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Das Ruderboot: Von der Liebe, dem Krieg und der Gerechtigkeit. Eine Erzählung aus der Zeit von 1936 bis 1949 in Deutschland.
Das Ruderboot: Von der Liebe, dem Krieg und der Gerechtigkeit. Eine Erzählung aus der Zeit von 1936 bis 1949 in Deutschland.
Das Ruderboot: Von der Liebe, dem Krieg und der Gerechtigkeit. Eine Erzählung aus der Zeit von 1936 bis 1949 in Deutschland.
eBook335 Seiten4 Stunden

Das Ruderboot: Von der Liebe, dem Krieg und der Gerechtigkeit. Eine Erzählung aus der Zeit von 1936 bis 1949 in Deutschland.

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Über dieses E-Book

Der junge Helmuth Bartels lernt während der Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin die Jüdin Miriam kennen. Es ist der Beginn einer großen Liebe, die von der zunehmenden Verfolgung der Juden im nationalsozialistischen Deutschland auf die Probe gestellt wird. Als Miriam ein Kind von Helmuth erwartet, heiraten die beiden illegal. Als Frontsoldat im Krieg versucht Helmuth während eines Heimaturlaubes, seine Frau und sein Kind vor der Deportation in die Schweiz in Sicherheit zu bringen. Dies ist der Beginn einer langen abenteuerlichen Reise des Protagonisten, die nur das eine Ziel hat, mit seiner geliebten Frau und Tochter wieder zusammen zu kommen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum8. Jan. 2024
ISBN9783384119810
Das Ruderboot: Von der Liebe, dem Krieg und der Gerechtigkeit. Eine Erzählung aus der Zeit von 1936 bis 1949 in Deutschland.
Autor

Martin Michelson

Beruflich: Professor (emerit.) für Wirtschaftsinformatik an der Hochschule Darmstadt. In dieser Eigenschaft regelmäßig Veröffentlichung von Fachliteratur. Privat mache ich Musik seit früher Jugend, spiele mehrere Instrumente und komponiere Vocal- und Instrumentalmusik. Daneben schreibe ich Bücher, von denen ich in den letzten Jahren veröffentlicht habe: Der Fall Behrens Die Jagd auf Jan Behrens Der Verfall Ich bin verheiratet, habe zwei erwachsene Kinder und drei Enkelkinder. l

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    Buchvorschau

    Das Ruderboot - Martin Michelson

    Prolog

    Mein Name ist Helmuth Bartels. Es ist mein richtiger Name und ich verberge ihn nicht, denn offiziell gibt es mich gar nicht mehr.

    Ich bin ein Mörder.

    Meine Morde geschahen vorbereitet und geplant. Planung war schließlich notwendig, um mich davor zu schützen, von der Staatsmacht verfolgt und verhaftet zu werden.

    Meine Opfer hingegen hatten diese Probleme nicht. Meine Opfer waren Mörder, sie töteten keineswegs heimtückisch, meist geplant, manchmal spontan, sicherlich auch aus Lust. Und das im Bewusstsein, nicht von der Staatsmacht verfolgt zu werden, ja, von ihr sogar alle Unterstützung zu bekommen.

    Ich hatte kein Lustempfinden bei meinen Taten. Das Empfinden von Genugtuung vielleicht, aber das hielt nie lange an. Nur eins vereint mich mit denen, die ich getötet habe und die selber töteten: Die Überzeugung, dass meine Opfer es nicht verdient haben, weiterzuleben.

    Dies ist meine Geschichte. Es ist eine Liebesgeschichte.

    Teil 1

    1936 - 1944

    1

    An einem Nachmittag Anfang August 1936 verließ ich die Station Reichssportfeld der Berliner Stadtbahn und strebte inmitten einer großen Menschenmenge dem Olympiastadion zu.

    Ich hatte tatsächlich noch eine Karte für die Leichtathletikwettkämpfe erwischt, auf einem ziemlich weit oben gelegenen Rang zwar, aber immerhin. Für die Sprintläufe hatte es leider nicht geklappt, aber auch heute bei den Weitsprungmeisterschaften würde ich den bereits jetzt schon zur Legende erklärten Jesse Owens sehen, einen amerikanischer Schwarzen, der seine weißen Herausforderer sportlich übertrumpfte.

