Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Stadtwächterin: Reich der weißen Hexe
Die Stadtwächterin: Reich der weißen Hexe
Die Stadtwächterin: Reich der weißen Hexe
eBook568 Seiten7 Stunden

Die Stadtwächterin: Reich der weißen Hexe

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Victoria von Belhaven ist eine mutige Bäuerin aus dem kalten Norden, die davon träumt Ritterin zu werden. Obwohl die Zeichen schlecht stehen, verfolgt sie ihren Traum ohne dabei auf ihr eigenes Wohl zu achten. Lässt sie sich anfangs noch auf einen Pakt mit einem Dämon ein, will sie aufgrund ihres Trainings und ihres moralischen Kompass dem hehren Ziel, Ritterin zu werden, keinen Deut abweichen. So schließt sie viele Freundschaften, aber schafft sich auch mächtige Feinde wie einen König, einen Dämon oder aber auch einer wahnsinnigen Hexe...

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum24. Nov. 2023
ISBN9783755462057
Die Stadtwächterin: Reich der weißen Hexe

Mehr von Stephan Lasser lesen

Ähnliche Autoren

Ähnlich wie Die Stadtwächterin

Ähnliche E-Books

Kinder – Fantasy & Magie für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die Stadtwächterin

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Stadtwächterin - Stephan Lasser

    Dramatis théatron

    Als Provinzen werden im Kaiserreich von Haven die größten teilsouveränen Verwaltungseinheiten bezeichnet.

    Die Grafschaft Bruma – heute besser bekannt als die Dunkle Steppe - ist die nördlichste Grafschaft der Provinz Haven. Seit den andauernden Konflikten zwischen Magiern und den Adelshäusern leidet das Land unter Zerstörung und dem dauernden Auftauchen von magischen Konjunktionen. In der ganzjährig dunklen Region der Dunklen Steppe leben vorwiegend an die dortigen Witterungen angepasste Pflanzen und Tiere. Nadelwälder und verstreut wachsende Winterblumen wie die Milchdistel bilden dort die natürliche Vegetation. Landwirtschaft ist in dieser unwirtlichen Gegend kaum beziehungsweise schwer möglich, obgleich es mit den kleineren Ortschaften wie Belhaven oder Brückstett auch Fischhandel gibt. Die Gegend galt schon seit jeher als die Müllkippe Havens, wo Luft, Wasser und Boden vergiftet seien und somit alles Verfaulte und Verdorbene letzten Endes landet. Zahlreiche Kreaturen wie Bären, Wyvern, Greife, insektenartige Endriage oder ein einsamer Zyklop können hier angetroffen werden.

    Belhaven ist der Geburtsort unserer Heldin.

    Graf: Graf Ravix von Candele, Lord der Dunklen Steppe, verwaltet ein von Kriegen und Seuchen heimgesuchtes Reich im Norden. Sein ältester und bester Freund ist der Herold Jarre Assengarde.

    Schwarzdornwald: die über 46.000 Quadratkilometer große Fläche aus Nadelbäumen gilt als reiches Tierreservoir und eine wahre Fülle an Flora und Fauna – und leider auch als verflucht. Selbst Monster halten sich von dem Wald fern, und weder Baron noch Holzfäller wagen es jenen unbewohnten Teil von Haven für sich in Anspruch zu nehmen. Man sagt, die mächtige Hexe dort webe zusammen mannshohen Spinnen satanische Runen, um jeden Mann und jedes Kind für immer bei sich zu behalten.

    Die Grafschaft Alftand im Westen ist das Highland von Haven. Es besteht aus windgepeitschten Eisebenen im Norden, dichten Wäldern im Süden, mit einer kleinen Menge an Boden, die für den Bergbau genutzt werden kann. Alftand und Rainform pflegen seit Jahrzehnten einen stabilen Tauschhandel, wo Erze gegen Getreide den Besitzer wechseln. Da die Klans von Alftand überwiegend in Familienfehden verfeindet sind und die Konflikte noch anhalten, gilt die Grafschaft als instabil und notorisch bankrott. Dieser Kessel konkurrierender Fraktionen wird von der Gräfin Annabelle von Jannus und ihrem Klan zusammengehalten – mehr schlecht als recht.

    Die Grafschaft Rainform liegt angrenzend an dem Schwarzdornwald und der Südebene und wird als das Tor zum Süden bezeichnet. Der Schwarzdornwald sorgt mit seiner Dichte an Nadelbäumen und gewissen okkulten Zaubern dafür, dass das raue Klima aus dem Norden und die Monster den Süden nicht überschreiten. Im Gegensatz zu den anderen Grafschaften begrüßen die „Brugger" den Handel und haben mächtige Gilden, die die Produktivität des Reiches maximieren. Eine Reihe von Gilden suchen immer neue Handelsmöglichkeiten und gelten untereinander als Konkurrenten, aber viele glauben, dass sich alle letztendlich vor dem Graf Harald von Brugge verneigen. Die Farmen rund um Brugge sind berühmt für ihre ummauerten Gärten und dem ertragreichen Ernten. Es ist das ertragsreichste Land von Haven – von der Schönheit und Wärme ähnlich wie bei uns das südliche Frankreich.

