Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Dimensionen der Mittäterschaft: Die europäische Kollaboration mit dem Dritten Reich
Dimensionen der Mittäterschaft: Die europäische Kollaboration mit dem Dritten Reich
Dimensionen der Mittäterschaft: Die europäische Kollaboration mit dem Dritten Reich
eBook1.262 Seiten16 Stunden

Dimensionen der Mittäterschaft: Die europäische Kollaboration mit dem Dritten Reich

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Dass zum europäischen Faschismus und Nationalsozialismus, der wohl am meisten durchforschten Epoche der Weltgeschichte, fast 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bislang noch keine Gesamtdarstellung der europäischen Kollaboration mit dem Dritten Reich vorlag, kann mit Fug und Recht als großes, vielleicht sogar größtes Desiderat zu diesem historischen Problemkomplex angesehen werden. Klaus Kellmann hat sich der sensiblen Aufgabe gestellt, und er beschränkt sich nicht auf die Einzelanalysen aller 24 Staaten, die bis 1944/45 der deutschen Terrorherrschaft unterworfen waren. Im Schlusskapitel "Europäisches Gedächtnis und europäische Identität" bringt er seine Forschungsergebnisse in die Gestaltung des Europa von Morgen ein: Ohne schonungslose Aufarbeitung und Vergewisserung der Kollaboration mit dem Dritten Reich wird es kein gemeinsames europäisches Narrativ und keine gemeinsame europäische Erinnerungskultur geben – jenes große Projekt, mit dem die Geschichtswissenschaft auf dem Alten Kontinent in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zentral und entscheidend befasst sein wird.
SpracheDeutsch
HerausgeberBöhlau Wien
Erscheinungsdatum21. Jan. 2019
ISBN9783205208761
Dimensionen der Mittäterschaft: Die europäische Kollaboration mit dem Dritten Reich

Ähnlich wie Dimensionen der Mittäterschaft

Ähnliche E-Books

Moderne Geschichte für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Dimensionen der Mittäterschaft

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Dimensionen der Mittäterschaft - Klaus Kellmann

    Einführung

    Frankfurt war besetzt. Auch das Haus der Goethes am Großen Hirschgraben musste 1759, mitten im Siebenjährigen Krieg, für die Einquartierung der siegreichen Franzosen herhalten. „Das war unbequem, aber man richtete sich ein."¹ Als aber selbst das Giebelzimmer des zehnjährigen Filius Johann Wolfgang in Beschlag genommen wurde, entfuhr Vater Goethe gegenüber dem diensthabenden Offizier ein „Ich wollte, sie hätten Euch zum Teufel gejagt"², womit die Situation zwischen Besatzer und Besetzten augenblicklich eskalierte.

    Was ist Kollaboration? Das einfache Gegenteil von Widerstand? Feigheit, eine Notwendigkeit, Opportunismus, (Über-)Lebenskunst oder taktischer Widerstand? Anpassung, Illoyalität oder Verrat am Vaterland? Maskerade, Verstellung oder Überzeugung? Freiwilligkeit oder Zwang? Das kleinere Übel statt des großen Desasters? Das Sich-Einrichten im Unvermeidlichen? Die Antwort des kleinen Mannes auf die Herrschaft der großen Männer? Die Alltagsnormalität in einem besetzten und unterworfenen Land? Eine, und zwar die bequemste Form des Wartens auf bessere Zeiten? „Die Zahl der Fragen wird, wie so oft, mit Leichtigkeit die Zahl der Antworten übertreffen."³ Wer den Feind vor (und hinter) der eigenen Haustür hat, kann auf vielfältige Weise mit ihm zusammenarbeiten: politisch, militärisch, ideologisch, wirtschaftlich, kulturell, ja sogar im Bett, in der „horizontalen Kollaboration. Aus dem vermeintlichen „Verlierer der Geschichte (Joachim Tauber)⁴ wird damit oft genug ihr Gewinner, zumindest temporär, aber das Spiel ist gewagt und der Preis ist hoch. Sind die alten Herrschaftsverhältnisse erst einmal wiederhergestellt, kann den „Patriotic Traitor"⁵ die Kugel, die er sich aus dem Gewehrlauf des Gegners erspart hat, durchaus von den Hinrichtungskommandos der eigenen Landsleute treffen. Kollaboration ist nicht selten mit der Todesstrafe geahndet worden, mochte sie bedingt oder unbedingt, taktisch oder total gewesen sein. Rache trat auch deshalb vielerorts an die Stelle objektiven Richtens, weil es nach dem 8. Mai 1945 neben der (angeblich) kleinen Schar von Verrätern überall in Europa ja nur Widerstandskämpfer gegeben hatte.

    Die künstliche und falsche Dichotomisierung von Kollaboration und Widerstand hat lange Zeit eine sach- und fachgerechte Erforschung des Phänomens verhindert. In Wirklichkeit erstreckte sich zwischen diesen beiden Polen ein weites Feld von Verhaltensstereotypen, das ganz überwiegend von Erscheinungsformen des Attentismus, der Akkommodation und des Modus Vivendi gekennzeichnet ist. Man wollte einfach Schlimmeres verhüten und tat deshalb nichts bzw. das, was der Sieger wollte. Kollaboration ist insofern der Versuch, im Status militärischer Okkupation den eigenen Zustand permanent zu verbessern, idealiter bis hin zur Gleichberechtigung. In dem Moment wird aus Kollaboration Kooperation, was der ursprünglichen Wortbedeutung des lateinischen Verbs collaborare entspricht: zusammenarbeiten. Gemeinsam agieren kann man aber nur, wenn man gemeinsame Ziele und Interessen hat, in diesem Fall das Bestreben, die gesamte gesellschaftliche Ordnung und das gesamte gesellschaftliche Leben so weiterlaufen zu lassen wie bisher: Wirtschaft, Verwaltung, Schule und Kultur bis hin zur Freizeitgestaltung. Darüber hinaus ist Kollaboration in nicht geringem Maße auch aufgrund von ideologischen Affinitäten und Identitäten praktiziert worden, wobei Antisemitismus und Antibolschewismus die dominierenden Motivationen waren. Gleichzeitig ist Kollaboration zu allen Zeiten aber auch das Procedere gewesen, um die eigene Nation im Zustand militärischer Unterwerfung möglichst unbeschadet über die Runden zu bringen, und hieraus resultiert ihre eigentliche Doppelbödigkeit, Problematik und Brisanz. Denn wer mit dem Feind zusammenarbeitet, um die territoriale Integrität und den Fortbestand staatlicher Souveränität zu gewährleisten, ist Nationalist und Verräter in einer Person. Das schillernde Phänomen erreicht hier die Dimensionen der antiken Tragödie, nur diesmal nicht auf der Bühne, sondern in der Wirklichkeit. Da die formale und scheinbare Unabhängigkeit letztlich immer Abhängigkeit in einem asymmetrischen Machtverhältnis zwischen Sieger und Besiegtem bleibt, fordert sie unter den Befürwortern dieser Konstellation ihre Opfer, erscheint Realpolitik als todeswürdiges Verbrechen. Nichts kann die dem Begriff inhärente Widersprüchlichkeit und Schizophrenie deutlicher machen als die Tatsache, dass politische Protagonisten, die in ihrem subjektiven Willen und Wollen versucht haben, die nationale Ehre zu retten, diese im Urteil der eigenen Landsleute unwiderruflich beschmutzten. Aber man greift zu kurz, wenn der Kollaborateur ausschließlich als Diener böser Herren gesehen wird.

    Eine zureichende, wissenschaftlichen Kriterien genügende, geschweige denn offizielle und verbindliche Definition dessen, was Kollaboration ist, gibt es nicht, und es wird sie wahrscheinlich auch nie geben. Obwohl Hans Lemberg schon 1972 seine Analyse mit dem berühmten Diktum „Was Kollaboration ist, weiß jedermann"⁶ begonnen hat, weiß bis heute keiner, wo Kollaboration anfängt und wo sie aufhört. Die Grenzen sind fließend. Militärischer Gewalt unterworfene Menschen tun etwas, was sie eigentlich gar nicht tun wollen. Dabei unterstellen sie sich einer Macht und Obrigkeit, der sie sich eigentlich gar nicht unterstellen wollen, und vollziehen damit einen Loyalitätswechsel, den sie eigentlich gar nicht vollziehen wollen. Das ist der Kern der gesamten Problematik. Für die Schar derjenigen, die den Wechsel nicht aus Zwang, sondern aus Überzeugung vollzogen, hat man in der Forschung deshalb statt des Begriffs Kollaboration seine Steigerung, Kollaborationismus, gewählt, aber diese Schar ist klein, auch wenn sie mit der Symbolfigur Quisling den übergreifenden Gattungsnamen des Phänomens präsentiert. Der gängige, gewöhnliche Kollaborateur handelt nur äußerlich loyal, sein Herz schlägt anders. Er ist gehorsam, bis hin zur Servilität, aber mehr auch nicht.

    Kollaboration ist immer eine Form der Zusammenarbeit, aber nie zwischen gleichberechtigten, gleichrangigen oder gleichwertigen Partnern. Ihre Ziele und Interessen kann sie nur als politique du moindre mal umsetzen, indem sie gleichzeitig aber von der Besatzungsherrschaft für deren Ziele und Interessen instrumentalisiert wird. Die aus diesem Bündnis resultierenden Vorteile und Privilegien sind für den Kollaborateur mit dem Stigma des Verrats behaftet und implizieren dadurch eine auch moralisch zu hinterfragende Verhaltensdisposition. Entscheidend für die Urteilsbildung ist die Frage nach den Motiven, die den Akteur angeleitet haben. Sie reichen vom subjektiv glaubwürdigen Versuch, die nationale Ehre zu retten, über die blanke Not, Hunger und Durst stillen zu müssen, bis hin zur flagranten kriminellen Bereicherung und der Mitbeteiligung am Völkermord. Zwischen Kollaborateur und Besatzer besteht nie eine vollständige, aber immer eine Teilidentität der Interessen; das Verhältnis ist bilateral, nicht neutral. Der Okkupierte dient sich dem Eindringling an, nicht umgekehrt, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, in unterschiedlichen Abstufungen und Formen in dem riesigen Terrain, das durch die Begriffe Treue und Verrat begrenzt wird. Aber alles, was dazwischenliegt – und das ist nicht wenig –, zeichnet sich durch eine schier endlose, terminologisch kaum bestimmbare, polyvalente Artikulation von Verhaltensformen aus. Oft genug handelt es sich um ein äußerst komplexes Beziehungsgeflecht, in dem die Akteure und Adressaten ständig neue Rollen und Positionen einnehmen, nicht weniger oft ist Kollaboration aber nichts anderes als banales, reales Tun im Besatzungsalltag.