    Das Wetter war wechselhaft, wie meist in den zwei ersten Wochen des Augusts, aber es regnete nicht. Als die über 3000 Athleten am ersten Tag einmarschiert waren, so war es in der Wochenschau zu verfolgen gewesen, hoben fast alle vor dem Führer den Arm zum Deutschen Gruß. Dass der Führer den Gruß von Mussolini übernommen hatte, dieser wiederum einen alten römischen Gruß, der zu Beginn der olympischen Idee zum offiziellen olympischen Gruß erklärt wurde, wer wollte das schon so genau hören?

    Auch ich war stolz. Endlich konnte Deutschland der Welt zeigen, dass es wieder wer war, dass es schöne und großartige Spiele ausrichten konnte und dass es friedlich war. Die Welt achtete und bewunderte uns. Schon seit Monaten waren die Angriffe auf die Juden zurückgegangen und ich war davon überzeugt, dass der Führer auch keine weiteren Ausschreitungen mehr dulden würde.

    Ich fand schließlich meinen Platz in einer der oberen Reihen auf der Längsseite des Stadions. Das Stadion kam mir unermesslich groß vor. Rechts vor mir saß eine junge Frau in einfacher Kleidung, sie mochte so alt wie ich sein. Sie fiel mir sofort auf. Ich überlegte, ob ich den Platz tauschen und mich neben sie setzen sollte, innerhalb der Rangabteile bestand freie Platzwahl. Aber das kam mir dann doch zu aufdringlich vor.

    Diese Überlegungen erübrigten sich, als drei Männer in braunen SA-Uniformen, anscheinend schon etwas angetrunken, sich rechts und links neben sie setzten. Ganz offensichtlich empfand sie das als unangenehm, aber was sollte sie machen?

    Nach diversen weniger interessanten Wettkämpfen stand das Weitspringen an und hier würde der schwarze Jesse Owens antreten. Owens war populär, auch wenn das vielen in der olympischen Organisation und erst recht der Staatsführung nicht passte: Ein Schwarzer, der die weißen Kämpfer besiegte, vor allem die deutschen. Aber für die meisten von uns im Volk war er der Held der Olympischen Spiele.

    An diesem Tag klappte es aber zunächst nicht richtig. Owens hatte zwei Fehlversuche und drohte disqualifiziert zu werden. Der deutsche Carl Ludwig Long, genannt Luz Long, der zu diesem Zeitpunkt schon den Olympiarekord aufgestellt hatte, gab ihm nun den Tipp, seine Absprungposition etwas hinter den Balken zu markieren. Owens flog durch die Luft und ließ Long hinter sich. Nach mehreren Sprüngen hatte er den Sieg erreicht, Long bekam Silber. Und Long war ein ganzer Sportsmann, er gratulierte Owens als erster.

    Den SA-Typen vor mir gefiel das Ganze überhaupt nicht, sie grölten und schimpften über den Schwarzen. Ganz im Gegensatz zu der jungen Dame, die sich offensichtlich über den Sieg Owens’ freute und klatschte. Dies brachte die drei noch mehr in Rage. Sie beschimpften sie, einer rief: »Hier wird nicht geklatscht! Hast du nicht mitbekommen, dass ein Schwarzer unseren Mann besiegt hat? Und der Long gratuliert dem Kerl auch noch!«

    In mir brodelte der Ärger über die drei ungehobelten Burschen. Als der eine die junge Frau jetzt auch noch von der Seite anstieß, reichte es mir.

    Ich stand auf, drängte mich von hinten zwischen die Frau und einen der Kerle und sagte zu ihr: »Ich möchte Ihnen einen Platz neben mir anbieten, dort ist noch frei. Ich glaube, die Gesellschaft dieser Herren ist Ihnen nicht sehr angenehm.«

    Sie sah mich überrascht an, nahm ihre Tasche vom Schoß und stand auf. Ich reichte ihr die Hand und führte sie auf den Platz neben mir, wo sie sich setzte.

    Die drei SA-Männer hatten sich umgedreht und sahen mich wütend an. »Willst du dieses Flittchen ohne Nationalgefühl noch schützen?«, rief der eine.