    Vor langer Zeit lag eine schwere Fehde auf den Beziehungen zwischen Haven und der Grafschaft Brugge, welche jedoch unter Valento von Brugge im Jahre 1143 beendet wurde.

    Die meisten Fahrenden Ritter sind hier anzutreffen, da Raubritter und ähnliches Gesindel vom reichen Handel angezogen werden und für Unfrieden sorgen.

    Graf: Harald von Brugge; Präfekt und Gildenvorsitzender.

    Haven: Alle Gesetze und Politik, die über die des lokalen Stammes oder Dorfes hinausgehen, laufen entweder durch den Hof in Haven oder die Heiligen Tempelanlagen, wo die größten Götter wie Arterios, Doris und natürlich Al-Pahl angebetet werden. Die Tempel überwachen einen Großteil des Gesetzes und beraten die Stammesführer und Grafen in allen Angelegenheiten. Alle wahre Macht darüber hinaus auf rein lokaler Ebene wird von König Ludwig gehalten, und die Priester sorgen dafür, dass jeder, der es wagt, ihre Gesetze zu überschreiten, gefunden und hart bestraft wird.

    Der Rat setzt sich aus den Grafen der Länder zusammen. Zusammen mit dem Obersten Hirten Plaqueis stellen sie eine wirkungsvolle Instanz dar, die jederzeit den König beraten oder auch zurechtweisen kann. Da die Kaiserstadt Haven keine Güter produziert und vom Handel abhängig ist, gelten die Worte des Rates als wegweisend.

    Der Osten (Dunkelforst)

    Eins der größten Domänen in Haven ist der gesamte Osten, der von den Wachtürmen Aqua Sulis, Are Cluta und Dubis entlang des Walls eifersüchtig bewacht wird. Entlang des Walls hat niemand je den Boden betreten. Gerüchten zufolge haben sich die Bewohner bewusst vor vierzig Jahren von Haven abgenabelt und sind sehr erfolgreich, dabei nichts und niemanden in ihr Reich hineingelangen zu lassen. Trotz allem werden Waren zwischen Brugge und der Dämmerküste transportiert – an den Grenzen werden Pferd, Wagen und Güter einfach ausgetauscht. Die wilden Spekulationen beim Volk reichen von monsterverseuchten Ebenen bis Utopia, wo Menschen des Osten friedlich mit den letzten Elfen in Eintracht leben.

    Carnac: Laut einigen Seefahrern soll es eine ausgedehnte Vulkaninsel weit über das Tränende Meer im Süden geben, auf die noch kein Mensch Fuß gefasst hat. Meerjungfrauen, Bäche aus Gold und paradiesische Strände warten auf den mutigen Abenteurer.

    Band Eins: Die Stadtwächterin

    Reich der weißen Hexe – Buch Eins

    Band Eins: Die Stadtwächterin

    1.

    Sie waren nicht zurückgekehrt, weder im letzten Monat noch zu Beginn dieses Aprils– den letzten vereinbarten Termin. Der Außenposten war rund um die Uhr besetzt, und hätten die Wachen nur das Echo eines Hilferufs gehört oder den schwachen Widerschein einer Lampe auf der matschigen Ebene der Dunkelküste gesehen, dort, wo es zur Handelsstraße nach Haven ging, so wäre unverzüglich ein Stoßtrupp losgeschickt worden.

    Die Anspannung wuchs mit jeder Stunde. Die Dorfwache von Belhaven schlossen nicht für einen Moment die Augen. Die Flaschen Kartoffelschnaps und die Spielkarten, mit denen man sich sonst die Zeit zwischen den Patrouillengängen vertrieb, staubten vor sich hin, obwohl kein Mann hier gerne auf Alkohol verzichtete. Ihre zwanglosen Unterhaltungen waren erst kurzen, nervösen Absprachen gewichen, und jetzt herrschte nur noch unheilvolles Schweigen. Jeder hoffte, als Erster das Pferdegetrappel der zurückkehrenden Handelskarawane zu hören. Zuviel hing davon ab.

