dezember 1911 vorübergehend vom Posten des Chefs des Generalstabs abberufen und für rund ein Jahr durch den General der Infanterie Blasius Schemua ersetzt wurde, änderte das nichts daran, dass das Ministerium des Äußern von den »Präventivkriegern« immer nachhaltiger kritisiert wurde. Dabei vertrat Aehrenthal ohnedies die Auffassung, dass »eine aktive, auf Expansion gerichtete Außenpolitik das beste Heilmittel« gegen die innenpolitische Stagnation und die nationalen Zersetzungserscheinungen in der Habsburgermonarchie sei.²⁰ Doch warum sollte man Krieg führen, wenn es sich vermeiden ließ? Aehrenthals Auffassung färbte auf seine engeren Mitarbeiter ab, von denen vor allem János Graf Forgách, der Kabinettschef des Ministers, Friedrich Graf Szápáry, Ottokar Graf Czernin oder auch Alexander Freiherr von Musulin und Alexander Graf Hoyos die Gedanken ihres Chefs fortspannen. Wenig erfolgreich, wie man 1914 sehen sollte. Aehrenthals Politik wurde auch durchgängig von Erzherzog Franz Ferdinand unterstützt, allerdings mit einer vielleicht noch deutlicheren Verweisung auf die Vermeidung eines Kriegs.²¹

    Mitte Februar 1912 wurden die Karten neu gemischt. Aehrenthal starb. Angesichts seiner schweren Krankheit war schon lange über einen Nachfolger gesprochen worden. Es sollte jemand sein, der Erfahrungen mit Russland hatte. Deren gab es mehrere. Zum anderen aber sollte gewährleistet sein, dass die Aehrenthal’sche Politik fortgesetzt würde und dass der neue Minister des Äußern und des kaiserlichen Hauses, der er ja gleichzeitig zu sein hatte, in die schwierige Konstellation bei Hof und in die Machtkreise hineinpasste. Da gab es dann nur mehr wenige. Die Ernennung Leopold Graf Berchtolds, der die Buchlauer Entrevue arrangiert und 1908 die Annexionskrise in St. Petersburg als Botschafter erlebt hatte, schien angesichts dieser Prämissen eine logische Entscheidung zu sein.²² Berchtold blieb keine Zeit der Gewöhnung und des Einarbeitens. Knapp einen Monat nach seiner Ernennung schlossen am 13. März 1912 Serbien und Bulgarien einen lange diskutierten Balkanbund, der sich zwar gegen die Türkei richtete, aber auch eine Spitze gegen Österreich-Ungarn enthielt. Serbien wollte sein Staatsgebiet im Südwesten vergrößern. Für Bulgarien war Mazedonien das Ziel. Zar Ferdinand I. von Bulgarien bekundete sein offenes Interesse an der Gewinnung Adrianopels und Salonikis. Im Vertrag hieß es aber auch, dass Bulgarien zur Entsendung von Truppen verpflichtet wäre, falls Österreich-Ungarn Serbien angreifen sollte.²³ [<< 24] 

    Die Generalstäbe hatten Hochbetrieb. Jene der Balkanstaaten genauso wie die Russlands, Großbritanniens, Frankreichs oder Italiens. Nicht zu vergessen die Generalstäbe Deutschlands und Österreich-Ungarns, die genauso alarmiert waren. Gab es auf dem Balkan Krieg, dann war seine Begrenzbarkeit nicht so ohne Weiteres gegeben. Es hatten sich ja auch schon längst die Stimmen gemehrt, die einen großen Krieg als unvermeidlich darstellten. Der Bericht des russischen Militärattachés in London vom Februar 1912, wonach ein Krieg zwischen Österreich-Ungarn, Deutschland und Italien einerseits und den Mächten der »Entente cordiale«, England und Frankreich, aber auch Russland andererseits »wahrscheinlich unvermeidlich« sei, dessen Aufschiebung aber »wünschenswert« wäre, war nur eine von vielen ähnlichen Äußerungen.²⁴