    Ich pflaumte zurück: »Der Führer wäre entsetzt, wenn er mitbekäme, wie ihr euch bei diesem großen deutschen Sportfest benehmt!«

    Dieser Verweis auf den Führer wirkte. Tatsächlich war von höchster Seite im Radio und in den Zeitungen die Order ausgegeben worden, dass sich alle Deutschen gegenüber den Gästen freundlich und aufgeschlossen zu verhalten hatten. Mit Sicherheit war der Führer allerdings verärgert, dass Long nicht den Sieg errungen hatte.

    Nach der Siegerehrung stand die junge Dame auf. »Ich muss jetzt gehen«, sagte sie. »Ich danke Ihnen für den Platz.«

    »Ich gehe auch«, sagte ich sofort. »Gestatten Sie mir, dass ich Sie ein Stück begleite, wenigstens bis zur Haltestelle?«

    Sie willigte ein und so gingen wir gemeinsam Richtung Station der Stadtbahn. Dort standen wir auf dem Bahnsteig, zumindest eine Teilstrecke mussten wir mit der gleichen Bahn fahren. Sie wohnte, wie sie mir sagte, in der Nähe des Savignyplatzes und würde am Bahnhof Zoo aussteigen. Für mich war das der Umsteigepunkt zur Bahn nach Steglitz. Während wir warteten, erschienen auf einmal die drei jungen SA-Männer. Sie umstellten uns.

    »So, du hältst also zu dem Schwarzen«, sagte der eine mit schwerer Zunge zu meiner Begleiterin. »Könnte mir vorstellen, dass du eine Jüdin bist. Zeig deinen Ausweis!«

    Ich stellte mich nah vor ihn und schaute ihm ins Gesicht. »Sie wird gar nichts zeigen. Und ihr lasst sie jetzt in Ruhe!« Es mag mein Blick gewesen sein, der ihn etwas zurückweichen ließ.

    »Bist du etwa auch für den Schwarzen?«, fragte er fordernd, während sich die beiden anderen eher abwartend verhielten.

    »Ich bin dafür, dass sich Deutschland vorbildlich der Welt präsentiert, so wie unser Führer es will.«

    Längst waren die Zeiten vorbei, in denen sich SA-Männer einfach auf der Straße an Zivilisten vergehen konnten. Die SA hatte ihre Bedeutung verloren, die jüngeren Neuzugänge waren eher einfache Geister, die in den wichtigeren Organisationen des Systems keine Aufstiegschancen hatten. Pöbeleien waren unerwünscht, Schläger wurden schnell verhaftet. Besonders wenn sie getrunken hatten. Und insbesondere jetzt bei der Olympiade.

    Immer noch machte ich mich auf eine Auseinandersetzung gefasst, aber er drehte sich schließlich weg und sagte zu den beiden anderen: »Wir gehen.«

    Sie folgten ihm und verschwanden vom Bahnsteig. Offensichtlich wollten sie keine Bahn nehmen, sondern waren uns gefolgt.

    Die Bahn Richtung Zoo lief ein und wir stiegen ein. Da wir die Wettkämpfe vorzeitig verlassen hatten, waren einzelne Sitzplätze frei und wir konnten uns gegenüber setzen.

    »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe«, sagte die junge Frau. »Das war sehr nett von Ihnen, aber auch nicht ungefährlich.«

    »Das war doch selbstverständlich«, erwiderte ich. »Ich konnte doch nicht zulassen, dass diese Flegel Sie weiter belästigen.«

    Sie schwieg und sah aus dem Fenster und auch ich vermied es, weiter über den Vorfall zu sprechen. Allerdings war ich zu schüchtern, ein richtiges Gespräch zu eröffnen, da ich das Gefühl hatte, dass sie das nicht wollte. So hatte ich Gelegenheit, sie unauffällig zu betrachten. Sie war hübsch, mochte etwa in meinem Alter sein, eine schlanke Figur, das ebenmäßige Gesicht umrahmt von dunkelblondem Haar. Ihr Gesichtsausdruck wirkte scheu. Ihre Kleidung war einfach und fast ärmlich, was im Kontrast zu ihrer gebildeten und kultivierten Ausstrahlung stand. Aber es waren die schönen Augen und dieser melancholische Blick, der mich in ihren Bann zog.

    Als wir beide am Bahnhof Zoo ausstiegen, fasste ich mir ein Herz und fragte, ob ich sie in eins der Cafés rund um den Bahnhof Zoo einladen dürfe. Sie zögerte und sagte, dass sie nach Hause müsse.