    Der Kollaborateur wählt eine Rolle, um sich ein Minimum an Entscheidungsfreiheit zu bewahren. Da er sich nie vollständig mit dem Okkupanten identifiziert, ist er weit mehr als eine bloße Marionette. Er versucht, die Interessen seines Landes auf seine Weise zu retten und zu verteidigen. Er will also etwas, was alle wollen, weshalb das Kollaborationsspektrum nicht nur auf eine Partei, Gruppierung oder Bewegung beschränkt bleibt. Es reichte von präfaschistischen Parteien bis in die Sozialdemokratie hinein, mit durchaus differenzierten und zu differenzierenden Motiven, Erwartungen, Zielen, Kalkülen und Hoffnungen, aber auch Zwängen und Determinanten sowie von Fall zu Fall variierenden Grundlagen, Trägern, Funktionen und Wirkungen. Von enormer Heterogenität und Spannweite war das Profil konkreter Kollaborationstätigkeiten gekennzeichnet, das vom freiwilligen, gedungenen oder bezahlten Verrat von Widerstandskämpfern, die damit dem Tod ausgeliefert waren, bis hin zur Hausfrau reichte, die sich mit dem Waschen der Wäsche von Wehrmachtssoldaten ein paar Francs, Zlotys oder Dinare hinzuverdiente. Dazwischen lag ein weites Feld, in der Politik, in der Verwaltung, in der Wirtschaft, bei der Polizei oder beim Militär. Fast alle Handlungsarten und Verhaltensweisen des Kollaborateurs sind automatisch von Ambiguität und Ambivalenz charakterisiert: Was dem eigenen Nutzen, Profit, Leben oder Überleben dient, stärkt gleichzeitig den Besatzer. Die Definition des Begriffs Kollaboration in kategorialer und funktionaler Trennschärfe, aber auch anhand von moralischen Kriterien, ist dadurch praktisch unmöglich. Er ist ein catch-all term für alles, was man mit und für den Feind macht. Natürlich kann und muss nach dem Grad und Ausmaß der Konzession und Kooperation unterschieden werden, an der Sache selbst ändert dies allerdings nichts. Deshalb macht es auch wenig Sinn, die Termini Kollaboration und Zusammenarbeit synonym zu verwenden, weil der Letzteren immer eine gleichrangigwertneutrale, der Ersteren hingegen eine pejorative Konnotation anhaftet, und zwar völlig zu Recht. Denn mit Kollaboration werden Gesetze, Bestimmungen und Rechtsvorschriften des eigenen Staates wie auch des Völkerrechts missachtet und gebrochen und das Verhalten des Okkupanten durch eigenes, angepasstes Verhalten de facto legitimiert. Man ist Diener böser Herren und will es auch sein. Der Weg vom Diener zum Komplizen war oft kurz, und auf ihm sind manche, ursprünglich hehre nationale, soziale und ökonomische Intentionen für immer verlorengegangen.

    Die Eigenlogik dieser Entwicklungen birgt manche Tragik, weshalb hier mehr die Analyse der historischen Situation als das moralische Verdammungsurteil gefragt ist. Gleichwohl kommt kein Kollaborateur um die Fragestellung herum, ob er mit seinem Verhalten der eigenen Bevölkerung genützt oder geschadet hat, er muss sich sozusagen „vor der Geschichte verantworten. Dazu dürfen Täter, Mittäter, Opfer, Nutznießer, Helfer und Zuschauer nicht auf eine Stufe gestellt werden, man muss dieses Interaktions- und Machtgeflecht aber sauber nach Einflussmöglichkeiten und Handlungsspielräumen analysieren, und in dieser Gesamtschau ist der Kollaborateur der schwierigste Fall. Immer oszilliert er zwischen Loyalität und Fraternisierung, und immer blieben die Übergänge zwischen beidem fließend. Eben deshalb war die Kategorie nach dem Krieg, als alles vorbei war, ethisch und historisch so schwer fassbar. Wie sollte man einen Menschen be- oder verurteilen, der ein grundsätzlicher Gegner der Besatzungsherrschaft war, aber ein Dutzend plausibler Gründe dafür nennen konnte, zeitweilig mit ihr zusammengearbeitet zu haben? Mit welchem Etikett sollte man einen Widerständler belegen, der im Untergrund gegen die Deutschen kämpfte, im zivilen und „normalen Leben aber gemeinsame Sache mit ihnen machte? Wollte der eine wie der andere nicht „das Beste für sein Land? Marschall Henri Philippe Pétain versuchte allen diesen Kalamitäten zu entgehen, indem er in seiner Rundfunkansprache vom 30. Oktober 1940 an das französische Volk, die gleichzeitig die Gründungsurkunde der modernen Kollaboration darstellt, ausdrücklich alle Konsequenzen für sein gesamtes Handeln übernahm: „Ich beschreite heute den Weg der Kollaboration, um in Ehren die zehn Jahrhunderte alte Einheit Frankreichs aufrecht zu erhalten und aktiv an der Neuordnung Europas teilzunehmen. (…) Es handelt sich um meine persönliche Politik. (…) Ich allein werde sie vor der Geschichte verantworten. Nach 1945 ist Pétain der Hinrichtung nur um Haaresbreite entronnen.

    Bei der Kollaborationspolitik und -praxis geht es nicht nur um die Okkupierten, sondern auch um die Okkupanten. In den Artikeln 42 bis 56 der Haager Landkriegsordnung von 1907 wird die Zusammenarbeit einheimischer Instanzen mit einem feindlichen Besatzer legitimiert, weil ohne sie der geregelte Ablauf des täglichen Lebens für die Bevölkerung nicht gewährleistet werden kann. Dazu gehört die Sicherung der Ernährung, der Produktion, das Aufrechterhalten des Verkehrs, der Kommunikationswege, der Verwaltung, der öffentlichen Sicherheit, des Bankensystems sowie der schulischen und beruflichen Ausbildung. Alle Menschen mussten essen, trinken, sich kleiden und wohnen. Von daher waren die Arbeiter, die arbeiteten, die Schlachter, die schlachteten, und die Bäcker, die backten, noch längst keine Kollaborateure. Strictu sensu untersagt ist „der feindlichen Macht" in Artikel 45, der Bevölkerung den Treueid abzunötigen, denn eine Loyalitätspflicht hat sie nur gegenüber der eigenen Nation und dem eigenen Staat, dem Eindringling gegenüber muss sie lediglich gehorsam sein. Mit dieser Ambivalenz und Asymmetrie ist der Kern aller späteren Kollaborationskonflikte benannt. Schließlich gesteht die Haager Ordnung der Besatzungsmacht noch den treuhänderischen Nießbrauch am Eigentum des besiegten Staates zu. Um diese Bestimmung haben sich die einmarschierenden Deutschen nirgendwo in Europa auch nur im Ansatz gekümmert. Sie nahmen sich, was sie sich nehmen wollten, und nutzen, was sie nutzen wollten.

    Auch das 1939 gültige Kriegsvölkerrecht sah eine Zusammenarbeit zwischen Besatzer und Besetzten vor. In vielen Bestimmungen wurde hier das wiederholt, was bereits 1907 festgelegt worden war. In der konkreten Herrschaftspraxis des nationalsozialistischen Deutschland auf dem Alten Kontinent haben alle diese Gesetzescorpora indes so gut wie keine Rolle gespielt. Im weltanschaulichen Rassen- und Vernichtungskrieg gegen ganze Staaten, Nationen und Völker gab es nur Abhängige, Unterworfene, Vasallen, Sklaven und Heloten. Irgendeine Erwägung, irgendein Kalkül der Zusammenarbeit mit den Menschen in den eroberten Terrains ist in Hitlers Kriegszielplanungen nicht auch nur im Ansatz nachweisbar. Der Herrenmensch brauchte keine Helfer, und wenn er sich ihrer doch einmal bediente, dann verstand er dies als taktisches und temporäres Zugeständnis, das ihn zu nichts verpflichtete. Das Einzige, was ihn daran interessierte, war, wie viel eigene Kräfte er durch den Einsatz von Personal des besetzten Landes an anderer Stelle für eigene Zwecke zur Verfügung hatte und wie er es am besten ausbeuten konnte. Goebbels schrieb am 26. April 1942 in sein Tagebuch: „Das Gerede von Kollaboration ist nur für den Augenblick gedacht, und Göring ergänzte am 6. August 1942: „Ich mache keine Kollaboration. Kollaboration der Franzosen sehe ich nur in folgendem: wenn sie abliefern, bis sie nicht mehr können, wenn sie es freiwillig tun, dann werde ich sagen, ich kollaboriere.

    Selbstherrlichkeit, Anmaßung und Überheblichkeit sind für ein derartiges Verhalten noch harmlose Begriffe. Tatsächlich hat in der sieges- und zukunftssicheren Führungskamarilla der NSDAP niemand auch nur für eine Sekunde daran gedacht, irgendeinem Kollaborateur irgendeine Konzession, geschweige denn eine vertraglich fixierte Zusicherung zu gewähren, am allerwenigsten Hitler. „Kollaboration war niemals ein politisches Ziel der deutschen Okkupationsherrschaft."⁹ Robert Bohn sagt völlig richtig, „dass es wenig Sinn macht, auf Seiten des Okkupanten von Kollaboration zu sprechen, (…) sie war immer das Andienen des Okkupierten an den Okkupanten, nicht umgekehrt.¹⁰ Die Herren Quisling, Pétain und Pavelić besaßen keinerlei Entscheidungsspielräume, weil alle Räume und Zügel fest in der Hand der Deutschen waren. Sie waren nicht Partner, sondern Befehlsempfänger. Selbst in den Hoch-Zeiten der Idee des „Großgermanischen Reiches 1942 hatte diese in den Vorstellungen Hitlers und Himmlers immer den Charakter und die Zielprojektion der rigorosen Unterwerfung und des Anschlusses der Niederlande, Belgiens oder auch Norwegens. Gleichwohl und gleichzeitig gab es auf deutscher Seite an keiner Stelle irgendeine klare oder einheitliche Vorstellung über Art, Ausmaß, Dauer, Lenkung und Perspektiven von Kollaboration. Man glaubte (lange genug), dies nicht nötig zu haben.