    Alle Bewohner von Belhaven, ob Knabe oder Greis, verstanden es mit Waffen umzugehen. Seit Beginn des Krieges der Magier hatte sich der Himmel verdunkelt, so dass kein einziger Sonnenstrahl mehr die hellen Sandstrände an der Küste erreicht hatte. Der Wind war wie zum Herbstbeginn kalt und schneidig geblieben, als wäre die Zeit für alle stehengeblieben. Die fünf strohgedeckten Hütten mit der Mühle und dem hohen Palisadenzaun vor dem Damm glichen zusammen wie eine uneinnehmbare Bastion aus längst ausgedienten Möbeln, Treibgut und umgedrehten Booten. Obwohl Belhaven hauptsächlich vom Fischfang lebte, verspürte kaum jemand Lust rauszufahren, um dort sein Glück mit den Fischen zu versuchen: Der magische Krieg dauerte schon zu lange an und schien Tiere wie Menschen zu vertreiben. Immer öfter blieben die Netze leer.

    Die ganze Welt schien sich gegen die Bewohner verschworen zu haben: schwere Gewitterwolken hatten sich über die Dunkelküste gelegt. Selbst die Möwen blieben eines Tages aus, und als der strenge Landvogt zur halbjährlichen Inspektion einfach nicht kam, ahnte jeder, dass es mit ihrem Dorf zu Ende ging. Der Schnee vom letzten Winter wollte nicht schmelzen, Frühling und Sommer hatten an der Dunkelküste keinen Einzug gehalten, so dass sich die Tage wie eine ständige Wiederholung von tristen Graupeltagen anfühlten. Die jungen Leute blieben jedoch bei den Alten, gingen Tag für Tag ihren Beschäftigungen nach und beteten zu den Göttern, die schwere Zeit endlich enden zu lassen. Auch wagte es niemand die Heide zu durchqueren, da von Raubrittern, gefährlichen Bestien und schlussendlich der Krieg die Rede war. Gemeinschaftlich hatte man sich darauf geeinigt, die Sache einfach auszusitzen. Diesmal aber verzögerte sich die Rückkehr der Karawane. Und zwar so sehr, dass nur ein Schluss möglich war: Etwas Unvorhergesehenes musste geschehen sein, etwas Furchtbares, das weder die schwer bewaffneten Begleitsoldaten noch die jahrelang gepflegte Beziehung zu den anderen Dörfern hinter der Heide hatten verhindern können.

    Die Heide war eine üble Fläche aus unbebauten Land, auf dem kilometerweit außer Sand, wenigen feuchten Stellen und Wacholderbüschen nichts Gutes zu finden gab; das spürte jeder. Selbst die Pflückerinnen erlaubten es sich nicht weiter als hundert Meter nach frischen Beeren zu suchen und wurden immer von ihren Männer begleitet.

    Der Wachmann schirmte seine Augen vor dem grellen Licht der Öllampe ab, als er in der Ferne auf der Straße eine Bewegung ausmachte. Verräterische Schatten huschten umher, das Zwielicht des Abends und ein unnatürlich zäher Nebel vom Westen sorgte für Beklemmung und Angst, so dass der Mann mit Helm und Forke beinahe die Nerven verlor: „Heda, wer holpert und stolpert zu dieser Stund´? Nenn mir deinen Namen, sonst ist es aus!"

    Die anderen Wachen, nur fünf Männer, die sich schon ewig kannten, warfen sich besorgte Blicke zu. Einer von ihnen bekreuzigte sich stumm.

    „Es ist bloß Spatz, Leute!, verkündete die Wache und sofort lockerte sich seine angespannte Haltung. „Niemand wichtiges.

    „Ich würde zehn von ihr eintauschen, wenn dafür bloß die Karawane käme", warf der Nächste ein, ohne sich umzudrehen.

    „Alles ruhig, meldete einer von der Ostseite. „Wie ist die wieder rausgekommen?

    Grummeln unter den Männern, während die Gestalt bis zu dem Tor kam.

    Die Frau ging mit langen Schritten durch eine flache Ebene aus Eis und Matsch. Dabei zog sie die Pelzjacke fest über die Brust zusammen bis unters Kinn, sodass sich die Kapuze eng um ihren Kopf legte. Bei einem typischen kalten Abend wie diesem half auch nur wenig. Auch diese Frau marschierte mit einer grimmigen Entschlossenheit, die den Bewohnern von Belhaven eigen war. Nur den Willen jeden Tag aufs Neue zu meistern.

    „Spatz, oder auch Vic genannt, hatte als junge Frau keine besonderen Merkmale vorzuweisen: Schultern und Arme waren durch harte Arbeit sehnig, die Hände knotig und grob geworden. Die bräunlichen Haare waren kurzgeschnitten, eine Narbe am Kinn und eine oft gebrochene Nase verunzierten das ehemals hübsche Gesicht der drahtigen Frau, die für die Bemerkungen der Männer nur einen herablassenden Blick übrighatte. „Mach das Tor auf, Kalle.