    »Bitte«, insistierte ich, »wir hatten doch Karten für die ganzen Nachmittagswettkämpfe. Und nun haben wir uns beide entschlossen, früher zu gehen.«

    Sie kämpfte mit sich und schließlich willigte sie unter der Bedingung ein, dass es nicht länger als eine Stunde dauerte.

    Wir betraten eines der Cafés am Savignyplatz und fanden einen Tisch in der Ecke.

    »Entschuldigen Sie«, sagte ich, »dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Helmuth Bartels. Ich wohne in Steglitz und habe jetzt noch genau zwei Wochen, bis ich meinen Arbeitsdienst antreten muss.«

    »Ich heiße Miriam Lehnhard«, erwiderte sie. »Ich arbeite als Haushälterin und Kinderfrau bei einer netten Familie hier in Charlottenburg.«

    Die Kellnerin kam, wir bestellten Kaffee und dann entstand doch ein nettes Gespräch. Als wir nach anderthalb Stunden das Café verließen, bestand ich darauf, sie nach Hause zu begleiten, aber sie wies das standhaft zurück. Erst später sollte ich erfahren, warum sie nicht wollte, dass ich ihre Adresse beziehungsweise die ihrer Dienstherren kennen lernte.

    Immerhin schaffte ich es, sie zu einem Wiedersehen zu überreden, in einer Woche in eben diesem Café. Ich hatte ja auch nicht mehr viel Zeit, bis ich für meine Arbeitsdienstzeit Berlin verlassen musste. Als wir uns verabschiedet hatten und ich allein dem Bahnhof zustrebte, nahm ich alles um mich herum nicht wahr. Ich konnte nur an Miriam denken und ich wusste, dass ich unser Wiedersehen nur schwer abwarten konnte. Ja, ich hatte mich verliebt.

    2

    Kurz vor Weihnachten traf ich mit dem Zug am Anhalter Bahnhof ein. Der Arbeitsdiensteinsatz im Emsland war beendet, aber schon Anfang Januar würde ich zum Wehrdienst einrücken müssen. Ich freute mich durchaus darauf, denn der Wehrdienst würde doch eine andere – wie ich dachte – sinnvollere Betätigung sein als die stupide Arbeit auf den Feldern des Emslandes. Als Abiturient strebte ich die Offizierskarriere an und war überzeugt davon – und wie sich später zeigte, auch geeignet – beim Militär Karriere zu machen.

    Jetzt aber freute ich mich auf die zehn Tage Weihnachtsurlaub und die Feiertage bei meinen Eltern und insbesondere darauf, möglichst viel Zeit mit Miriam zu verbringen. Wir hatten uns vor meinem Arbeitsdiensteinsatz nochmals getroffen und auch danach, wenn ich seltenerweise einmal Heimaturlaub am Wochenende hatte, wunderschöne Stunden miteinander verbracht.

    Bei schönem Wetter waren wir an den Wannsee gefahren oder ins Kino und zu Musikveranstaltungen gegangen. Zu dieser Zeit war Berlin noch ein Zentrum der Kultur, auch wenn die häufige Anwesenheit nationalsozialistischer Parteigänger mit ihren demonstrativ zur Schau getragenen Abzeichen eher störend wirkte.

    Das, was uns sicherlich am meisten verband, waren die kleinen Ausflüge in den Grunewald oder an den Wannsee. Dann saßen wir an einem entlegenen Platz auf einer Bank und genossen die Ruhe und die Abgeschiedenheit. Es war wie eine kleine Flucht aus der lauten und hektischen Atmosphäre des Alltags. Manchmal sang Miriam mit ihrer glockenhellen Stimme spontan Lieder, die ich schon lange nicht mehr gehört hatte.

    Kurz, wir waren uns näher gekommen. Und sie ließ mich sie von der Wohnung der Familie, für die sie arbeitete in der Knesebeckstraße nahe dem Kuhdamm abholen und nach dem Ausgehen wieder nach Hause begleiten. Miriam beschrieb das Ehepaar als äußerst nette und kultivierte Menschen und erzählte von den zwei Kindern, stellte mich aber nicht vor. Auch erzählte sie wenig von sich selbst. Ihre Eltern, so sagte sie, lebten nicht in Berlin. Ich erwartete nun, da ich in den nächsten Tagen öfter mit ihr zusammen zu sein hoffte, mehr von ihr zu erfahren.