    Indes, die Wirklichkeit an der Front sah anders aus. „In der Praxis kamen die deutschen Okkupanten nicht ohne die Inanspruchnahme funktionierender Strukturen eines besetzten Landes aus."¹¹ Dadurch ersparten sie sich den Einsatz militärischer, polizeilicher und administrativer Kräfte, konnten das Land wirtschaftlich und industriell ausbeuten, schwächten den Widerstand (sofern es ihn gab) und fanden verblüffend bereitwillige Mithelfer bei der Deportation der jüdischen Bevölkerung. Und es ging um einen wahrlich nicht kleinen Teil Europas. 180 Millionen Menschen waren ab 1941 dazu verurteilt, mit den Deutschen als Feind im eigenen Land zu leben. Anpassung war da der Normalzustand, das alltäglich Gegebene. „Ohne den gewaltigen Zustrom freiwilliger Kollaboration (…) wäre undenkbar gewesen, was tatsächlich geschehen ist.¹² Vom Atlantik bis zum Kaukasus, von der Nordspitze Norwegens bis zur Insel Kreta befanden sich zwölf europäische Staaten und sechs Sowjetrepubliken unter deutscher Herrschaft. Jedem Unteroffizier, ja jedem Obergefreiten war klar, dass ein derart gigantisches Imperium ohne Mitwirkung der Einheimischen nicht regierbar war, mochten die da in Berlin denken, was sie wollten. Nirgendwo gab es Kollaboration „an sich, sondern immer variierende, aber äußerst konkrete Formen der Zusammenarbeit mit dem örtlichen Machthaber, Demütigung, Unterwerfung und Entrechtung, aber auch Opportunismus, Berechnung und Idealismus eingeschlossen. Hitler selbst hielt es für entbehrlich, ein politisches Konzept für die besetzen Gebiete zu entwickeln. In einer Denkschrift vom Sommer 1943 hieß es: „Die Anhänger einer Verständigungspolitik mit Deutschland werden ausgenutzt, aber mehr oder weniger verächtlich behandelt. Es wird nichts getan, um ihren Einfluss und ihr patriotisches Prestige zu stärken.¹³ Auch wenn das nicht vom „Führer persönlich stammte, so gab es sein herablassend-rassistisches Denken doch aufs Jota wieder, bedeutete es doch, dass diese Menschen „ausschließlich als Mittel zur Verwirklichung eigener Ziele zu dienen hatten. Damit waren ausdrücklich auch die kollaborationistischen, NS-affinen Gruppierungen und Parteien gemeint, von denen Hitler sich für jede erdenkliche Zukunft nicht einen Moment abhängig machen wollte, schon gar nicht nach einem gewonnenen Krieg. Da die Besatzungsbehörden vor Ort aber weder über ausreichendes Personal noch über ausreichende Kenntnisse der Landesstrukturen verfügten, waren sie auf die Zusammenarbeit mit den Behörden, Parteien und Verbänden der besetzten Terrains angewiesen, ja sie hatten diese schon von vornherein vorausgesetzt und einkalkuliert, sodass sich im weiteren Verlauf des Krieges ein immer größeres und zum Schluss sogar groteskes Missverhältnis zwischen den Vorgaben der Reichskanzlei und der Realität „im Feld ergab. Alfred Rosenberg, der Reichsminister für die besetzen Ostgebiete, hatte am 23. März 1942 anlässlich der Einführung einer landeseigenen Verwaltung im Reichskommissariat Ostland gesagt, dass „die Mitarbeit einheimischer Kräfte auf freiwilliger Grundlage und in möglichst selbständiger Form am fruchtbarsten sei, Gegenforderungen aber als „unverschämt bezeichnet. Und auch hier galt wie überall der Grundsatz, dass man lieber mit den traditionellen Eliten zusammenarbeitete als mit faschistischen und nationalistischen Splittergruppen. „Ohne die personelle und wirtschaftliche Ausnutzung der besetzten Gebiete hätte das Dritte Reich den Krieg nicht so lange durchstehen können.¹⁴ Die Kollaboration, die es in der offiziellen NS-Ideologie gar nicht gab, avancierte zum mitentscheidenden Instrument für die Unterwerfung Europas. Ursprünglich nur auf ein unvermeidbares Minimum reduziert, lief schon im Sommer 1942 an keiner Front etwas ohne sie. Fast stillschweigend und wie selbstverständlich und mit nicht selten enormer Effektivität wurde praktiziert, was zuvor nicht proklamiert worden war. Es ging auch so. Wenn es auf deutscher Seite irgendeine Zielsetzung gab, dann die, dass „sich die Kollaborateure durch die Zusammenarbeit so zu verschleißen und moralisch zu blamieren hatten, dass sie schließlich bedingungslos vom Okkupanten abhängig waren.¹⁵ Insofern war Kollaboration nichts anderes als eine weitere Form nationalsozialistischer Menschenverachtung. Wo das, was man haben wollte, nicht einfacher und billiger erreicht werden konnte, waren die Besiegten durchaus genehm.

    Die raffinierteste, durchtriebenste und verlogenste Strategie der Berliner Machthaber, die Unterworfenen vor ihren Karren zu spannen, bestand in dem großen Wort von der „Neuordnung Europas, an der sie alle – gleichberechtigt! – teilhaben sollten. Wem so etwas geboten wird, den muss man nicht zweimal bitten. Ein ideologischer Überbau im Sinne eines Eurofaschismus oder einer gesamteuropäischen Friedensordnung ist streng genommen nie auch nur im Ansatz angedacht worden. Europa sollte ein rein deutscher Verfügungsraum bleiben. Als Anfang 1943 im Auswärtigen Amt Überlegungen hinsichtlich eines europäischen Staatenbundes angestellt werden, schaltet sich die Partei sofort intervenierend ein. Das wäre gar nicht nötig gewesen, denn Ribbentrop ließ die Gründungsakte einer Euroföderation, die von „souveränen, sich gegenseitig Freiheit und Unabhängigkeit garantierenden Staaten ausging, gleich wieder in der Schublade verschwinden. Sie ist nicht einmal als Propagandapapier eingesetzt worden. Zwar rief der Außenminister anschließend einen Europa-Ausschuss ins Leben, aber dessen am 5. September 1943 vorgelegten Leitsätze („Deutschland strebt die Einigung Europas auf föderativer Grundlage an") haben in der offiziellen NS-Politik nie eine Rolle gespielt. Ausgerechnet das Reichssicherheitshauptamt, der Kopf der SS, nahm sich in der Folge des Europagedankens an und entwickelte die Vision einer Europäischen Eidgenossenschaft mit einem eigenen Ausweisdokument, dem Europapass, der zunächst an Zwangsarbeiter und ausländische Mitglieder der deutschen Streitkräfte ausgegeben werden sollte. Im Frühsommer 1944 gab Hans Globke, der zuständige Abteilungsleiter im Innenministerium und spätere Intimus Adenauers, für das Projekt grünes Licht. Es war mehr als Symbolik, dass die Reichsdruckerei in der Berliner Oranienstraße am 3. Februar 1945, dem Tag des geplanten Andrucks, von einem Volltreffer der Royal Air Force funktionsunfähig gemacht wurde.

    Jacques Benoist-Méchin, der Staatssekretär der Vichy-Regierung, schrieb 1941 an die Adresse Hitlers gerichtet: „Machen Sie aus dem Sieg etwas vollkommen Neues, das Ende und die Krönung des letzten europäischen Krieges. Sonst würden Sie eine Gelegenheit vorübergehen lassen, die sich nie wieder darbieten wird. (…) Schaffen Sie Europa, da jetzt die Zeit dafür reif ist."¹⁶ Das war mehr als ein ehrliches Angebot, das war ein säkularer Wurf und Entwurf, der an ideologisch tauben Ohren abprallte, für die europäische Kollaboration zu keinem Zeitpunkt etwas mit europäischen Einigungsbestrebungen zu tun haben sollte. Der Alte Kontinent hatte zu einem neuen germanischen Großreich zu mutieren, „in dem die universalistische Fassade einer zivilisatorischen Mission die radikale Politik der Eroberung und Unterwerfung nur notdürftig tarnte.¹⁷ Der größte, sichtbarste und „verdienstvollste Ausdruck dieser Mission war der Kampf gegen den Bolschewismus. Wer sich in seinen Dienst stellte, adelte quasi seine Nation und sich selbst. Er war weit mehr als nur ein „einfacher" Kollaborateur der Deutschen, er half mit bei der Rettung des Abendlandes.

    Die konkrete militärische Kollaboration hatte viele Formen bis hin zum Einsatz der gesamten Streitkräfte eines okkupierten Landes unter dem Oberkommando der Wehrmacht. Zumeist ging es aber nur um den Einsatz einzelner Einheiten, wobei der Übergang zwischen militärischen und polizeilichen Verbänden oft fließend war. Des Weiteren mussten die besetzten Länder Werbemaßnahmen unter ihren Bürgern für die Aufstellung bewaffneter Formationen, in der Regel zur Waffen-SS, dulden, die ergo deutschem Befehl unterstanden. Wenn mit der Besatzung der Verlust und die Aberkennung der Staatlichkeit verbunden waren, ergab sich automatisch dieser Sachverhalt. Ein nicht unerhebliches militärisches Kontingent entstand auch aus Kriegsgefangenen, so insbesondere in den besetzten Teilen der Sowjetunion. In toto heißt dies, dass militärische Kollaboration in der Gestalt von Wehrpflichtigen (der okkupierten Staaten), Freiwilligen (der Waffen-SS) und Kriegsgefangenen (der Roten Armee) realisiert werden konnte. In Westeuropa bildeten die faschistischen und kollaborationistischen Parteien eigene Verbände und Legionen, unterstellten sie in aller Regel aber den Deutschen. Gleichwohl hat es in der Wehrmacht nichtdeutsche Offiziere bis hinauf in den Generalsrang gegeben.