    Im Oktober 1912 war es dann so weit: Griechenland und Montenegro schlossen sich dem Balkanbund an; Bulgarien und Serbien machten mobil.²⁵ Russland, das seit dem September Mobilmachungsübungen durchführte und solcherart vor allem Österreich-Ungarn einschüchtern wollte, signalisierte die Unterstützung der anti-türkischen Koalition. Die Türkei richtete einen dringenden Appell an Österreich-Ungarn, ihr in der schwierigen Lage zu Hilfe zu kommen. Schließlich wurde direkt angefragt, ob die Donaumonarchie nicht wieder den Sandschak von Novi Pazar besetzen könnte. Doch Wien lehnte ab. In einer Reihe von Konferenzen zwischen dem 16. und dem 30. Oktober 1912 wurde festgelegt, dass Österreich-Ungarn nur dann militärische Maßnahmen ergreifen würde, sollte sich eine Großmacht oder auch Serbien am östlichen Adria-Ufer bzw. am Ionischen Meer festsetzen. Auch die Besetzung des Sandschaks durch Serbien oder Montenegro würde keine vitalen Interessen Österreich-Ungarns treffen, meinte man in Wien. Um Serbien von der Adria abzuhalten, wäre es allerdings wünschenswert, nach einer absehbaren Niederlage der türkischen Truppen und der Räumung des Vilâjet auf dem westlichen Balkan einen autonomen albanischen Staat zu schaffen.²⁶ Damit sollte auch verhindert werden, dass Russland sich womöglich mithilfe Serbiens einen Flottenstützpunkt in der Adria sichern könnte.²⁷

    Mit dieser Haltung waren sicherlich nicht alle zufrieden, und es gab einen merklichen Einklang zwischen den Forderungen hoher Militärs und hoher Beamter des Ministeriums des Äußern, wie der Grafen Forgách, Szápáry und Hoyos, die sich auf die Seite der Kriegspartei schlugen.²⁸ Doch zunächst galt es abzuwarten, ob der Waffengang so endete wie prognostiziert.

    Die Staaten, die gegen die Türkei Krieg begannen, errangen eine Reihe leichter Siege. Am weitesten stießen die Bulgaren vor. Serbien aber drängte zur Adria und wiegte sich in der Hoffnung, Russland würde es in seinem Bestreben, albanische Gebiete zu besetzen, unterstützen. Russland winkte jedoch zur Enttäuschung Belgrads ab. Großbritannien und Frankreich erklärten ebenfalls, sie würden nicht Krieg beginnen wollen, bloß weil Serbien ans Meer drängte und Österreich-Ungarn wiederum die Serben vom Meer abhalten wollte. Der russische Gesandte in Belgrad, Nikolaj Hart [<< 25] vig, der als »mastermind« der Balkankoalition galt, ging jedoch über die Instruktionen St. Petersburgs hinaus und suggerierte Serbien die russische Unterstützung auch in einem Krieg gegen die Donaumonarchie. Serben und Montenegriner behielten daher ihre Vormarschrichtung bei und riskierten den Krieg mit Österreich-Ungarn. Am 7. Dezember 1912 stimmte Kaiser Franz Joseph zu, die Truppen des XV. und XVI. Armeekorps in Bosnien, Herzegowina und Dalmatien auf den Kriegsstand zu bringen. Das war noch keine Mobilmachung, brachte aber eine Aufstockung der Verbände von rund 40.000 Mann Friedensstand auf 100.000 Mann.²⁹ Tags darauf gab es in Berlin den berühmten, vom deutschen Historiker Fritz Fischer und anderen so detailreich geschilderten »Kriegsrat«, von dem ein amerikanischer Historiker meinte, im Vergleich mit dem, was parallel dazu in Wien gesprochen wurde, wäre der Berliner Kriegsrat ein »beinahe bedeutungsloses Geschwätz« gewesen.³⁰ Mittlerweile wurde die von Kaiser Wilhelm II. einberufene Besprechung vollends relativiert.³¹ Am 11. Dezember wurde Conrad von Hötzendorf abermals zum Generalstabschef berufen, allerdings lehnte es Kaiser Franz Joseph zur Enttäuschung Conrads ab, weitere militärische Schritte zu setzen. Der Kaiser wurde in seiner Haltung von Berchtold nachhaltigst unterstützt. Der Minister des Äußern hatte wenige Tage später, am 24. Dezember 1912, einen neuerlichen Ansturm der Kriegspartei auszuhalten, als der Landeschef von Bosnien und Herzegowina, der höchste Militär- und Zivilbeamte beider Provinzen, Feldzeugmeister Oskar Potiorek, die Einberufung der Reservisten seiner beiden Korpsbereiche sowie der Landwehr und der Landsturmpflichtigen verlangte. Potiorek wurde bei dieser Forderung durch den k. u. k. Kriegsminister, Baron Moritz Auffenberg, und den Generalstabschef massiv unterstützt.³²