    Die ersten zwei Tage meines Urlaubs verbrachte ich ausschließlich bei meinen Eltern in unserem Haus in Steglitz. Meine Mutter verwöhnte mich mit reichlich und leckerem Essen, mein Vater sprach mit mir viel über meine Zukunft. Er war nicht sonderlich glücklich über meine Absicht, den Militärdienst über die Pflichtzeit hinaus zu verlängern und die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Als Frontsoldat in Frankreich hatte er viel Grauen erlebt und glaubte, dass Hitler wieder einen Krieg anstrebte. Eine Ansicht, die ich für abwegig hielt.

    Einen Tag vor Heiligabend zog es mich zu Miriam. Wir hatten keine feste Verabredung, denn ich hatte im Vorhinein nicht gewusst, wann genau ich Urlaub bekommen würde. So fuhr ich am Nachmittag mit der Stadtbahn zum Bahnhof Zoo und lief dann zur Knesebeckstraße. An der Nummer 6/7 angekommen, drückte ich die Klingel mit dem Namen ihrer Familie. Nach kurzer Zeit hörte ich Schritte im Treppenhaus, die Tür wurde geöffnet und da stand sie. Zu meiner Überraschung fiel sie mir um den Hals, um mich zu küssen, dann ließ sie mich los und nahm meine Hände in die ihren.

    »Ich habe auf dich gewartet«, sagte sie strahlend, »und bin so glücklich, dass du gekommen bist.«

    Ich war noch ganz verwirrt, denn so impulsiv hatte ich sie bisher nicht erlebt. Ich stotterte fast. »Miriam, ich bin auch so glücklich, dich wiederzusehen. Aber auf diesen Empfang hätte ich nicht zu hoffen gewagt.«

    Sie schaute mich lange an und jetzt war wieder der leicht melancholische Ausdruck in ihren Augen, den ich so mochte. »Ich hatte Angst, dass ich dich nicht mehr wiedersehe.«

    »Wie kannst du so etwas sagen? Zwei Monate ist es her, dass wir das letzte Mal zusammen waren. Weißt du noch: Es gab die Heesters-Revue in der Komischen Oper. Ich habe mich die ganze Zeit auf dich gefreut.«

    Miriam drückte meine Hände. »Ich kann jetzt noch nicht weg. Aber nach dem Abendessen darf ich gehen. Wirst du mich abholen? Um sieben Uhr? Ich würde runter kommen.«

    »Ich werde hier vor der Tür stehen und auf dich warten.«

    Sie drückte mir noch einen Kuss auf den Mund und schloss dann die Tür. Es war kühl, einzelne Schneeflocken fielen, aber ich lief die ganze Zeit beschwingt durch die Straßen und stand um Viertel vor sieben wieder vor dem Haus.

    Eine halbe Stunde später saßen wir in einem Restaurant am Savignyplatz. Miriam war wunderschön und ich fühlte mich glücklich wie lange nicht mehr. Der Abend dauerte lange und erst kurz vor zwölf brachte ich sie nach Hause.

    Es war das letzte Mal, dass wir so unbeschwert sein konnten.

    3

    Am Neujahrsabend trafen Miriam und ich uns das letzte Mal vor meinem Abschied zum Militärdienst. Wir besuchten erst eine Revue in der Friedrichstraße mit wunderschönen Tanzeinlagen und gingen dann in ein nahe gelegenes Restaurant. Es war ziemlich voll, aber wir fanden ein ruhiges Plätzchen in einem Seitenraum.

    Miriam war den Abend über ziemlich ruhig gewesen und wirkte bedrückt. Ich schob das auf unsere bevorstehende Trennung, doch der Grund sollte ein ganz anderer sein. Ich hatte eine Überraschung für sie geplant. Als wir ein zweites Glas Wein tranken, holte ich ein Schächtelchen aus der Tasche und legte es auf den Tisch.