    Hitler verfügte in einer internen Besprechung am 31. Juli 1941:

    Nie darf erlaubt werden, dass ein Anderer Waffen trägt, als der Deutsche! Dies ist besonders wichtig; selbst wenn es zunächst leichter erscheint, irgendwelche fremden unterworfenen Völker zur Waffenhilfe heranzuziehen, ist es falsch! Es schlägt unbedingt und unweigerlich eines Tages gegen uns aus. Nur der Deutsche darf Waffen tragen, nicht der Slawe, nicht der Tscheche, nicht der Kosak, oder der Ukrainer!¹⁸

    Dieser „Führerbefehl ist vom ersten Tag an unterlaufen worden, auch wenn Einheimische zunächst nur als Hilfspolizisten dienen durften. Hitler blieb bis zum Schluss „der stärkste Bremsklotz (Rolf-Dieter Müller) gegenüber allen Soldaten „nicht germanischer Herkunft, aber da konnte man sich um seine Vorgaben längst nicht mehr kümmern. Schon auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs war jeder dritte Uniformträger an der Ostfront kein Deutscher: Über zwei Millionen Ausländer haben in der Wehrmacht, der SS und anderen Verbänden gekämpft. Ohne sie hätte man nie und nimmer bis vor die Tore Moskaus vorstoßen und den Abnutzungskrieg gegen einen personell und materiell überlegenen Gegner volle drei Jahre weiterführen können. Waren das alles Kollaborateure? Nur die wenigsten von ihnen sind, genauso wenig wie die Deutschen, dem Kreuzzug gegen den Bolschewismus von Leningrad bis Stalingrad freiwillig oder gar mit Freude, Lust oder Besessenheit gefolgt. Wie soll man sie deshalb nennen, wie ihren Typus einordnen und klassifizieren? Christian Gerlach, Rolf-Dieter Müller und Robert Bohn haben vorgeschlagen, sie nicht „Kollaborateure zu nennen, weil der Begriff nach wie vor zu sehr mit dem Odium des Verrats behaftet ist und weil insbesondere die SS-Freiwilligen ihre nationale Identität aufgaben und sich „wie moderne Söldner oder spätmittelalterliche Landsknechte verkauften."¹⁹

    Trotzdem soll in dieser Untersuchung vollinhaltlich an dem Begriff festgehalten werden, weil, so Werner Röhr, „militärische und polizeiliche Kollaboration jene Bereiche waren, in denen sich der politische Inhalt der Kollaboration unmissverständlich ausdrückte."²⁰ Überdies ersparte ihr Einsatz an der Front, so der Nazi-Jargon, „wertvolles deutsches Blut, verstärkte damit die Kampfkraft der Deutschen, schwächte den Widerstand und machte die Gegner zu Komplizen bei den Verbrechen gegen die Bevölkerung in den besetzten Ländern einschließlich der Judenräte – eine Rolle, die diese oft überaus fanatisch und beflissen einnahmen, was auch Gerlach, Müller und Bohn keineswegs verschweigen. Außerdem soll in dieses Terrain der Mittäterschaft die Verhaltensanalyse der etwa eine Million Volksdeutschen in ihren zerstreuten Siedlungsgebieten vor allem Ost- und Südosteuropas einbezogen werden. Schon unmittelbar nach Kriegsausbruch in ihrer Herbergsnation als „fünfte Kolonne Hitlers bezeichnet, schwankten sie anfänglich zwischen Loyalität und Illoyalität gegenüber dem Staat, in dem sie lebten, um sich in ihrer Mehrheit dann doch den deutschen Invasoren zuzuwenden.

    An dieser Stelle wird ein zweiter Definitionsversuch des Terminus Kollaboration unternommen, der sich diesmal nicht von Gruppierungen und Typologien des Mittuns leiten lässt, sondern der nur ein einziges und vielleicht das wichtigste Kriterium kennt: den Kriegsverlauf, frei nach Talleyrands „La trahison, c’est une question du temps. Entscheidend ist nicht das Ob oder Wie, sondern das Wann. Kollaboration (oder Nicht-Kollaboration oder aber der Übergang zwischen beiden) hängt elementar davon ab, wie die Besetzten das Machtpotential der Besatzer einschätzen. Das mag banal klingen, ist es aber nicht, denn jeder ist lieber aufseiten des Siegers. „Die Bedingungen jeden Sicheinlassens mit den deutschen Besatzern veränderten sich im Verlauf des Krieges rapide und radikal, (…) sodass jede Art Kontakt zur Besatzungsmacht zeitlich sehr genau festgemacht werden muss, weil sonst sein Charakter nicht angemessen zu verstehen ist.²¹ Dieses Urteil von Jan Tomasz Gross führt ihn zu der Erkenntnis, dass es keinen Einzelbegriff für die sich permanent verändernde Realität des Sich-Anpassens gibt, sondern nur etliche „Zwischentermini für den jeweiligen Zustand, zu denen er Kooperation, geheimes Einverständnis, Willfährigkeit und Komplizenschaft zählt. Christoph Dieckmann geht noch einen Schritt weiter, indem er den Kollaborationsbegriff als „historiographisches Analyseinstrument für untauglich erklärt und postuliert, ihn vollständig zu historisieren.²²

    Dieses Begriffsverständnis macht sich die vorliegende Untersuchung zu eigen. Sie versteht also Kollaboration als einen komplexen, dynamischen Prozess, als permanentes Fluidum, das sich von einem Moment zum anderen kriegsrelevant verändern kann, und zwar für beide Seiten.

    So oder so bleibt Kollaboration ein vielschichtiges, äußerst diffiziles Phänomen, ein hochkomplexes Zusammenspiel aus den unterschiedlichsten Motiven, Kontexten und Konstellationen mit ständig wechselnden Akteuren, Profiteuren, Mittätern, Verfolgern und Zuschauern, ein permanent changierender, nirgendwo einheitlicher Prozess. Was in Frankreich als selbstverständliche Hilfeleistung gegenüber dem Besatzer galt, war in Polen ein todeswürdiges Verbrechen, was einem Norweger lediglich als Servilität erschien, konnte für einen Serben Verrat bedeuten, wobei gerade dieser Begriff der konkreten Analyse bedarf und zwischen freiwilligem, bewusstem und begünstigtem oder aber erpresstem und mit Folter oder Gewaltanwendung erzwungenem Verrat zu trennen ist. Da dem landläufigen Verständnis von Kollaboration bis heute die Verratskon-notation inhärent ist, kann das Wort nach wie vor nicht als neutrale, für die wissenschaftliche Analyse taugliche Vokabel buchstabiert und exemplifiziert werden. Der jeweilige historische Zusammenhang bleibt allemal die übergeordnete, für die Urteilsbildung entscheidende Ebene und Kategorie. Eben deshalb ist es für eine Gesamtdarstellung der europäischen Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg unumgänglich, diese vor einem abschließenden Urteil zunächst Land für Land, Staat für Staat und Nation für Nation in ihren spezifischen, zum Teil erheblich differierenden Erscheinungsformen und Dimensionen darzustellen. Ihren gravierendsten und abscheulichsten Ausdruck fand sie zweifelsohne in der Beteiligung am Judenmord, der wahrlich nicht durch irgendeine Konvention oder durch einen Sachverhalt legitimiert war. Dennoch ist auch hier vielerorts versucht worden, mit der Formel, „dadurch Schlimmeres verhindert zu haben, nach dem Krieg Exkulpations- und Verhüllungshistoriographie zu schreiben. Es ist Werner Röhr und Gerhard Hirschfeld zu danken, dass sie diese Argumentation schon früh als „falsch und verlogen²³ entlarvt haben: Wer SS, Wehrmacht und Gestapo half, hat „nicht Schlimmeres verhindert, sondern die Lage noch verschärft, weil sich die Auslieferung nach Auschwitz reibungsloser gestaltete.²⁴ „Die administrative Unterwürfigkeit der lokalen wie der staatlichen Verwaltungen in West- und Nordeuropa war von entscheidender Bedeutung für die relative Reibungslosigkeit, mit der sich die Deportation der Juden ‚nach dem Osten‘ (…) bewerkstelligen ließ.²⁵ Christoph Dieckmann, Babette Quinkert und Tatjana Tönsmeyer haben völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass das Weglassen der „nichtdeutschen einheimischen Tatbeteiligung"²⁶ das zentrale Manko in Raul Hilbergs monumentalem Werk über den Holocaust ist.

    Obwohl die Untersuchung das Attribut „europäisch im Titel führt, kann und wird es nicht um den ganzen Kontinent gehen. Die erforderlichen Eingrenzungen sind nicht geographischer Natur, sondern folgen inhaltlichen Kriterien, was bedeutet, dass einzig und allein ein erkennbares, signifikantes Ausmaß an Zusammenarbeit mit dem nationalsozialistischen Deutschland zur Analyse führt. Dadurch geraten auch nicht besetzte, angeblich oder tatsächlich neutrale Staaten wie Schweden und die Schweiz in den Fokus, Spanien, Portugal, Großbritannien, Irland, Island und die Türkei, gleich ob verbündet, neutral oder im alliierten Bündnis, werden hingegen nicht berücksichtigt. Dies mag insbesondere für das spanische Beispiel überraschen, entsandte Franco mit der „Blauen Division 1941 doch 47.000 Kämpfer an die Ostfront, aber die schnell aufgeriebenen Verbände waren „zweifellos nur von symbolischer Bedeutung"²⁷, wie es der ausgewiesene Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller formuliert. Unberücksichtigt bleibt auch, wie es der Titel des Buches bereits zum Ausdruck bringt, die außereuropäische Kollaboration. Hier ist in jüngster Zeit vor allem der Beitrag, den die Vereinigten Staaten von Amerika wie auch die arabische Welt zur Stützung und Unterstützung des Dritten Reiches geleistet haben, zum Gegenstand der Fachdiskussion geworden, und sei es durch den Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung. Nachdem in der Ära Clinton bis dahin versiegelte Akten des US-Kriegsministeriums freigegeben worden waren, ist die „mit verstecktem oder offenem Antisemitismus durchwirkte moralische Indifferenz der Washingtoner Administration nicht mehr zu leugnen, „die auch durch das frühzeitige Wissen um die Vernichtungslager nicht erschüttert wurde.²⁸ Edwin Black hat gezeigt, in welch ungeheurem Ausmaß der IBM-Konzern die deutsche Mordmaschinerie zur Sicherung seiner weltweiten Monopolstellung mit Hollerith-Systemen, den Vorläufern des heutigen Computers, versorgt hat, die den Nazis zur Identifizierung, Erfassung, Enteignung und Deportation der Juden dienten.²⁹ Die gesamten nahöstlichen Gesellschaften sahen in Hitler ihren quasi natürlichen Verbündeten, da er nach dem Überschreiten des Nils plante, alle Juden zu vernichten, derer er habhaft wurde, insbesondere im Jischuw, der Keimzelle des späteren Staates Israel. Auch hier standen die örtlichen Helfershelfer bereit, die nur durch Rommels Niederlage vor El Alamein nicht zum Einsatz gekommen sind. Sowohl davor als auch danach hat es erhebliche Rekrutierungen von Muslimen für Wehrmacht und SS gegeben.³⁰ Während hierzu in den arabischen Staaten bis heute nicht auch nur der Ansatz einer Aufarbeitung vorliegt, hat in den USA das Bewusstsein der Mitverantwortung in den 1990er Jahren den Impuls für die Internationalisierung des Umgangs mit dem Holocaust gegeben, die für die Gesamtkonzeption dieses Bandes eine grundlegende Rolle spielt.