    Auch der für Bosnien-Herzegowina zuständige gemeinsame Finanzminister, Leon Ritter von Biliński, sprach sich für militärische Maßnahmen aus. Die Enttäuschung über die österreichische Zurückhaltung machte sich in drastischen Äußerungen Luft. »Die Monarchie hat in Europa ihre Rolle ausgespielt«, meinte etwa der Wiener Staatsrechtsprofessor Josef Redlich. »Die Kaiser haben nicht einmal den Mut, andere für sich sterben zu lassen.«³³ Doch wieder schmetterte Berchtold die Forderungen ab. In Berlin vertrat der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Alfred von Kiderlen-Wächter zwar die Ansicht, Deutschland hätte Österreich-Ungarn zur Räson gebracht und den Frieden gerettet und verbrämte diese Ansicht noch in einem Schreiben an seine Schwester mit der Bemerkung, »den Frieden haben wir gesichert … und die dummen Österreicher, die nie genau wissen, was sie wollen und dabei die ganze Welt beunruhigen«, müssten eben schauen, wie sie allein weitermachten.³⁴

    Für Russland war die Sache jedoch bei Weitem nicht damit abgetan, dass der Auffüllung der k. u. k. Truppen in Bosnien und der Herzegowina nichts Weiteres folgte. So wie Russland schon vor Beginn des Balkankriegs mit Mobilmachungsübungen entlang der an Österreich-Ungarn angrenzenden Militärbezirke begonnen hatte, setzte  [<< 26] es auch in den Folgemonaten seine Maßnahmen zur Auffüllung der Verbände fort, sodass die Truppen in den westlichen Militärbezirken Kriegsstärke erreichten. Dazu kam eine Verlängerung der Dienstzeit. Kurzum: Russland schöpfte das Repertoire an Drohgebärden voll aus. Der russische Außenminister, Sergej Sazonov, versicherte zwar feierlich, in Russland würde es keinerlei militärische Bewegungen geben oder gar eine höhere Truppenpräsenz in den westlichen Militärbezirken. Doch das Evidenzbüro des k. u. k. Generalstabs, der militärische Nachrichtendienst, berichtete anderes und sah sich in den darauffolgenden Wochen bestätigt.³⁵ Sazonov – das wusste man damals noch nicht – neigte dazu, wenn es darauf ankam, herzhaft zu lügen. Auch das wäre in Vormerkung zu nehmen gewesen. In St. Petersburg wurde eine antiösterreichische Stimmung genährt, die nur dadurch entschärft wurde, dass Kaiser Franz Joseph im Januar 1913 den ehemaligen österreichisch-ungarischen Militärattaché in St. Petersburg, Prinz Gottfried Hohenlohe-Schillingsfürst, mit einem persönlichen Schreiben an den Zaren schickte. Damit schien die Gefahr wieder einmal gebannt. Doch auf dem Balkan war noch kein Ende abzusehen. Jetzt machte auch Montenegro Anstalten, seine Kriegsbilanz aufzubessern und Skutari (Shkodër) zu besetzen. Mit einem montenegrinischen Skutari wäre das österreichisch-ungarische Albanienprojekt, also die Schaffung eines unabhängigen albanischen Staates, unmöglich geworden. Und hinter Montenegro stand Serbien, dem man den Zugang zur Adria verwehren wollte. Zu guter Letzt willigten die Konfliktparteien ein, eine Botschafterkonferenz in London zu beschicken, die den Frieden zwischen dem Osmanischen Reich und den Balkanstaaten wiederherstellen sollte. Auf dieser Konferenz wurde am 11. März 1913 entschieden, dass einige von Montenegro bzw. Serbien beanspruchte Gebiete ethnisch zweifellos zu Albanien gehörten, also an das neu geschaffene Fürstentum abzutreten seien. Das betraf vor allem Skutari und Prizren sowie Teile des von den Serben besetzten Kosovo.