    Der Mann namens Kalle schöpfte mit einer Kelle das Öl aus dem Eimer und befüllte seine Laterne, als hätte er alle Zeit der Welt. „Und, wie war´s?", fragte er.

    „Nichts. Sie schniefte, zog die Schultern ein und lehnte sich gegen das Tor. „Der nächste Hof ist auch ruhig. Niemand mehr da. Von hier bis Bückstett ist alles totenstill. Drei Tage bin ich keiner Menschenseele begegnet.

    Während die anderen von ihren Plätzen neugierig näherkamen, beendete Kalle seine Arbeit und zündete die Laterne an. An einem Stock gebunden ließ er sie von der Palisade herunter und leuchtete der Frau ins Gesicht. „Warst du auch schon in Hüvelrogh? Wie steht es mit Hüvelrogh?"

    „Da gibt es nichts zu sehen. Zehn Hütten am Fenrir, und der Fluss ist so ruhig wie ein Friedhof. Sie deutete mit den Schultern Richtung Osten. „Ich war zweimal dort. Aber wenn du unbedingt willst, geh ruhig, es sind nur fünf Meilen von hier.

    „Verdammter Mist, knurrte der Mann. Jedermann wusste, dass Kalles Schwester dort mit ihrer Familie ein Gasthaus betrieb. „Deinesgleichen bringt nichts anderes als Miesmacherei. Dabei spuckte er aus.

    Jedes Dorf hatte jedem Kind, jeder Frau und jedem Mann eine besondere Rolle zugedacht. Von früh bis spät gab es genug zu tun, die meisten lernten von ihren Eltern das Handwerk der Familie und so war es Brauch schon immerdar. Doch manchmal gab es Jemanden unter ihnen, der nicht dazugehörte, der seinen Platz nicht fand und nicht recht zu wissen schien, was von ihm erwartet wurde. Vic, seit jeher Waise und allein, half überall aus und gehörte doch nirgends dazu. Die Bitterkeit dieser Rolle hatten dieser Rose gefährliche Dornen verpasst, wie die Alten so schön sagten.

    Das Tor wurde geöffnet. Vic wanderte erschöpft zu ihrem Platz, band sich die Schürze um und tat das, was sie meistens tat: Weißlinge an der Fischbude entschuppen. Der eklige Gestank aus fauligen Melonen und verbrannten Horn machte ihr schon gar nichts mehr aus, denn ihre Nase war gegen Gerüche im höchsten Maße abgestumpft. Der Eimer mit den Fischen wurde nie leer, und abends musste das Fischgekröse mit den Händen vom kalten Boden aufgelesen und zu einem Misthaufen weit nahe am Tor gebracht werden. Es war eine stumpfe und stupide Arbeit, und so sollte es auch heute sein. Victoria von Belhaven war noch eine junge Frau, hatte alle Zähne und noch keine Gicht und keine Schwindsucht, wie sie gerade in ihrem Dorf oft vorkam. Aber dafür Träume.

    Dieter lehnte seine Armbrust an ein Fass und schielte schräg nach unten. „Von hier oben habe ich einen guten Ausblick", grunzte er schmierig. Die Männer von Belhaven waren einfache, gemütliche Charaktere, die sich auf einfache Wünsche im Leben beschränkten: nicht zu viel Arbeit, immer einen Schnaps in der Hand und eine willige Frau an ihrer Seite die das Oberhaupt der Familie als Geschenk der Natur anpries. Gerötete Augen, frühe Falten und vernarbte Arme von einer harten und grimmigen Arbeit auf See. Und der Charme eines Sägefisches…

    „Nur weiter so, zischte sie leise. „Ich hasse diesen Ort und alle, die hier leben. Vic redete häufig mit sich selbst. Sie hatte sich in ihrer eigenen Gesellschaft immer wohl gefühlt, doch sie antwortete sich selbst nur selten. Sie arbeitete weiter und weiter, alles mechanisch, während die linke Hand den Weißling packte und die Rechte mit drei Stichen des rostigen Messers das Gekröse entfernte. Der rechte Zeigefinger taub von dem kalten Blut, wenn sie etwas nachhalf. Wenn sie nicht Weißlinge entschuppte, dann schleppte sie Wasser. Monatelang schleppte sie Wasser vom Fluss herauf, immer zwei Eimer, Hunderte von Eimern am Tag, denn das Dorf verlangte Unmengen an Wasser zum Waschen, zum Weichen, zum Brühen, zum Färben, zum Kochen. Selbst im Sommer troffen ihre Kleider am Leib vor lauter Wassertragen, ihre Hände blutig und stinkend vom Fisch und dazu im Winter kalt und fast gefühllos. Es war eine mehr tierische als menschliche Existenz: keine Familie, keine Freunde, keine netten Worte, keine Feiern. Zum Schlafen sperrte man sie ein. Das Essen war miserabel, denn es waren nur die Reste. Sie war ein nützliches Haustier. Es war hart der Spatz von Belhaven zu sein.