    Der in diesem Buch analysierte Zeitraum endet nicht mit dem 8. Mai 1945. In vielerlei Hinsicht könnte man sogar sagen, dass dann, nach der Darstellung der konkreten Kollaborationsformen und -praxen in den einzelnen Ländern, der eigentliche analytische Teil erst richtig beginnt. Auf die Frage, welche Rolle und welchen Stellenwert die Kollaboration im nationalen Narrativ all derer einnahm, die dabei waren, hat Tony Judt in der Einleitung zu seiner Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg gesagt: „Dieses düstere Kapitel blieb in den Darstellungen des europäischen Weges zu Churchills ‚weitem, lichtem Hochland‘ in beiden Hälften Nachkriegseuropas ausgespart (…). Europas Nachkriegsgeschichte ist überschattet von Leerstellen und Schweigen."³¹ Streng genommen ist das noch die positivere Variante. Viel häufiger wurde gelogen, verbogen, vertuscht und verfälscht bis hin zur Umwidmung übelster Kollaborateure zu glorreichen Widerstandskämpfern. Auf die Amnestie folgte eine tiefe Amnesie und auf diese wiederum eine Heldenpoesie, die mit dem tatsächlichen Geschichtsverlauf wenig zu tun hatte. So wie Ernest Renan schon im 19. Jahrhundert das Vergessen als „entscheidenden Faktor bei der Schaffung einer Nation bezeichnet und im Fortschritt der Geschichtswissenschaft „eine Gefahr für die nationale Identität gesehen hatte, so wurde dieses Patentrezept in der Mitte des 20. Jahrhunderts wieder angewendet, um die schwer und vor allem selbst beschädigte nationale Identität in eine bessere Zukunft ohne Regressforderungen an die eigene, schuldbeladene Vergangenheit zu retten.

    Doch es half alles nichts, die Geschichtswissenschaft schritt fort, und mit ihr der Prozess innergesellschaftlicher Klärung, Aufarbeitung und Vergewisserung. Eine Vergangenheit, die nicht vergehen wollte, rief sich eo ipso ins Gedächtnis, während noch mehrere Vergangenheiten um den Rang der „Meistererzählung" im kollektiven Selbstverständnis der Nation miteinander rivalisierten. Für stolze Fahnen- und Bannerträger begannen jetzt ernüchternde Zeiten. Der Mythos der französischen Résistance wurde schon Ende der 1960er Jahre angekratzt, um schließlich ganz in sich zusammenzusinken; die dreiste österreichische Lüge, das erste Opfer des Hitlerfaschismus gewesen zu sein, wurde Mitte der 1980er Jahre durch den eigenen Bundespräsidenten entlarvt; die sogenannte schwedische und schweizerische Neutralität gegenüber dem Dritten Reich sah sich gleichzeitig als raffinierte Geschäftemacherei demaskiert; mit der großen Zeitenwende von 1990 und 1991 begann schließlich in Osteuropa der gigantische, bis heute andauernde Vorgang, sich zwei Totalitarismen stellen zu müssen, in die man beide wissentlich, willentlich und erheblich involviert war. Es ist deshalb nicht überraschend, sondern nur folgerichtig, dass die Frage des kollektiven Gedächtnisses in dieser Untersuchung eine zentrale Bedeutung einnimmt. Im Hinblick auf das breite, hier zu behandelnde Spektrum von der um Aufklärung bemühten, letztlich aber immer selektiven Erinnerungskultur bis hin zur konkreten, gegenwarts- und alltagsaffirmativen, oft genug parteilichen Geschichtspolitik orientiere ich mich – und zwar in einem durchaus stringenten Sinne – an den folgenden Wissenschaftlern und ihren Forschungspositionen: Arnd Bauerkämper, Christoph Cornelißen und Harald Schmid sowie – mit Rückgriffen auf Maurice Halbwachs – Aleida und Jan Assmann.

    Arnd Bauerkämper hat 2012 unter dem Titel „Das umstrittene Gedächtnis seine bahnbrechende Untersuchung zur „Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945 als „Vergleichs- und Verflechtungsgeschichte" vorgelegt.³² Gleich eingangs führt er aus, dass in den meisten europäischen Staaten die von regelrechten „Gedächtnisregimes verfügte nationale Basiserzählung mit den tradierten individuellen und gruppenspezifischen Erinnerungen selten übereinstimmt. Man ist geneigt zu ergänzen: Insbesondere dort, wo die Kollaboration mit dem Dritten Reich in den Blick genommen wird. Da das kollektive Gedächtnis, wie es bereits Maurice Halbwachs betont hat, nie homogen ist, geht es also um Erinnerungskonflikte und „Gedächtniskämpfe, in denen sich die Bestrebungen der Selbstviktimisierung und Widerstandsheroisierung zu einem festgefügten nationalen Mythenarsenal verdichten und keinen Platz mehr für eigene Verfehlungen lassen. Dieser Prozess hat erst seit der sich in den 1990er Jahren herausbildenden „negativen Erinnerung eine gewisse Korrektur erfahren. Damit war der Grundstein für eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur gelegt worden, aber ein Stein ist noch kein ganzes Haus. Ein gemeinsames europäisches Gedächtnis gibt es bis heute nicht, und es ist nicht absehbar, wann es dieses geben kann, zumal in Osteuropa die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit nach wie vor alle anderen Erinnerungsschichten überlagert. Dennoch hat auch hier, quasi als Nebenkriegsschauplatz, eine Debatte über das Mittun mit den deutschen Invasoren begonnen, die freilich noch ihren Weg in die Geschichtsbücher und in das Geschichtsbewusstsein finden muss. Weglassen, Verschweigen und Vergessen dominieren in diesem Bereich einstweilen noch das Procedere des (Nicht-) Erinnerns, und da die „Erinnerungshoheit staatlich und nicht wissenschaftlich bestimmt ist, wird dies auch noch lange so bleiben. Man vertraut auf die angeblich „heilende Wirkung des Vergessens" und will nicht wahrhaben, dass die Aufdeckung der Wahrheit damit nur gestundet ist. Erinnerung, Selbstvergewisserung und Demokratisierung stehen in einem unauflösbaren Zusammenhang, sie bedingen sich gegenseitig. Vergessen mag Schmerzen lindern und Traumata überdecken, aber erst die Einsicht in Mitschuld und Schuld an einer belastenden und belasteten Vergangenheit öffnet den Weg in eine demokratische Zukunft, in der das kollektive Gedächtnis nicht politischen Machtverhältnissen unterworfen ist.³³

    Christoph Cornelißen hat sich in einer Vielzahl von Analysen³⁴ der Tatsache gewidmet, dass „verordnetes Vergessen und „abweichende Erinnerung, die „oftmals nur im Verborgenen hatten überwintern können, sich am Ende der 1980er Jahre als „wiedergefundene Gedächtnisse zurückmeldeten (…) (und die) Basis für eine Neubewertung der Vergangenheit bildeten.³⁵ Dieses Hervorholen von „Unangenehmem und „Verdrängtem aus der eigenen Geschichte hat vielerorts die „Meistererzählungen nationaler Kollektive aufgebrochen, empfindlich korrigiert oder sogar ad absurdum geführt, kurzum, eine völlig neue Erinnerungskultur geschaffen, die nicht mehr den Interessen einer staatlich gelenkten Geschichtspolitik dient. Erst dadurch ist die Kollaborationsthematik in den meisten europäischen Staaten auf den Agendazettel der Geschichtswissenschaft geraten und steht einem Vergleich offen, der auch die ehemaligen Blockgrenzen zwischen West- und Osteuropa überwindet, „die seit 1945 ja auch als erinnerungskulturelle Grenzscheiden fungiert hatten³⁶. Cornelißens übergreifendes Ziel ist die kontinuierliche Arbeit an einer gesamteuropäischen Erinnerungskultur, in der das Beziehungsgeflecht zwischen privaten Erfahrungen und „politisch überformten Vergangenheitsdeutungen ausgelotet ist, das unterschiedliche Ausmaß von Mittun und „Schuld nicht nivelliert wird und die letztlich an die Stelle der bisherigen nationalen „Vergangenheitsbewältigung" tritt, in der Vergangenheit oft genug weder bewältigt wurde noch werden sollte. Er beruft sich für diesen grundlegenden Paradigmenwechsel im konkreten geschichtswissenschaftlichen Vorgehen expressis verbis auf die Gedächtnistheorie von Jan und Aleida Assmann.

    Das Forscherehepaar nimmt a priori die Binnenunterscheidung des kollektiven Gedächtnisses in ein kommunikatives und ein kulturelles vor. Das kommunikative ist ein Kurzzeitgedächtnis, das drei aufeinanderfolgende Generationen umfasst, die zusammen eine „Erfahrungs-, Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft"³⁷ bilden, das kulturelle Gedächtnis hingegen ist epochenübergreifend. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden besteht also in Art, Umfang und Intentionalität der Speicherstruktur: Das kulturelle Gedächtnis kann auch kulturelles Vergessen sein. In beiden Fällen handelt es sich um einen selektiven Prozess, der immer wieder nach neuer Bestätigung sucht, und in beiden Fällen geht es um die Legitimierung der Gegenwart. „Schlafende Erinnerungen können aber, wie Aleida Assmann gezeigt hat³⁸, sehr wohl geweckt und wirksam werden. Dies ist der Moment, in dem sich kalte in heiße Erinnerung transformiert, Vergangenheit „bewohnt wird und nach gesellschaftlicher Auseinandersetzung drängt, im Fall dieser Untersuchung: mit dem europäischen Faschismus und dem Nationalsozialismus, also mit bislang beschwiegener, als beschämend empfundener und traumatisierter Vergangenheit. Es ist der Beginn der Narrativität von Geschichte, weil das „Sagbare auch tatsächlich gesagt wird und weil aus dem Vergessen über die beiden Zwischenstufen des Erinnerns, um nicht zu vergessen, und des Erinnerns, um zu vergessen, schließlich das „dialogische Erinnern wird. „Dabei handelt es sich zwar noch keineswegs um eine allgemein praktizierte Form des Umgangs mit einer geteilten Gewaltgeschichte, aber doch um eine große kulturelle und politische Chance, die in dem Projekt Europa enthalten ist."³⁹ Ohne den entscheidenden Schritt von der shared zur shareable memory (Luisa Passerini) ist der Weg zu diesem Projekt nicht gangbar, und er ist steinig und schwer. Er führt, wie Jan Assmann unter Rückgriff auf Maurice Halbwachs (1877–1945) überzeugend dargelegt hat, über ein kulturelles, erhebliche normative Kraft entfaltendes Gedächtnis mit einem gigantischen Potential an Ritualen, kanonischen Texten, Traditionen, Bildern, Zeremonien, Symbolen, Straßennamen sowie Gedenk- und Feiertagen, die alle – zum Teil per Gesetz und Dekret – staatlich sanktioniert und auf die Identitätsstiftung einer Nation und Gesellschaft ausgerichtet sind, wobei es nicht nur um das Bejubeln von Erfolgen, sondern auch um das Vertuschen von Verbrechen geht. „Den positiven Formen der Retention und des Vergessens entsprechen die negativen Formen eines Vergessens durch Auslagerung, Verdrängens durch Manipulation, Zensur, Vernichtung, Umschreibung und Ersetzung."⁴⁰ Das Aufbrechen dieses Arsenals, der Kampf um die Erinnerung, der spätestens in der großen Zeitenwende von 1990/91 begonnen hat, dauert an. Langsam, aber sicher tritt man aus der selbst verordneten und so bequemen Quarantäne im Hinblick auf das eigene Verhalten im Zweiten Weltkrieg heraus, und der Fixpunkt auf dem neuen Schlachtfeld der Erinnerungspolitik ist und bleibt der Holocaust.