    Der russische Außenminister versuchte nichtsdestoweniger, noch einiges für Serbien herauszuschlagen. Serben und Montenegriner, Letztere bei Skutari, trachteten zudem, durch äußerste Grausamkeit in den beanspruchten Gebieten die Lage zu ihren Gunsten herumzureißen und ein Fait accompli zu schaffen. Um dem Gemetzel ein Ende zu setzen, willigte Berchtold in die Zugehörigkeit Djakovas zu Serbien ein, wenn die Kampfhandlungen und das Morden sofort eingestellt würden. Der Vorschlag fruchtete nichts. Doch im April 1913 nahm Serbien seine Truppen aus Albanien zurück, da sich ein Krieg mit dem früheren Bundesgenossen Bulgarien abzeichnete. Am 23. April fiel allerdings das von den Türken nach wie vor verteidigte Skutari den Montenegrinern in die Hände.³⁶ Die Botschafterkonferenz machte daraufhin unmissverständlich klar, dass die Großmächte das Vorgehen der Montenegriner nicht hinnehmen würden. Die Berichte über die Geschehnisse auf dem Westbalkan, nicht zuletzt die Schilderungen des Roten Kreuzes über massenhafte Gräueltaten, verfestigten die Meinung, dass man es »auf dem Balkan« nicht mit zivilisierten Völkern zu tun hätte. Der Ballhausplatz drohte mit dem  [<< 27] Einsatz von Gewalt. Ein bis dahin nicht ausgearbeiteter Operationsplan, der »Kriegsfall M« (Montenegro), wurde entworfen. Die deutsche Unterstützung kam prompt und bedingungslos. Schließlich fasste der gemeinsame Ministerrat Österreich-Ungarns am 2. Mai 1913 den Entschluss zu Mobilmachungsmaßnahmen entlang der montenegrinischen Grenze. Dieses Vorgehen hatte Erfolg: Noch am selben Tag kündigte König Nikola I. von Montenegro die bedingungslose Räumung Skutaris an.

    Doch der Balkan kam nicht zur Ruhe. Rumänien, das im Balkankrieg leer ausgegangen war, forderte von Bulgarien Silistria am Schwarzen Meer und etliche andere als »Kompensationen« bezeichnete Gebiete und Vorteile. Serbien, das mit Bulgarien um die Aufteilung des den Türken abgenommenen Mazedonien stritt, machte ebenfalls Front gegen Bulgarien. Von Österreich-Ungarn wurde erwartet, dass es das mit dem Deutschen Reich, Italien und der Donaumonarchie verbündete Rumänien unterstützte. Deutschland war zu einer solchen Unterstützung schon aus dynastischen Interessen bereit, da König Carol I. von Rumänien ein Prinz von Hohenzollern-Sigmaringen und mit dem deutschen Kaiser verwandt war.

    Am Ballhausplatz in Wien versuchte man jedoch weiter zu lavieren und gleichzeitig gegen die immer stärkeren russischen Einflussnahmen auf dem Balkan aufzutreten. In Wien konnte man kein besonderes Interesse daran haben, durch ein Eingreifen gegen Bulgarien letztlich Serbien zu helfen. Außerdem tat man sich bei der Behandlung Rumäniens schwer, da es im ungarischen Siebenbürgen rund drei Millionen Rumänen gab, die von Bukarest mehr oder weniger offen unterstützt wurden. In Ungarn war zwar die Meinung anzutreffen, die Rumänen in Siebenbürgen hätten keinen Grund, sich zu beklagen, denn sie hätten seit Abschluss der Militärkonvention mit Rumänien erhebliche Besserstellungen erfahren.³⁷ Doch das beeindruckte Rumänien in keiner Weise und brachte vor allem auch Bukarest nicht dazu, sich vorbehaltlos an Österreich-Ungarn und Deutschland anzuschließen. Also blieb Rumänien ein unsicherer Kantonist und vermehrte die kaleidoskopartige politische Landschaft des Balkans um einige besonders bunte Facetten.

    Da Bukarest keine wirkliche Unterstützung durch Wien bekam, wuchs in Rumänien eine massive antiösterreichische Stimmung. Und als im Juli 1913 dann der Zweite Balkankrieg ausbrach, wurde in Rumänien genauso gegen Sofia wie gegen Wien demonstriert und »Hoch Serbien!« gerufen.³⁸

    Es war wie während des Krimkriegs 1854/55: Österreich hatte sich zwischen alle vorhandenen Stühle gesetzt und erhielt für seinen Versuch, sich aus den Querelen herauszuhalten, letztlich von niemandem Dank. Bulgarien aber, das im Ersten Balkankrieg zum einen die Hauptlast getragen, zum anderen bedeutende Eroberungen gemacht hatte, unterlag dem gemeinsamen Angriff von Rumänen, Türken, Griechen und Serben. Es wurde territorial wieder stark beschnitten. Da sich Bulgarien aber vor allem von Russland im Stich gelassen fühlte – denn von Österreich-Ungarn und Deutsch [<< 28] land konnte es sich billigerweise nicht im Stich gelassen fühlen –, suchte es in der Folge Anlehnung an die großen mitteleuropäischen Mächte und sann auf Rache.