    »Miriam«, begann ich, »die Stunden, die ich mit dir bisher verbringen durfte, waren die schönsten meines Lebens und mein größter Wunsch ist, ganz mit dir zusammen zu sein.« Ich öffnete das Schächtelchen und zeigte die zwei Verlobungsringe. »Möchtest du meine Frau werden?«

    Miriam starrte die Ringe an und plötzlich waren Tränen in ihren Augen. Es dauerte lange, bis sie antwortete. »Nein, Helmuth, es … geht nicht.«

    Ich war sprachlos, vielleicht schockiert, denn diese Antwort hatte ich nicht erwartet. Ich war mir so sicher gewesen, dass Miriam mich liebte, ebenso wie ich sie liebte. Ich hatte ihre Überraschung erwartet, vielleicht sogar ein Zögern, aber nicht, dass es nicht geht.

    Erst nach einer Weile fragte ich: »Aber warum? Ist es zu früh, sind wir noch zu jung? Ich weiß, ich habe dir noch nichts zu bieten und ich kann auch noch keine gemeinsame Wohnung bezahlen. Wir können warten, bis ich meinen Militärdienst absolviert habe. Ich möchte dann die Offizierslaufbahn einschlagen. Dann bekommen wir besondere Vergünstigungen, wenn wir heiraten.«

    Miriam schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht.«

    »Glaubst du nicht, dass ich dir ein guter Ehemann sein könnte?«

    Sie schüttelte heftig den Kopf. »Doch, du wärst der beste Mann, den ich mir vorstellen könnte.« Dann senkte sie wieder den Blick. »Aber es darf nicht sein.«

    »Aber warum? Was ist falsch?«

    Nun schaute sie mich fest aus tränenerfüllten Augen an. »Helmuth, ich bin Jüdin.«

    Ich saß da, wortlos, mit offenem Mund. Die Frau, in die ich mich verliebt hatte, gehörte zu dieser verfemten Volksgruppe. Hatte ich es nicht bereits ahnen können? Waren da nicht gemeinsame Erlebnisse, bei denen ich etwas hätte merken können? In diesem Moment war ich mir nicht einmal über meine Einstellung zu Juden im Klaren. Erst nach einer Weile fand ich wieder Worte.

    »Aber warum hast du mir das nicht gesagt?«

    »Auch für mich war es eine wunderbare Zeit mit dir. Ich habe es nicht geschafft, offen zu sein. Aber jetzt, wo du mich fragst, ob wir unser Leben zusammen verbringen wollen, geht es nicht mehr anders. Es gibt keine Zukunft für uns. Eine Heirat zwischen einem Arier und einer Jüdin ist ausgeschlossen. Ganz abgesehen davon, dass du das jetzt auch nicht mehr willst.«

    Ich wusste nicht, was ich sagen konnte, meine Gedanken waren in Aufruhr.

    »Bitte Helmuth«, sagte Miriam leise, »bring mich nach Hause.«

    Wir fuhren mit der S-Bahn zum Savignyplatz und liefen dann bis zur Knesebeckstraße, schweigend. Es hatte zu schneien begonnen, aber wir beachteten es nicht.

    Sie schloss die Tür auf und drehte sich noch einmal zu mir um. »Leb wohl, Helmuth, ich werde die Zeit mit dir nicht vergessen.«

    Und in diesem Moment wusste ich es endlich. Sie wollte die Tür schließen, da trat ich dazwischen, griff ihre Hand und zog sie zu mir. »Miriam, ich liebe dich! Und egal, was die Welt um uns will, ich werde dich immer lieben. Wir werden einen Weg finden.«

    Bevor sie es verhindern konnte, nahm ich ihren Kopf zu mir und küsste sie zärtlich und innig. Und schließlich erwiderte sie meinen Kuss.

    4

    Mein Wehrdienst im Flakregiment am Standort Bitterfeld gestaltete sich von Anfang an so, wie ich es mir vorgestellt hatte: Die jungen Rekruten wurden eine eingeschworene Gemeinschaft, Kameradschaft und gegenseitige Hilfsbereitschaft wurde hochgehalten und von den Vorgesetzten unterstützt. Die Ausbildung war zwar durchaus hart und anstrengend, aber ich war sportlich und die meisten Übungen machten mir sogar Spaß. Fast alles fiel mir leicht und gegen Ende der Grundausbildung gehörte ich zu den besten Schützen und hatte ausgezeichnete Bewertungen in den theoretischen Schulungen. Die nationalsozialistische Erziehung kam zu meiner Erleichterung bemerkenswert wenig zum Tragen, denn die meisten Ausbilder hatten ihre militärische Karriere in der vornationalsozialistischen Zeit begonnen. Wir sollten zu guten Soldaten erzogen werden und das war genau das, was ich mir für mich wünschte.