    Der Anfang vom Ende der Selbstviktimisierung in Europa, der einherging mit dem Anfang vom Ende der affirmativen Gedächtnispolitik eines angeblich umfassenden nationalen Widerstands, war gleichbedeutend mit der sukzessiven Gewichtsverlagerung von einem individuellen „Leidgedächtnis zu einem kollektiven „Schuldgedächtnis und mit einer „Entterritorialisierung der Erinnerungsdiskurse (Bauerkämper). Mit einer gewissen Überspitzung könnte man sogar sagen, dass die Grenzen im „Gedächtnisraum Europa genauso schnell fielen wie im Schengen-Europa. „Damit sind auch erinnerungspolitische Konzepte zurückgetreten, die auf eine Ausgliederung der Kollaborateure aus dem Nationalverband und auf eine Externalisierung der Kriegsverbrechen – besonders auf (West)Deutschland – gezielt hatten."⁴¹ Am 3. Juli 1995 beschließt das Europäische Parlament, den 27. Januar als alljährlichen Holocaust-Gedenktag einzuführen. Bereits hier ging es eingestandener- oder uneingestandenermaßen um die Frage, ob durch die gemeinsame Erinnerung an eine gemeinsame Erblast eine gemeinsame europäische Identität geschaffen werden könne. Im Mai 1998 treffen sich auf dem „Stockholm Meeting on The Holocaust auf Initiative des schwedischen Ministerpräsidenten Göran Persson Ministerialbeamte, Gedenkstättenvertreter, Museumsfachleute und Geschichtswissenschaftler aus dem Gastland, aus Großbritannien und den USA, um eine institutionelle internationale Kooperation zu diesem Problemkomplex zu vereinbaren. Sie gründen die „Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research (ITF). Sie wurde 2013 in „International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) umbenannt. Es ist der Schritt von der Europäisierung zur Internationalisierung, einige sagen sogar Kosmopolitisierung des Holocaust als der „Zivilreligion des 21. Jahrhunderts, wie es die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" schrieb, auf jeden Fall aber zur zentralen Verankerung des Judenmords im Master-Narrativ gesamteuropäischer Erinnerung. Der ITF sind inzwischen über dreißig Staaten, darunter Argentinien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Israel, Italien, Kroatien, Litauen, Norwegen, Österreich, Polen, Ungarn und die Schweiz, beigetreten. Der nächste Quantensprung ließ nicht lange auf sich warten. Er erfolgte vom 26. bis zum 28. Januar 2000 mit dem „Stockholm International Forum on The Holocaust, an dem 600 Delegierte aus 46 Staaten teilnahmen und eine Erklärung verabschiedeten, dass der Genozid an den Juden „die Zivilisation in ihren Grundfesten erschüttert habe und „in seiner Beispiellosigkeit (…) für alle Zeiten von universeller Bedeutung sein (wird). Die Transnationalisierung des Holocaust war damit sozusagen „abgeschlossen, alle mussten sich dem Verbrechen stellen.⁴² Aber damit war noch längst nicht die Frage beantwortet, ob dieses „negative Gedächtnis tauglich und tragfähig, ja notwendig für einen europäischen Identitätsstiftungsprozess sein würde oder ob „Stockholm die Inszenierung eines politischen Mythos, eines Gründungsmythos einer neuen westlichen Weltinnenpolitik (war), die auf einer entkontextualisierten Holocaust-Erinnerung basiert⁴³. Erinnerungsstandards allein, mögen sie auch gesetzlich sanktioniert sein, sind noch kein reales historisches Phänomen. Auschwitz als emblematischer Gedächtnismittelpunkt, als europäischer lieu de mémoire schlechthin ist das eine, aber das Bewusstsein der Europäerinnen und Europäer des 21. Jahrhunderts ist das andere. Wie kann das eine in dem anderen installiert werden? Das ist das Grundmotiv für die Abfassung dieses Buches. Die Stockholmer Deklarationen haben gezeigt, dass die finale europäische Integration nicht ohne das Bekenntnis zum Mitanteil am Finis Europae 1945 zu haben ist. Das ist der Sachstand und die säkulare Agenda. Aleida Assmanns „Konzept des dialogischen Erinnerns mit seiner Überwindung von Gedächtniskollisionen, der Öffnung von Latenzspeichern und der „wechselseitigen Anerkennung von Opfer- und Täterkonstellationen in Bezug auf eine gemeinsame Gewaltgeschichte spielt hier eine entscheidende Rolle. Eine „europäische Binnenkommunikation (und) ein kompatibles europäisches Geschichtsbild" sind erst erreicht, wenn die eigene Schuld am Trauma des anderen akzeptiert und aufgearbeitet ist.⁴⁴ Diese Erweiterung des Verantwortungsradius und der dialogischen Kompetenz ist wichtiger als ein genormtes europäisches Master-Narrativ, und es ist fraglich genug, ob es die eine europäische „Meistererzählung überhaupt jemals geben kann, soll oder muss.⁴⁵ „Über Europa gibt es nicht nur eine, sondern viele Geschichten zu erzählen.⁴⁶ Zu ergänzen wäre: die in ihrer Wertigkeit und in ihrem Sinngebungsanspruch national und transnational nach wie vor bis hin zum „Krieg der Erinnerungen miteinander konkurrieren, insbesondere dann, wenn Geschichte zu Geschichtspolitik wird. Hiervon losgelöst bleibt jedoch die Frage im Raum, ob „mit dem historischen Identitätsfokus Auschwitz ein verbindendes europäisches oder EU-Geschichtsbewusstsein entsteht?⁴⁷ Wie kann ausgerechnet der Tiefpunkt der deutschen, aber auch der modernen europäischen Geschichte zum Höhe-, wenn nicht Schlusspunkt einer gemeinsamen Erinnerungskultur auf dem Alten Kontinent werden? Der „Stockholm-Prozess hat mit der am 28. Januar 2000 unisono verabschiedeten Erklärung, „die Saat einer besseren Zukunft in den Boden einer bitteren Vergangenheit zu streuen, nicht nur den Weg, sondern auch mögliche Antworten vorgegeben. Eine davon liegt mit diesem Buch vor, das die „Europäisierung von Mitschuld"⁴⁸ zum Inhalt hat. Ein solches Unternehmen ist nicht ohne Gefahr. Christoph Dieckmann, Babette Quinkert und Tatjana Tönsmeyer warnten schon 2003:

    Es mag problematisch erscheinen, wenn Deutsche sich mit der Frage nach dem Verhalten der gemeinhin als „Kollaborateure bezeichneten Gruppen befassen. Bedeutet dies nicht, die Rechtfertigungen deutscher Beteiligter zu akzeptieren, die etwa auf das brutale Verhalten von Rumänen und Letten gegenüber den rumänischen oder lettischen Juden hinwiesen, um sich damit selbst in ein besseres, „zivilisierteres Licht zu setzen?⁴⁹

    Genau darum geht es in diesem Band nicht. Wer in ihm auch nur den Ansatz, auch nur den Hauch einer Verlagerung, Relativierung oder Abschwächung der Ausmaße und Formen des nationalsozialistischen Terrors gegen fast ganz Kontinentaleuropa sucht, der sollte ihn lieber gleich beiseitelegen, denn er kann nicht fündig werden. Im Gegenteil wird – um ein Endergebnis vorwegzunehmen – dargelegt und nachgewiesen, dass die flächendeckende und gigantische Instrumentalisierung der Kollaborateure vom Nordkap bis in die Ägäis, ihrer Ängste, Wünsche, Hoffnungen und Dienste, zu den menschenverachtendsten Praktiken der „arischen Herrenmenschen gehörte, die nicht einen Moment daran dachten, das einzulösen, was sie für das Mittun versprachen. Dennoch befreit dieser Sachverhalt die Kollaborationsnationen nicht von ihrer Mitverantwortung und Mitschuld, die in der bisherigen Geschichtsschreibung zum Zweiten Weltkrieg mehr als unterbelichtet geblieben ist. Volker Ullrich postulierte deshalb bereits vor Jahren in der Hamburger Wochenzeitschrift „Die Zeit:

    Was bislang fehlt, ist eine große Darstellung der Kollaboration in Europa – ein immer noch mit starken Tabus belastetes Thema, das mit dem Beitritt der baltischen Staaten, Polens und Ungarns (und vielleicht bald auch der Ukraine) zur EU aber umso dringlicher geworden ist. SS-Einsatzgruppen und Wehrmacht hätten den Massenmord nicht ins Werk setzen können, wenn ihnen nicht in allen diesen Ländern willige Helfer zugearbeitet hätten. Diese Zusammenhänge zu erforschen heißt nicht, die deutsche Schuld zu verkleinern, wohl aber den Holocaust in einen europäischen Horizont zu rücken.⁵⁰

    Genau das wird hier getan.

    Jedes Kapitel beinhaltet die Vorgeschichte, die Realität und die Auseinandersetzung mit der Kollaboration in den einzelnen Staaten: ihre Aufarbeitung bzw. Nicht-Aufarbeitung, ihr Verdrängen und ihr Verschweigen.

    1Margret Boveri, Der Verrat im 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg 1976, S. 45.

    2Ebd., S. 46.

    3Andreas Lawaty, Vorwort zu: Joachim Tauber (Hg.), „Kollaboration" in Nordosteuropa. Erscheinungsformen und Deutungen im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2006, S. 10.

    4Joachim Tauber, „Kollaboration in Nordosteuropa. Erscheinungsformen und Deutungen im 20. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), „Kollaboration, a. a. O., S. 11–18, hier: S. 11.

    5David Littlejohn, The Patriotic Traitors. A History of Collaboration in German-occupied Europe 1940–45, London 1972.

    6Hans Lemberg, Kollaboration in Europa mit dem Dritten Reich um das Jahr 1941, in: Karl Bosl (Hg.), Das Jahr 1941 in der europäischen Politik, München und Wien 1972, S. 143–162, hier: S. 143; Gerhard Hirschfeld, Zwischen Kollaboration und Widerstand. Europa unter deutscher Besatzung, in: Brockhaus. Die Weltgeschichte, Bd. 5 (Aufbruch der Massen – Schrecken der Kriege, 1850–1945), Leipzig und Mannheim 1999, S. 634.