    Noch etwas anderes hatte der Zweite Balkankrieg bewirkt: Serbien, das bis 1913 davon auszugehen hatte, dass sowohl im Süden wie im Norden seines Staates serbische Minderheiten siedelten, hatte nunmehr im Süden so gut wie alle serbischen (und ein paar andere) Territorien mit seinem Staat vereinigen können. Es war also abzusehen, dass es sich bei seinen nationalistischen Ambitionen verstärkt nach Norden gegen Österreich-Ungarn wenden würde. Der Balkankrieg hatte also wiederum nichts wirklich gelöst, sondern Spannungen nur verlagert und weiteren Explosivstoff angehäuft. Und die Wirren dieses Jahres waren noch immer nicht beendet.

    Serbien hatte sich entgegen den auf der Londoner Botschafterkonferenz gegebenen Zusagen nicht zur Gänze aus Albanien zurückgezogen. Zwar drängte insbesondere Großbritannien auf Einhaltung des Vertrags, doch eine gemeinsame Demarche der an der Londoner Vereinbarung beteiligt gewesenen Staaten kam nicht zustande. Nur Wien versuchte ein ums andere Mal, auf die serbische Regierung Druck auszuüben und bei den übrigen interessierten Mächten eine gemeinsame Vorgangsweise zu erreichen. Vergeblich. Jetzt sträubte sich auch Italien, dem es zwar recht war, dass Serbien von der Adria ferngehalten wurde, das aber gleichzeitig eine Ausweitung des österreichisch-ungarischen Einflusses fürchtete und das kompensiert sehen wollte. Für Wien gab es nur die Alternative nachzugeben oder noch weiter gehende Maßnahmen zu beschließen. Abermals war es der als Generalstabschef wiederberufene Conrad, der mit seinen radikalen Forderungen vorpreschte. Klare Verhältnisse müssten geschaffen werden, meinte er, besonders auch hinsichtlich Rumäniens. Er plädierte für eine Angliederung Serbiens an die Donaumonarchie ähnlich der Bayerns an das Deutsche Reich. Wenn das nicht friedlich ginge, müsste man die Feindseligkeiten eben offen austragen. Die Gefahr für die südslawischen Gebiete der Monarchie durch eine serbische Irredenta sei so eminent, dass es keine andere Lösung mehr geben könne, meinte Conrad.³⁹ Der ungarische Ministerpräsident, István Graf Tisza, widersprach ihm ganz entschieden. Er wollte keine weiteren Gebietszuwächse, noch dazu in der von Conrad dargelegten Art. Ebenso wandte sich der k. u. k. Finanzminister Biliński gegen diesen Vorschlag, obwohl auch er eine Auseinandersetzung mit Serbien für unausweichlich ansah; Österreich-Ungarn würde den Krieg nicht vermeiden können. Man müsse daher ungeachtet der schlechten Finanzlage des Staats die Armee verstärken. Wieder also kam das Defizit an Krieg zur Sprache, und zudem das Defizit in der Staatskassa.

    Im Auftrag des Wiener Kabinetts hatte der österreichische Geschäftsträger in Belgrad, Baron Wilhelm von Storck, am 18. Oktober 1913 in ultimativer Form den Rückzug serbischer Truppen aus den albanischen Gebieten zu fordern. Für den Fall der Nichterfüllung drohte Österreich-Ungarn »geeignete Schritte« an – wie das so schön hieß.⁴⁰ Das konnte alles einschließen. Berlin ließ Wien noch am selben Tag wis [<< 29] sen, dass es die österreichische Politik weiterhin voll unterstütze. Serbien, dem für die Erfüllung der österreichischen Forderungen eine Frist von acht Tagen gesetzt wurde, lenkte sofort ein und versprach, seine Truppen innerhalb der von Wien geforderten Frist aus den albanischen Gebieten abzuziehen. Damit war Serbien abermals in die Schranken gewiesen und – wie es in Belgrad gesehen wurde – gedemütigt worden. Es hatte in den beiden Balkankriegen so gut wie alle Ziele erreicht, nur den Ausgang zum Meer nicht. Auf der anderen Seite hatte Österreich-Ungarn zum zweiten Mal erlebt, dass ein gehöriger Druck auf Serbien dieses zum Nachgeben zwang.