    Doch es kommt der Zeitpunkt, wo selbst der dümmste Besitzer sich fragt, ob man das Haustier nicht auch anders nutzen kann: Vic war eine junge Frau mit dünner Taille, drahtigen Armen und einer herben Schönheit gesegnet. Sie brauchte langsam lange Binden, um ihre Brüste zu umwickeln, denn Begehrlichkeit entsteht bei Dingen, die man jeden Tag sieht. Die Männer verstanden langsam, aber sicher, dass sie kein Kind mehr war. Nur eine Frage der Zeit.

    Kalle war verheiratet, aber kein Kostverächter. Es kam der Punkt, wo ihn die Langeweile strafte, denn Inge war eben nur Inge – nach Jahren des Aushaltens vorhersehbar geworden, der Beischlaf mechanisch und so fad geworden, als würde man jeden Tag eine Praline essen. Irgendwann wollte Kalle etwas anderes…

    Kalle kam an den Fischstand heran. Stellte eine dampfenden Becher Tee hin, und Vic argwöhnte schon, dass es eine Art Belohnung war. Für was? Natürlich für den Marsch durch die gefährliche Heide, oder aber…

    Kalle berührte sie nicht gerade sanft am Gesäß und grinste fett, als sie zusammenzuckte. Wie alle Männer in Belhaven war auch er grob, stank nach Fusel und wischte sich mit dem Ärmel die Nase ab. Er grunzte schwer, drückte sich heran und fühlte tief.

    Endlich hatte sie den Mut sich umzudrehen, zwängte sich vorbei und schubste ihn weg. Atmete tief durch. Rührte sich nicht, starr vor Schreck, tat keine abwehrende Bewegung. Die Stimmung hatte sich verändert. Die Frauen würden nicht zur Hilfe kommen. Das taten sie nie.

    Kalle lachte und griff sie am Arm.

    An diesem Abend ballte sie die Faust, schwang sie nach vorn und wusste sofort wie durch eine Eingebung, wie sie sich bewegen musste. Ein Schlag, indem alles enthalten war, was einen guten Schlag ausmachte: Kraft, Schnelligkeit, Technik und eine erschreckende, unwiderstehliche Schönheit an roher Gewalt. Hart erwischten die Knöchel sein Kinn, ließen ihn taumeln und schließlich zusammenbrechen. Kalle riss die Augen auf, Speichel benetzten sein Kinn und wirr hing sein Haar im Gesicht. Die anderen Männer schwiegen verdutzt.

    Sie spürten nicht, dass die Frau den Kompass für ihr künftiges Leben gefunden hatte.

    Natürlich griffen sie an.

    Das Entengrün war mehr als nur ein Ort, wo man etwas essen konnte. Es war die wichtigste Schenke (und die einzige!) und wie überall in solch kleinen Dörfern eine Art Mittelpunkt der Gemeinschaft. Zum Abendbrot speiste allein der Dorfschulze, da die Männer es vorzogen daheim bei ihren Frauen zu sein und den Kindern den Weg ins Bett zu zeigen. Dann trudelten die Arbeiter langsam hierher, um zu essen, zu trinken und den neusten Klatsch zu hören. In vielerlei Hinsicht war es das Herz von Belhaven.

    Momentan machte das Herz Geräusche.

    In Belhaven war man Ärger gewohnt, und nach einem handfesten Streit mit Kalle, Dieter, Jop, Steve und Otmar war es zwar laut geworden, aber doch nicht zu laut. Das änderte sich daraufhin, als Kalles Frau Inge nebst Freundinnen schimpfend sich Vic vornahmen und ihr unschöne Dinge an den Kopf warfen. „Kriech wieder unter deinem Stein!, „Deinesgleichen bringt nichts anderes als Miesmacherei., „Eine Frau – die sich prügelt!? Unnatürlich, widerlich unnatürlich!". Schließlich verzogen sich die Frauen keifend und lärmend, und Vic setzte sich mit einem hochroten Kopf an ihren Stammplatz. Weit von den anderen entfernt. Es war kein schönes Leben.

    Grimmig kippte sie ihren Grog herunter, scharrte mit den Füßen unter ihrem Tisch und versank in Melancholie: wohin sollte ihr Weg sie führen? Egal, nur weit weg. Siebzehn Lenze und ein jedes war überschüttet mit stumpfsinniger Arbeit, einem Dorf, das sie nicht schätzte und einem Land, das von den Göttern verlassen schien. Mit ähnlichen Gedanken verbrachte sie fast jeden Abend hier, trank und sinnierte über Sinn und Unsinn, machte Pläne und verwarf sie wieder und ging schließlich übermüdet in ihre Schlafecke hinten zu den Pferden.