    7Vgl. hierzu insbesondere das gigantische Forschungsprojekt „World War II – Everyday Life Under ‚German Occupation‘, das Peter Haslinger und Tatjana Tönsmeyer von 2012 bis 2015 mit dreißig Forschern in fünfzehn europäischen Ländern durchgeführt haben. Für eine Kurzbeschreibung s. David Schelp, Leben unter Besatzung, in: „Leibniz (Berlin), Nr.3/2012, S. 22 f.

    8Bundesarchiv, Nürnberger Nachfolgeprozesse, Fall XI, Bd. 394, Dok. NI-10–105.

    9Werner Röhr, Kollaboration: Sachverhalt und Begriff. Methodische Überlegungen auf der Grundlage vergleichender Forschungen zur Okkupationspolitik der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg, in: Tauber (Hg.), „Kollaboration, a. a. O., S. 21–39, hier: S. 24; ders. (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945). Beiträge zu Konzepten und Praxis der Kollaboration in der deutschen Okkupationspolitik: Bundesarchiv Koblenz (Hg.), Europa unterm Hakenkreuz. Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus (1938–1945), Ergänzungsband I, Berlin und Heidelberg 1994; ders., Landesverrat oder Patriotismus? Kollaboration mit den deutschen Okkupanten im 2. Weltkrieg, in: ders. und Brigitte Berlekamp (Hg.), „Neuordnung Europas. Vorträge vor der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung 1992–1996, Berlin 1996, S. 87–115.

    10Robert Bohn, Kollaboration und deutsche Mobilisierungsbemühungen im Reichskommisariat Ostland. Grundsätzliche Überlegungen, in: David Gaunt, Paul A. Levine und Laura Palosuo (Hg.), Collaboration and Resistance during the Holocaust. Belarus, Estonia, Latvia, Lithuania, Bern 2004, S. 33–44, hier: S. 35.

    11Röhr, Kollaboration: Sachverhalt und Begriff, a. a. O., S. 26.

    12Werner Rings, Leben mit dem Feind. Anpassung und Widerstand in Hitlers Europa 1939–1945, München 1979, S. 425.

    13Zit. nach Hans Umbreit, Die Rolle der Kollaboration in der deutschen Besatzungspolitik, in: Röhr (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945), a. a. O., S. 33–44, hier: S. 34.

    14Ebd., S. 42.

    15Röhr, Landesverrat oder Patriotismus?, a. a. O., S. 89.

    16Zit. nach Hans-Werner Neulen, An deutscher Seite. Internationale Freiwillige von Wehrmacht und Waffen-SS, München 1985, S. 107 f.

    17Arnd Bauerkämper, Der Faschismus in Europa 1918–1945, Stuttgart 2006, S. 180.

    18Zit. nach Rolf-Dieter Müller, An der Seite der Wehrmacht. Hitlers ausländische Helfer beim „Kreuzzug gegen den Bolschewismus" 1941–1945, Frankfurt am Main 2010, S. 14.

    19Bohn, Kollaboration und deutsche Mobilisierungsbemühungen im Reichskommisariat Ostland, a. a. O., S. 37; Müller, An der Seite der Wehrmacht, a. a. O., S. 245; Christian Gerlach, Der Mord an den europäischen Juden. Ursachen, Ereignisse, Dimensionen, München 2017, S. 27. Gerlach betont vielmehr den Nationalismus der Kollaborateure und schlägt stattdessen den Begriff „Partizipation" vor, mit dem er bislang in der Forschung alleinsteht.

    20Röhr, Landesverrat oder Patriotismus?, a. a. O., S. 109.

    21Jan Tomasz Gross, „Jeder lauscht ständig, ob die Deutschen nicht schon kommen. Die zentralpolnische Gesellschaft und der Völkermord, in: Włodzimierz Borodziej und Klaus Ziemer (Hg.), Deutsch-polnische Beziehungen 1939–1945–1949. Eine Einführung, Osnabrück 2000, S. 215–234, hier: S. 229. In Gerlachs monumentaler Untersuchung „Der Mord an den europäischen Juden ist der Einfluss des Kriegsverlaufs auf die Eskalation der Verbrechen einer der entscheidenden Gesichtspunkte.

    22Christoph Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944, Bd. 1, Göttingen 2010, S. 35.

    23Röhr, Landesverrat oder Patriotismus?, a. a. O., S. 115.

    24Gerhard Hirschfeld, Kollaboration in Frankreich – Einführung, in: ders. und Patrick Marsh (Hg.), Kollaboration in Frankreich. Politik, Wirtschaft und Kultur während der nationalsozialistischen Besatzung 1940–1944, Frankfurt am Main 1991, S. 7–22, hier: S. 21.

    25Gerhard Hirschfeld, Kollaboration in Hitlers Europa als ein historisches Tabu. Vichy-Frankreich und die Niederlande, in: Nicole Colin, Mathias N. Lorenz und Joachim Umlauf (Hg.), Täter und Tabu. Grenzen der Toleranz in deutschen und niederländischen Geschichtsdebatten, Essen 2011, S. 45–59, hier: S. 53.

    26Christoph Dieckmann, Babette Quinkert und Tatjana Tönsmeyer (Hg.), Kooperation und Verbrechen. Formen der „Kollaboration" im östlichen Europa 1939–1945, Göttingen 2003, Editorial, S. 9–21, hier: S. 10, Anm. 4; Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933–1945, Frankfurt am Main 1992.

    27Müller, An der Seite der Wehrmacht, a. a. O., S. 121.

    28Bernd Greiner, Kein Krieg um der Juden willen, in: „Die Zeit" vom 22.12.2004, S. 44, Rezension zu: Eva Schweitzer, Amerika und der Holocaust. Die verschwiegene Geschichte, München 2004.

    29Edwin Black, IBM und der Holocaust. Die Verstrickung des Weltkonzerns in die Verbrechen der Nazis, München 2002.

    30Klaus-Michael Mallmann und Martin Cüppers, Halbmond und Hakenkreuz. Das Dritte Reich, die Araber und Palästina, Darmstadt 2011; gegen Mallmann und Cüppers: René Wildangel, Auf der Suche nach dem Skandal. Eine Reaktion auf den Themenschwerpunkt „Nazikollaborateure in der Dritten Welt", in: Harald Schmid et al. (Hg.), Jahrbuch für Politik und Geschichte, Bd. 1, Stuttgart 2010, S. 225–231; vgl. außerdem: Klaus Gensicke, Der Mufti von Jerusalem und die Nationalsozialisten: Eine politische Biographie Amin el-Husseinis, Darmstadt 2008; Omar Kamil, Die Araber und der Holocaust. Eine Diskursgeschichte, Göttingen 2012; Gilbert Achcar, Die Araber und der Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen, Hamburg 2012; Volker Koop, Hitlers Muslime. Die Geschichte einer unheiligen Allianz, Berlin 2012; und David Motadel, Für Prophet und Führer. Die islamische Welt und das Dritte Reich, Stuttgart 2017.

    31Tony Judt, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, Bonn 2006, S. 24 und 23.

    32Arnd Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945, Paderborn, München, Wien und Zürich 2012.

    33Vgl. Christian Joerges, Matthias Mohlmann und Ulrich K. Preuss (Hg.), „Schmerzliche Erfahrungen der Vergangenheit" und der Prozeß der Konstitutionalisierung Europas, Wiesbaden 2008; Lars Karl und Igor J. Polianski (Hg.), Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Rußland, Göttingen 2009; Helmut König, Politik und Gedächtnis, Weilerswist 2008; Mathias Berek, Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Erinnerungskulturen, Wiesbaden 2009; Christian Meier, Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, München 2010.

    34Christoph Cornelißen, Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven, in: „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU), Nr.11/2003, S. 548–563; ders., Die Nationalität von Erinnerungskulturen als gesamteuropäisches Phänomen, in: GWU, Nr. 1/2011, S. 5–16; ders., „Vergangenheitsbewältigung – ein deutscher Sonderweg?, in: Katrin Hammerstein, Ulrich Mählert, Julie Trappe und Edgar Wolfrum (Hg.), Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, Göttingen 2009, S. 21–36; ders., Zur Erforschung von Erinnerungskulturen in West- und Osteuropa. Methoden und Fragestellungen, in: ders., Roman Holec und Jiȓi Pešek(Hg.), Diktatur – Krieg – Vertreibung. Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945, Essen 2005, S. 25–44; ders., Lutz Klinkhammer und Wolfgang Schwentker, Nationale Erinnerungskulturen seit 1945 im Vergleich, in: dies. (Hg.), Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt am Main 2004, S. 9–27.

    35Christoph Cornelißen, Roman Holec und Jiȓi Pešek, Politisch-historische Erinnerungen in Mittel- und Ostmitteleuropa seit 1945, in: dies. (Hg.), Diktatur – Krieg – Vertreibung, a. a. O., S. 9–24, hier: S. 9.

    36Cornelißen, Zur Erforschung von Erinnerungskulturen, a. a. O., S. 43.

    37Ders., Klinkhammer und Schwentker, Nationale Erinnerungskulturen seit 1945 im Vergleich, a. a. O., S. 13; vgl. dazu Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart 2010.

    38Aleida Assmann, Wie wahr sind Erinnerungen?, in: Harald Welzer (Hg.), Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, S. 103–122, hier: S. 104; s. dazu: Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen?, München 2013; grundsätzlich: dies., Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1999; dies., Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006; dies., Auf dem Weg zu einer europäischen Geschichtskultur? (=Wiener Vorlesungen im Rathaus, Folge 161), Wien 2012; Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin und Neuwied 1966 (frz. Original: 1925); Wolfgang Bergem, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, in: Schmid et al. (Hg.), Jahrbuch für Politik und Geschichte, Bd.1, S. 233–253.

    39Aleida Assmann, Von kollektiver Gewalt zu gemeinsamer Zukunft. Vier Modelle für den Umgang mit traumatischer Vergangenheit, in: Kerstin von Lingen (Hg.), Kriegserfahrung und nationale Identität in Europa nach 1945. Erinnerung, Säuberungsprozesse und nationales Gedächtnis, Paderborn, München, Wien und Zürich 2009, S. 42–51, hier: S. 48.

    40Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 6. Aufl., München 2007, S. 23; vgl. Harald Schmid (Hg.), Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis, Göttingen 2009; Ulf Engel et al. (Hg.), Erinnerungskulturen in transnationaler Perspektive, Leipzig 2012.

    41Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis, a. a. O., S. 23.