    An dieser Stelle lässt sich somit nicht nur schon ein wenig Bilanz über die Vorgeschichte des Weltkriegs ziehen; es waren auch Handlungsmuster deutlich geworden: Österreich-Ungarns Außenpolitik war weitgehend Balkanpolitik. Der Balkan und seine Probleme nahmen nicht nur die meiste Aufmerksamkeit, sondern auch die meisten Energien in Anspruch. Dort war alles in Umbildung, fast jeden Tag konnte ein neuer Konflikt ausbrechen, und wer dann gerade gegen wen stand und worum es im Einzelnen ging, war schwer vorauszusagen. Heute Gesagtes galt morgen nimmer mehr. So gut wie jeder der meist recht jungen und aus dem allmählichen Zerfall des Osmanischen Reichs entstandenen Staaten bediente sich nationalistischer und vor allem auch historischer Beweisführungen, um seine Ansprüche zu untermauern und auf seine althergebrachten Rechte zu verweisen: Die Serben brachten Stefan Nemanja (1166–1196) und Stefan Dušan (1331–1355) und deren großserbisches Reich ins Spiel; die Rumänen argumentierten mit Dakern, Römern, den Fürstentümern Moldau und Walachei und dem Jahrhunderte währenden Kampf gegen die Magyaren; die Bulgaren mit dem Großbulgarischen Reich des 7. Jahrhunderts sowie dem »Goldenen« 9. und 10. Jahrhundert. Albanien rühmte sich des erfolgreichen Kampfs gegen die Osmanen unter Skanderbeg im 15. Jahrhundert. Die Türken wiederum wollten – was auch verständlich war – ihren europäischen Besitz nicht einfach aufgeben und kämpften um dessen Erhalt. Und Österreich-Ungarn, das bis 1912 direkt an das Osmanische Reich grenzte, war an jedem Konflikt beteiligt gewesen, egal, ob es um Machterhalt oder Machtgewinn ging oder darum, sich gegen die Ausdehnungsbestrebungen Serbiens zu wenden. Natürlich waren auch andere Mächte, wie Großbritannien, Frankreich oder Italien, auf dem Balkan präsent. Italien war besonders engagiert, da es in Albanien Fuß zu fassen bemüht war. Russland war aktiv geworden, um Serbien und abwechselnd Bulgarien bzw. Rumänien zu unterstützen. Dabei war schließlich die Glaubwürdigkeit des Zarenreichs ins Spiel gekommen, da es Serbien zweimal und Bulgarien einmal im Stich gelassen hatte. Und Frankreich wie Großbritannien hatten ein ganzes Bündel von Interessen, die von wirtschaftlichen Vorteilen und Einflussnahmen bis dorthin reichten, dass beide Staaten denkbar uninteressiert waren, Deutschland auch in der Balkanregion weiter erstarken zu sehen.

    Zu den Handlungsmustern gehörte auch, dass zunehmend Gewalt ins Spiel kam, und nach zwei Balkankriegen musste man sich fragen: Wann würde der dritte kom [<< 30] men? Russland hatte mobil gemacht. Die k. u. k. Truppen waren aufgefüllt und schließlich ebenfalls in Teilen mobilgemacht worden. Es wurde gedroht, das Deutsche Reich erklärte seine Unterstützung der Habsburgermonarchie und sollte und wollte damit die anderen Großmächte von einem Eingreifen abhalten. Schließlich gab es Vermittlungsbemühungen. Und alles fing wieder von vorne an.

    Noch ein Detail aus der Oktoberkrise 1913 verdient erwähnt zu werden: Da Kaiser Franz Joseph einer militärischen Lösung nicht abgeneigt war, sofern die Monarchie auf einer rechtlich einwandfreien Basis, also im Auftrag der Londoner Konferenz, handelte, machte der Minister des Äußern, Graf Berchtold, den Vorschlag, von Syrmien aus über die Save auf serbisches Gebiet vorzustoßen, die Stadt Šabac zu besetzen und so lange als Faustpfand zu behalten, bis Serbien nachgegeben hätte. Conrad von Hötzendorf konnte diesem Plan Berchtolds freilich nichts abgewinnen.⁴¹ Er meinte: »… entweder wir wollen den Krieg oder wir wollen ihn nicht; wenn nicht, dann halten wir besser den Mund.« Dem Kaiser gegenüber wurde er noch deutlicher: »Der jetzige Aufstand in Albanien wäre zu benutzen, um gegen Serbien vorzugehen, das heißt: den Krieg bis zur äußersten Konsequenz zu führen … Jetzt ist vielleicht der letzte Moment gekommen, um einzugreifen.« Was sollte da ein Faustpfand? Doch Conrad konnte abermals nicht überzeugen.⁴² Dann aber sprach er eine Warnung aus: »Noch einmal mobilisieren, ohne ein Stück Land zu erwerben, verträgt die Armee nicht mehr.«⁴³