    Doch an diesem Abend…

    …passierte etwas Neues.

    In Belhaven war man Fremde nicht gewohnt, denn selten kamen Händler hierher - je nach Lage des Konflikts. Ein Hausierer mit einem Rucksack voller Bürsten hatte sich an den Tresen gesetzt, sein Gepäck abgestellt und sich langsam umgeschaut.

    Der Mann hatte ein freundliches Dutzendgesicht, weiche und warme Augen und schien immerzu zu lächeln. Schon fünf Minuten nach seiner Ankunft – in denen er jedem in der Schenke einer schweigenden Musterung unterzogen hatte, lächelte und jeden mit seinem Blick förmlich zu durchbohren schien – hatte er Vic beobachtet. Schließlich kam er herüber, setzte sich ihr Gegenüber und schaute sie an.

    „Du wirkst wie jemand, der schnell aus dieser Gegend verschwinden will. Seine Stimme war ein zischendes Flüstern, das trotzdem auf unangenehme Art amüsiert und freundlich klang. „Mögen dich die Leute etwa nicht?

    Vic wagte einen Blick in seine Augen und sah weder Tücke noch Hinterlist. Trotzdem nahm sie sich vor, vorsichtig zu sein. „Was weißt du schon?"

    „Es war nicht zu überhören, wie Belhaven zu seinem Spatz steht. So nennen sie dich doch, nicht wahr? Du solltest die Welt bereisen, dich in einer aufgeklärten Gegend versuchen. Wie wäre es mit einem Schnaps? Ich könnte versuchen dich aus deiner Lage zu befreien." Er wandte den Blick zum Wirt und bestellte zwei Schnäpse.

    „Ja, aber was in aller Welt könntest du…"

    „Oh, wir Krämer kommen viel herum. Wenn der Weg des Schicksals verworren scheint, kommt die Zeit der Furcht und nicht selten die Aufgabe. Kennst du die Bedeutung von Leuchttürmen?"

    Sie musterte ihn. „Glaubst du, dass ich dich begleite und Bürsten von Tür zu Tür verkaufe?"

    „Wohl nicht. Er lachte leise auf. „Wir können einander helfen. Du gibst mir etwas, ich gebe dir etwas. Alle gewinnen.

    Sie bedachte ihn mit einem schiefen Blick. „Ich mache so was nicht."

    „Ich bin nicht am Beischlaf interessiert, stellte er klar. „Du hast das Gefühl allein zu sein, am falschen Ort zur falschen Zeit, während die Welt da draußen Abenteurer sucht. Selbst ein tumber Tor kann dort zum Helden werden. Vertane Chancen können einem das Leben madig werden lassen. Ich brauche eine zielstrebige und intelligente Person die gewisse ...Abläufe in Gang setzt.

    „Die reinste Schmeichelei."

    „Du willst doch von der Dunkelküste fort, oder nicht?"

    Das Mädchen wartete ihre Antwort erst ab, als der Wirt das Gewünschte brachte. Schnell kippte sie ihren Schnaps herunter, klopfte auf dem Tisch und rülpste leise.

    „Ich bin Davo Tamoni, ein bescheidener Händler. Er ahmte lässig eine Verbeugung an. „Ich biete dir Überfluss für Körper und Seele. Ein großes, wahres Abenteuer quer durchs ganze Land. Das Schicksal weniger Auserwählter! Du musst mir nur zuhören. Schenke mir deine Zeit, um alles zu erklären. Und es wird sich für dich lohnen. Deine Wahl.

    „Warum ich, …Davo?"

    „Warum nicht, Spatz? Das Land ist im Chaos. Die Jahre vergehen, doch alles Gute braucht noch immer Verteidiger. Und du könntest diejenige sein, die dieses Land braucht!"

    Die Atmosphäre hatte sich geändert. Jetzt starrte sie ihn an, unsicher, ob er sie auf den Arm nehmen wollte oder zu denjenigen gehörte, die absonderliche Sachen dachten und den Bezug zu dieser Welt verloren hatten. Das mit der Welt etwas nicht stimmte, wusste jedes Kind, aber Vic lebte so weit entfernt vom Geschehen, das sie nicht mal sagen konnte, wer am Konflikt beteiligt war. Es gab Gerüchte, nicht mehr als Hörensagen, aber sie war keine Närrin: sie war nichts anderes als eine ungeliebte Person in einem weit abgelegenen Dorf und ohne jede Bildung. Und doch schien der Hausierer einen Plan zu haben…

    „Na gut! Wie sieht dein Plan aus?"