    Nach zehn Wochen kurz vor Ende der Grundausbildung wurde ich mit drei Kameraden zum Regimentskommandeur befohlen. Er eröffnete uns, dass wir durch besonders gute Leistungen aufgefallen seien und dass man davon ausginge, dass dies so bliebe und wir also für die Offizierskarriere prädestiniert seien. Wir sollten uns dies nun schon überlegen, aber er erwarte es von uns und werde uns entsprechend fördern.

    Wir alle drei waren natürlich stolz ob dieser Belobigung, aber gleichzeitig ließ die Konsequenz dessen keinen von uns ruhig schlafen. Nach den zwei Jahren Wehrdienst blieb ein Offiziersanwärter beim Militär. Ich beschloss, die Entscheidung aufzuschieben und sie vorher eingehend mit meinem Vater zu besprechen. Und auch noch mit einem anderen Menschen: Miriam.

    Nach Abschluss der Grundausbildung bekam ich, wie die anderen, die mit mir eingerückt waren, mehrere Tage Urlaub. Und so fuhr ich nach Hause nach Berlin und wohnte für die Zeit bei meinen Eltern in Berlin-Steglitz.

    Ich saß am Abend meiner Ankunft mit meinen Eltern zusammen im Wohnzimmer unseres einfachen, aber gemütlichen Hauses. Mein Vater hatte eine Flasche Wein aus dem Keller geholt und wir alle genehmigten uns ein Glas. Ich erzählte meine Erlebnisse beim Militär und kam dann sehr schnell auf die entscheidende Frage zu sprechen: Sollte ich nur meinen Wehrdienst ableisten oder mich für die Offizierslaufbahn verpflichten?

    Da mein Vater zunächst nachdenklich schwieg, erklärte meine Mutter, dass es ihr am liebsten wäre, wenn ich nach meiner Militärzeit ein Studium aufnehmen würde, mit meinem guten Abitur stünden mir doch alle Möglichkeiten offen.

    Mein Vater, der im Krieg gedient hatte und eine eher vorsichtig-distanzierte Haltung zum nationalsozialistischen Regime und zum Führer pflegte, sagte schließlich:

    »Es ist schwierig, dir hier zu raten, mein Sohn. Offensichtlich gefällt dir das Leben bei der Wehrmacht. Ich kann mir vorstellen, dass du ein guter Offizier und Vorgesetzter sein würdest. Und das ist, was unsere Nation braucht, um einen Gegenpohl zu den ganzen SS-Truppen zu bilden, die auch militärisch immer mehr Einfluss gewinnen. Studieren kannst du auch noch, wenn du zwei oder drei Jahre die Offizierslaufbahn durchgemacht hast. Wenn es denn irgendwann wieder einen Krieg geben sollte, hast du sicher Vorteile, wenn du nicht nur sinnlose Befehle ausführen musst. Aber natürlich auch mehr Verantwortung. Wie gesagt, du musst das für dich selbst entscheiden.«

    »Glaubst du denn an die Möglichkeit eines Krieges?« fragte ich ihn. »Der Führer hat doch viel erreicht, gerade auch mit den ehemaligen Feinden. Frankreich und England wollen Frieden und haben längst akzeptiert, dass die Zeit der Reparationen und der militärischen Einschränkungen von Deutschland vorbei ist.«

    »Letzteres ist eben der Punkt«, sagte mein Vater. Unsere Nation ist wieder anerkannt in der Völkerfamilie, die schlimmen Jahre nach dem Krieg sind vorbei. Da frage ich mich, wofür der Führer so massiv aufrüstet?«

    Von meinen Vorgesetzten und meinen Kameraden hatte ich keinerlei Gerüchte oder Vorstellungen über einen möglichen neuen Krieg zu Ohren bekommen. Und ich selbst glaubte nicht daran. Auch wenn mich der militärische Dienst und eine mögliche Offizierslaufbahn interessierte und vielleicht auch faszinierte, einfach deshalb, weil auch eine starke Wehrmacht zu Deutschlands Bedeutung in der Welt beitrug: In einen Krieg wollte ich mich nicht begeben.

    Schon am

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