    Es zeigte sich deutlich, wie sich die Situation seit 1908 zugespitzt hatte. Hatte Aehrenthal seine Schritte noch ohne Kriegsrisiko, ja noch ohne direkte Androhung von Gewalt setzen können, so war der Balkan seither nicht mehr zur Ruhe gekommen. Kein Jahr, ja kaum ein Monat vergingen, in denen es nicht Krieg gab und in denen nicht der Einsatz von Militär in Aussicht genommen wurde. Nun könnte man abermals die kontrafaktische Geschichte bemühen und sich fragen, was gewesen wäre, wenn die Donaumonarchie Serbien tatsächlich den Weg an die Adria freigemacht hätte. Wäre dadurch irgendetwas anders geworden? Hätte Serbien schneller den Schritt zu einer mittleren Macht getan, wäre es je zur Schaffung Albaniens gekommen? Wäre Serbien mit der Erreichung der adriatischen Küste saturiert gewesen? Hätte sich Italien vielleicht früher und nachhaltiger auf dem Balkan festzusetzen begonnen und wäre dann der Hauptkonflikt ein serbisch-italienischer geworden? Es ist fast müßig, darüber nachzudenken! Eines wird freilich auszuschließen sein: dass Serbien seine Ambitionen hinsichtlich der südslawischen Gebiete der Donaumonarchie aufgegeben hätte.

    Die ständigen Spannungen im Zusammenhang mit dem Balkan sensibilisierten aber nicht nur, sie stumpften auch ab. »Gegen die Ereignisse auf dem Balkan sind wir alle etwas abgestumpft. Kein Mensch weiß mehr, was daraus werden soll«, notierte der deutsche Generalstabschef Helmuth von Moltke im Juli 1913.⁴⁴ Es verging doch kaum ein Tag, an dem nicht über einen neuerlichen Zwischenfall geschrieben und gesprochen wurde, an dem es keinen Notenwechsel gab oder das Interesse gewissermaßen  [<< 31] gebündelt wurde. Das erklärt auch zum Teil, weshalb dann in der Julikrise 1914 für die Donaumonarchie die europäische Kräftekonstellation keine Rolle zu spielen schien. Es war halt wieder einmal der Balkan, der zu schaffen machte und bei dem man nun endgültig eine Lösung nach Art des Gordischen Knotens suchte.

    Beim Überdenken der österreichischen Rolle auf dem Balkan ergibt sich aber nicht nur die bereits erwähnte Parallele mit dem Krimkrieg, in dessen Verlauf ein an sich unbeteiligtes Österreich sich zwischen alle Stühle setzte; es existierte noch eine andere Ähnlichkeit, und zwar im Bereich der Finanzen. Nach der von Russland im Oktober 1912 getroffenen Maßnahme, 375.000 Soldaten, die zum Übertritt in die Reserve herangestanden waren, nicht zu entlassen, erhöhte auch die Donaumonarchie ihre Friedensstände von zunächst rund 415.000 Mann auf 620.000 Mann. Während das aber für die meisten eine kurzfristige Maßnahme war, blieben die Reservisten in den beiden südlichsten Korpsbereichen, dem XV. (Sarajevo) und dem XVI. (Ragusa), rund ein dreiviertel Jahr eingereiht. Und das kostete Geld, viel Geld. 309 Millionen Kronen mussten dafür aufgewendet werden, das entsprach dem Militärbudget der Monarchie für neun Monate.⁴⁵ Um das Geld aufzutreiben, wurde im Dezember 1912 in New York zu überhöhten Bedingungen eine Anleihe mit einer Laufzeit von zwei Jahren aufgenommen.

    Das Auffüllen der Friedensstände in den Jahren 1912 und 1913, noch mehr die Mobilmachungsmaßnahmen waren also nicht nur eine zweischneidige Sache, weil dadurch ein Nachziehen anderer Mächte ausgelöst werden konnte; sie waren auch immens kostspielig. Man konnte sich dergleichen nicht häufig leisten, weil es im Budget nicht unterzubringen war und eine Sonderfinanzierung verlangte. Dann aber war es auch zweischneidig, weil sich auch solche Maßnahmen nur allzu leicht abnützen. Wenn in kurzen Abständen eine Krieg-in-Sicht-Haltung eingenommen wird, verliert eine derartige Machtdemonstration sehr rasch an Gewicht.