    Zufrieden lehnte sich Davo zurück und lächelte, während er von seinem Schnaps trank. „Erzähle mir von deinem Erlebnis mit dem Ritter. Damals, als du neun Lenze alt warst."

    Ihr stockte der Atem, und für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie Angst. Niemand weiß davon! Er strahlte eindeutig etwas Unangenehmes aus. Als hätte er alles gesehen und sie, die den größten Teil ihres Lebens an der Dunkelküste gelebt hatte, nichts. Und doch wollte sie raus; fort von hier und egal wohin. Am besten …sofort. Entgegen jeder Vernunft begann sie zu erzählen. „Der Ritter war… eine Frau, hauchte sie leise und fürchtete fast, er könne sie nicht verstehen, doch Davo schaute sie nur interessiert an, als würde er ihre Worte gut verstehen und ihre Gedanken gleich dazu. „Eine Frau in silberner Rüstung, groß und wunderschön, frei und stark. Sie hatte einen grauen Wallach und ein Breitschwert auf dem Rücken, und sie kam zu mir hin. Schenkte mir einen Apfel. Ich hatte niemanden, fügte sie leise hinzu und kam sich erbärmlich vor. Doch Davo lachte sie nicht aus.

    „Fahrende Ritter, erwiderte der Hausierer verstehend. „Herolde des Rechts. Ich verstehe deine Begeisterung.

    „Woher weißt du davon? Vielleicht sollte ich gehen…"

    „Überstürze nichts. Sanft hielt er sie zurück. „Du willst ein fahrender Ritter werden? Das kannst du, aber von hier aus… ich fürchte, ohne meine Hilfe wirst du hier versauern. Er lächelte entschuldigend, als täte ihm die Sache leid, griff in seinen Mantel und holte eine Karte hervor. Bevor er sie ausbreitete, blickte er sie prüfend aus seinen schwarzen Augen an. „Wenn du nicht willst, …"

    „Na schön."

    „Das ist die Dunkle Steppe, erklärte er und stellte beide leere Gläser auf die Karte, damit sie nicht wieder von allein zusammenrollte. Vic hatte noch nie eine Karte gesehen; geschweige ein Pergament, das voller Symbole und Namen war. Mit seinen spitz geschnittenen, sehr sauberen Fingernägeln zeigte er auf den äußersten Rand, wo mit blauer Tinte Wellen gemalt worden waren. „Belhaven ist das nördlichste Dorf an der Küste. So gut wie alle besiedelten Gebiete leiden unter den Auswirkungen des Krieges und haben mit den Nachwirkungen zu kämpfen. Neben den üblichen Banditen bekommst du es daher auch oftmals mit plündernden Bauern, desertierten oder missgelaunten und reizbaren Soldaten zu tun, denen das Gesetz nicht mehr viel bedeutet. Abseits der Ansiedlungen sieht es nicht viel besser aus. Je weiter du gen Süden wanderst, umso wilder wird das Niemandsland, das ihr die Heide nennt. Zahlreiche Kreaturen wie Bären, Wyvern, Greife, insektenartige Endriage oder ein einsamer Zyklop durchstreifen die unberührte Natur. Und was dich im Dunklen auflauert, willst du erst gar nicht wissen. Du musst zum Schwarzdornwald und triffst dort jemanden, der dir hilft. Das ist unser erster Halt. Die Hexe des Waldes ist eine alte Freundin von mir.

    „Ich paktiere doch nicht mit einer Hexe!"

    „Ohne sie wirst du es nicht durch den Schwarzdornwald schaffen, fürchte ich, warf er schnell ein und sah sie kritisch an. „Höre, Spatz, du hast nicht den Luxus dir deine Freunde auszusuchen. Der Weg zu Ruhm und Anerkennung ist hart und steinig. Die Hexe ist die Erste, der du dich unterordnen musst. Missachte ihre Weisungen und du bist tot. Deine Sippe wird mit dir untergehen.

    Schweigend sah sie ihn an.

    „Ich führe dich an den Orten, wo das Schicksal Dutzender von deinen Entscheidungen abhängt, wo Geschichte geschrieben wird und das Wohl der Masse höher wiegt als das Wohl Einzelner. Ich mache dich mit Personen bekannt, die dir helfen werden und noch eine wichtige Rolle spielen. Du wirst Freunde und Feinde finden, fremde Ort sehen und überall in Haven deine Spuren hinterlassen. Du bekommst dein angestammtes Recht, deinen Wappen und dein Land. Du wirst mit Barbaren hausen und mit Adeligen dinieren, du schmeckst das Blut deiner Feinde und den süßen Nektar der Auserwählten. Du wirst als alte Frau in den Armen deiner Sippe in Wohlstand und Zufriedenheit sterben. Ein Leben voller Streit, Kampf und Abenteuer. Jetzt noch gierst du nach Kampf und Ehre…, wenn du meinem Rat beherzigst, wirst du satt und zufrieden im Haus deiner Eltern leben."