    42Jens Kroh, Transnationale Erinnerung. Der Holocaust im Fokus geschichtspolitischer Initiativen, Frankfurt am Main und New York 2008; ders., Erinnerungskultureller Akteur und geschichtspolitisches Netzwerk. Die „Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research", in: Jan Eckel und Claudia Moisel (Hg.), Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive, Göttingen 2008, S. 156–173; Kirstin Buchinger, Claire Gantet und Jakob Vogel (Hg.), Europäische Erinnerungsräume, Frankfurt am Main und New York 2009; Geoffrey Hartman und Aleida Assmann, Die Zukunft der Erinnerung und der Holocaust, Konstanz 2012; Natan Sznaider, Gedächtnisraum Europa. Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus – Eine jüdische Perspektive, Bielefeld 2008; Daniel Levy und Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001; Uffe Østergaard, Der Holocaust und europäische Werte, in: APuZ, Nr.1–2/2008, S. 25–31; Marcel Siepmann, Vom Nutzen und Nachteil europäischer Geschichtsbilder, in: APuZ, Nr.42–43/2013, S. 34–40; Wolfgang S. Kissel und Ulrike Liebert (Hg.), Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft. Nationale Narrative und transnationale Dynamiken seit 1989, Münster 2010.

    43Kroh, Transnationale Erinnerung, a. a. O., S. 147.

    44Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013, S. 197; vgl. dazu: Andreas Wirsching, Die Ungleichzeitigkeit der europäischen Erinnerung, in: Zsuzsa Breier und Adolf Muschg (Hg.), Freiheit, ach Freiheit … Vereintes Europa – geteiltes Gedächtnis, Göttingen 2011, S. 150–153; Pim den Boer, Heinz Duchhardt, Georg Kreis und Wolfgang Schmale (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, Bd. 1: Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, Bd. 2: Das Haus Europa, Bd. 3: Europa und die Welt, München 2012; Peter Schmitt-Egner, Handbuch Europäische Identität, Wiesbaden 2012; Wolfgang Schmale, Geschichte und Zukunft der europäischen Identität, Stuttgart 2008; Helmut König, Julia Schmidt und Manfred Sicking (Hg.), Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität, Bielefeld 2008.

    45Vgl. Krijn Thijs, Vom „master narrative zur „Meistererzählung? Überlegungen zu einem Konzept der „narrativen Hierarchie, in: Alfrun Kliems und Martina Winkler (Hg.), Sinnstiftung durch Narration in Ost-Mittel-Europa. Geschichte – Literatur – Film, Leipzig 2005, S. 21–53; Konrad H. Jarausch und Martin Sabrow, „Meistererzählung. Zur Karriere eines Begriffs, in: dies. (Hg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002, S. 9–32.

    46Susan Rößner, Die Geschichte Europas schreiben. Europäische Historiker und ihr Europabild im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main und New York 2009, S. 344; s. dazu: Christoph Cornelißen, Europas Gedächtnislandkarte. Gibt es eine Universalisierung des Erinnerns? in: Norbert Frei (Hg.), Was heißt und zu welchem Ende studiert man Geschichte des 20. Jahrhunderts?, Göttingen 2006, S. 42–49 und Volkhard Knigge, Europäische Erinnerungskultur. Identitätspolitik oder kritisch-kommunikative historische Selbstvergewisserung, in: Kulturpolitische Gesellschaft e.V. (Hg.), Kultur. Macht. Europa – Europa. Macht. Kultur. Begründungen und Perspektiven europäischer Kulturpolitik, Essen 2008, S. 150–161.

    47Harald Schmid, Europäisierung des Auschwitzgedenkens? Zum Aufstieg des 27. Januar 1945 als „Holocaustgedenktag" in Europa, in: Eckel und Moisel (Hg.), Universalisierung des Holocaust?, a. a. O., S. 174–202, hier: S. 178; Harald Schmid und Justyna Krzymianowska (Hg.), Politische Erinnerung. Geschichte und kollektive Identität, Würzburg 2007.

    48Schmid, Europäisierung des Auschwitzgedenkens?, a. a. O., S. 183, unter Rückgriff auf Werner Bergmann und Wilhelm Heitmeyer, Antisemitismus: Verliert die Vorurteilsrepression ihre Wirkung? in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände, Folge 3, Frankfurt am Main 2005, S. 224–238, hier: S. 230.

    49Dieckmann, Quinkert und Tönsmeyer (Hg.), Kooperation und Verbrechen, a. a. O., S. 10.

    50Volker Ullrich, Alles bekannt? Mitnichten! Für NS-Forscher gibt es noch viel zu tun, in: „Die Zeit" vom 3.2.2005, S. 46.

    Österreich

    Wann wurde Österreich zu Österreich? Wann wurden aus den österreichischen Deutschen deutsche Österreicher? Wann wurde aus der Kultur- und Staatsnation eine ethnisch eigenständige, autochthone Nation Österreich? Und vor allem: Wann begann und wann endete dieser Prozess?

    Wenn es tatsächlich stimmt, und der diesbezügliche Konsens verbreitert sich in der europäischen Geschichtswissenschaft von Tag zu Tag, dass der eigentliche Moment der eigentlichen österreichischen Nationswerdung just in dem Zeitraum liegt, in dem dieses Land nicht an der Seite, sondern zusammen mit Hitlerdeutschland mehrheitlich gewollt und begeistert in den größten Rassen- und Vernichtungskrieg der Weltgeschichte eingetreten ist, dann haben wir es hier gleichzeitig mit einer der größten Paradoxien der Weltgeschichte zu tun: Österreich, die Kollaborationsnation schlechthin, findet im Moment des geplanten und unbegrenzten Mittuns zu sich selbst. Um Derartiges zu verstehen, ist ein Blick in die Geschichte vonnöten.

    „Über die Frage, ab wann vom Einsetzen einer nationalen Sonderentwicklung der Österreicher gesprochen werden könne, gehen die Meinungen um mehr als ein Jahrtausend auseinander."¹ Der Name Ostarrîchi als Bezeichnung für die „Ostmärker im Rahmen der deutschen Ostkolonisation taucht 966 zum ersten Mal auf. Das berühmte „privilegium minus, mit dem Friedrich Barbarossa 1156 die Ostmark von Bayern abtrennte, musste ganzen Historikergenerationen als Beginn angeblicher österreichischer Eigenständigkeit herhalten, in Wirklichkeit ist mit ihm die Zugehörigkeit zum deutschen Königreich nie in Frage gestellt worden, auch nicht unter den ab 1440 herrschenden Habsburgern. Der Savoyer Prinz Eugen, der einen Zweifrontenkrieg gegen die Türken wie auch gegen das Frankreich Ludwigs XIV. erfolgreich überstand und deshalb für einige bereits zum „Erschaffer Österreichs avancierte, wird ausgerechnet von Hugo von Hofmannsthal als „deutscher Nationalheld deklariert. Maria Theresias Sohn Joseph erhob das Wiener Burgtheater 1776 zum deutschen Nationaltheater. Im 1815 „auf ewige Zeiten geschlossenen Deutschen Bund ist Wien und nicht Berlin die Führungsposition eingeräumt, aber die „ewigen Zeiten währen nur 41 Jahre. Es ist Österreich, das dem abtrünnigen Preußen 1866 den Krieg erklärt, mit dem ausdrücklichen Ziel der Wiederherstellung des Deutschen Bundes in seiner alten Struktur. Die Niederlage von Königgrätz ist die erste Weggabelung, Österreich wird mit Waffengewalt aus dem staatsrechtlichen Zusammenhang mit dem übrigen Deutschland herausgedrängt, aber der Impuls kam von außen, nicht von innen. Kaiser Franz Joseph erklärt ausdrücklich: „Ich bin vor allem Österreicher, aber entschieden deutsch und wünsche den innigsten Anschluss an Deutschland², und schließt 1879 mit Bismarck den Zweibund, eine „Beziehung besonderer Art. Bürgermeister Karl Lueger lässt 1900 im Gemeindestatut Wiens für die Verleihung der Bürgerrechte das Gelöbnis verankern, „den deutschen Charakter der Stadt nach Kräften zu fördern. Dennoch saß die Demütigung von 1866 tief. Im beschaulichen Gänserndorf, vor den Toren von Wien, hatte der preußische Kapellmeister Johann Gottfried Piefke unmittelbar nach dem Sieg seinen „Königgrätzer Marsch erklingen lassen. Der Name des Mannes wird zur Chiffre eines zunächst allerdings noch schleichenden und latenten Absonderungsprozesses.

    In den Ersten Weltkrieg ging es bereits wieder mit Blankoscheck, Waffenbrüderschaft und Nibelungentreue. Im Verein mit den Hohenzollern hielten sich die Habsburger für unbesiegbar, und außerdem war dies der beste Weg, 1866 zu vergessen. Doch das Bündnis sah sich bald erheblichen Spannungen ausgesetzt. Die Kampfmoral der k.u.k. Truppen ließ mehr und mehr zu wünschen übrig, Desertionen und Flucht an ihren Frontabschnitten häuften sich. Die Klagen der deutschen Generalität über die lasche Disziplin des „Kameraden Schnürschuh wurden immer lauter, man empfand die „schlappen Österreicher³ zusehends als Klotz am Bein. Spätestens Ende 1917 klafften im Zweibund derartige Risse, dass von einem gemeinsamen militärischen und politischen Vorgehen kaum noch die Rede sein konnte. Die „Sixtus-Affäre", geheime französische Friedensfühler in Richtung des österreichischen Kaisers Karl I., kettete diesen nach ihrem Bekanntwerden und Scheitern nur noch enger an Wilhelm II., seinen Nibelungenfreund in Berlin, und unterwarf die Armeen der Doppelmonarchie de facto dem preußisch-deutschen Oberkommando. Dieses aber traute den unsicheren Kantonisten im Süden so wenig, dass sehr wohl gefechtsbereite österreichische Divisionen nicht zur Entscheidungsschlacht an die Westfront transferiert, sondern in der Reserve belassen wurden – im Urteil der jüngeren Militärgeschichtsschreibung eine gravierende Ursache für die Niederlage der Mittelmächte im Spätherbst 1918.⁴

    Doch als die Waffen schwiegen, war das Zerwürfnis vergessen, sowohl in der großen Politik wie auch im Volk. Im Gegenteil: der Anschluss an Deutschland wurde als die einzig realistische Zukunftsperspektive gesehen, und die treibende Kraft waren hier die Linksparteien. Der Sozialist Victor Adler reagiert auf die Proklamation der Weimarer Republik am 9. November 1918 mit den Worten: „Wir haben die Pflicht, gegenüber diesem Ereignis sofort, schon in unserer Eigenschaft als Deutsche, Stellung zu nehmen."⁵ Sogar die Kommunisten hatten sich sechs Tage zuvor ausdrücklich als „Kommunistische Partei Deutschösterreichs konstituiert. Am 12. November wird im Wiener Parlament die Republik „Deutschösterreich ausgerufen und im selben Atemzug zum „Bestandteil der Deutschen Republik" erklärt. Man wollte also keinen unabhängigen Staat, sondern den Zusammenschluss aller von Deutschen bewohnten Gebiete des verblichenen Habsburgerreiches

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1