    Die Donaumonarchie betrieb ihre Balkanpolitik aber sicherlich nicht losgelöst von den anderen europäischen Mächten. Sie suchte den Kontakt zu ihnen und gab immer wieder zu verstehen, dass sie keine territorialen Zuwächse suchte. Doch man kann billigerweise nicht behaupten, dass die Monarchie ihre Balkanpolitik unter besonderer Rücksichtnahme auf die Interessen anderer betrieben hätte. Gerade auf dem Balkan fühlte man sich unmittelbar betroffen und legitimiert, primär die eigenen Interessen im Auge zu behalten. Für das mit Österreich-Ungarn verbündete Deutsche Reich ergab sich dabei das kalkulierte Risiko, von der Donaumonarchie ins Schlepptau genommen zu werden. Der vom deutschen Historiker Fritz Fischer als kausal für die Herbeiführung des Kriegs genannte Umstand, dass Deutschland vermehrt auf dem Balkan Fuß zu fassen suchte,⁴⁶ kann also auch so gesehen werden, dass man sich in Berlin mit der Rolle des ins Schlepptau Genommenen nicht mehr zufriedengeben wollte. Hier stellte sich eine Grundfrage für das Verhältnis zueinander. [<< 32] 

    Am 14. Juni 1914 kam der Minister des Äußern, Graf Berchtold, nach Konopischt (Konopiště), südlich von Prag, um dort mit dem österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand in dessen Schloss die Situation auf dem Balkan zu besprechen.⁴⁷ Franz Ferdinand, ein vergleichsweise konsequenter Vertreter einer friedlichen Lösung der Balkanfragen, regte ein ausführliches Memorandum über die Lage in dieser europäischen Unruheregion an, um die österreichische Einschätzung genau darzulegen. Dieses Memorandum sollte dann Gegenstand eines intensiven Meinungsaustausches mit Berlin werden. Am Ballhausplatz ging man sofort ans Werk. Es entstand eine aufwendige Bewertung. Da war zunächst der langfristige Konflikt mit Serbien darzustellen, die Rolle dieses Staates als südslawisches »Piemont« herauszustreichen, aber auch zu berücksichtigen, dass man mit Serbien gerade erfolgreiche Verhandlungen über den Verkauf von Aktien der Orient-Eisenbahngesellschaft führte, deren Mehrheitsanteile Österreich-Ungarn besaß und von denen nun einiges an Serbien verkauft werden sollte. Gefahr drohte von Gesprächen über eine Verschmelzung Serbiens und Montenegros, führte das Memorandum weiter aus, während das Verhältnis zu Rumänien wenig Spielraum lasse. Die Unterstützung Bukarests für die in Ungarn lebenden Rumänen schloss eine Annäherung aus. Die Generalstabschefs Österreich-Ungarns und des Deutschen Reichs waren sich darin einig, dass mit Rumänien im Kriegsfall nicht zu rechnen wäre. Conrad hatte denn auch schon angesichts der Abkühlung des Verhältnisses zu Bukarest gemeint, es wäre notwendig, das Eisenbahnnetz Richtung Rumänien für den Fall eines raschen Aufmarsches auszubauen und Grenzbefestigungen zu schaffen. Hätten er und sein deutscher Amtskollege, Helmuth von Moltke, gewusst, dass der rumänische König Carol gelegentlich des Besuchs von Zar Nikolaj II. von Russland in Constanza (Constanţa) am 14. Juni 1914 gemeint hatte, Rumänien würde in einem Krieg sicher nicht an der Seite Österreich-Ungarns zu finden sein, dann wäre die Sache vollends klar gewesen.⁴⁸ Da war denn auch viel eher an Bulgarien zu denken, stellte das Memorandum fest, jenes Bulgarien, das zwar in der Vergangenheit kaum Sympathien für Österreich-Ungarn hatte erkennen lassen. Doch das konnte sich ändern. In Deutschland meinte man zwar, Bulgarien würde keinen Ersatz für den Ausfall Rumäniens darstellen, doch am Ballhausplatz und im neuen k. u. k. Kriegsministerium am Wiener Stubenring war man da nicht so pessimistisch. Bulgarien brauchte infolge der Balkankriege dringend Geld, und Österreich machte sich zum Vermittler einer deutschen Kredithilfe. So weit schien da alles halbwegs in Ordnung. Gefahr drohte vor allem, falls sich eine neue Balkanliga herausbilden sollte, die mit russischem Rückhalt und französischem Geld gegen Österreich-Ungarn gerichtet sei. Wenn Russland oder Serbien auch noch Parteigänger unter den Völkern Österreich-Ungarns finden sollten, dann musste Krisenstimmung aufkommen. Und genau das war der Fall. Doch auch das war keinesfalls neu. [<< 33] 

    Die Sozialisierung der Gewalt

    Wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg wurde die Gleichberechtigung aller Nationen als das »stärkste Fundament des österreichischen Reichsgedankens« bezeichnet.⁴⁹ Doch was gleichermaßen als Feststellung wie als Programm gemeint war, was

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