    „Meiner… meiner Eltern!?" Wieder mal fühlte sie sich überrumpelt. Zu viele Informationen. Zuviel von allem. Langsam begann ihr den Kopf zu schwirren. „Was … kannst du mir über meine Eltern sagen?"

    „Verzeih mir, Spatz, aber das musst du selbst herausfinden. Suche in den Archiven in Haven, dort wo sich die Fahrenden Ritter treffen."

    „Kannst du mir nicht mehr sagen?"

    „Wenn auf dem Bucheinband das Ende stehen würde – würde dann noch jemand Bücher lesen?"

    „Wieso habe ich die ganze Zeit das Gefühl, das ich dir nicht trauen kann?"

    2.

    Mit seinem Rucksack auf dem Rücken stand sie da, während Davo den Wirt mit klingenden Münzen bezahlte. Alles ging so schnell. Zeit ihres Lebens hatte sie sich diesen Tag sehnlichst herbeigewünscht, doch jetzt schien er da und sie fühlte sich kein bisschen bereit. „Das kommt mir zwielichtig vor."

    „Verabschiede dich vom Wirt. Schließlich gehst du für immer fort."

    Brungolf, der gute alte Brungolf, der immer die gleiche fleckige Schürze trug, die Haare niemals zu waschen schien und immer wortkarg seine Gäste bediente. Jener große Mann starrte sie an, als würde er ihr zum ersten Mal gewahr. „Du gehst?"

    „Ja."

    „Dann geh." Sprachs, und wandte sich um.

    Für immer?

    „Ich… sage Auf Wiedersehen", half sie knapp aus, doch es schien nicht die gewünschte Reaktion hervorzurufen. Mit offenem Mund blickte sie dem Wirt nach, der nur mit den Schultern zuckte.

    Mit dem Bürstenhändler ging sie hinaus in die kalte Nacht und zum ersten Mal nahm sie alles in sich auf, als wolle sie sich jeden Stein, jede Pfütze und jedes schimmelige Dach sorgfältig einprägen. Es beginnt! dachte sie verzückt und auch ängstlich. Wieso fiel es ihr nur so schwer loszulassen? Dort die Stelle, wo Kalle sie zum ersten Mal unsittlich berührt hatte, dort der Stand wo sie monatelang Fische ausgeweidet hatte. Das klebrige Blut tagelang an den Händen, das Gekröse in einen Eimer werfend und der Rücken voller Schmerzen vom ewigen Stehen. Hier war sie als Kind von einem Hund gebissen worden, war weinend durch die Gassen gelaufen; nach einer Mutter rufend, die doch nie kam, um sie zu trösten.

    Dieser Ort hat mich krank gemacht, und doch kenne ich nichts anderes. Aber was ist, wenn es überall auch so ist?

    Als hätte er ihre Gedanken erraten, murmelte er: „Ist es nicht."

    Als sie an den Häusern vorbeigingen, gingen die Lichter dort eins nach dem anderen aus. Vic wollte am liebsten zu jedem gehen, sich ruhig verabschieden und ein Gefühl von Wehmut in ihren Augen erkennen. Als Zeichen, das ihnen ihr Spatz doch etwas bedeutete. Das ihr Verschwinden eine Lücke hinterlassen würde. Doch der grauenvolle Gedanke, dass die Bewohner ähnlich wie Brungolf reagieren würden, versetzte ihr Schmerzen. Sie hasste es, wenn man sie ignorierte. Aber das hier… war schlimmer.

    Plötzlich konnte sie es kaum erwarten endlich zu gehen.

    Sie kam an dem Stall vorbei, wo frierend und mager die Mähren standen und dösten. Im dritten Heuschober war noch deutlich die Kuhle im plattgedrückten Heu zu sehen, und nun überkam sie wirklich ein Gefühl zwischen Wehmut und Heimweh. Sie kniete sich hin und zog aus einer Nische eine handgefertigte Puppe hervor: ein dürres, verdrecktes Püppchen ganz und gar aus Stroh geflochten, das fast gänzlich in ihrer schwieligen Faust verschwand. Ein persönlicher Schatz, vielleicht sogar ihr wertvollster Besitz und sie steckte es ein. Das Gefühl der kratzigen Puppe auf ihrer Haut machte es ein bisschen besser.

    Davo stand abseits davon und zog es vor zu schweigen.

    Am Tor angekommen waren alle Wächter vor Ort; alle, außer Kalle, der sich bestimmt bei Inge sein Veilchen versorgen ließ. Sie blickte in die Gesichter der groben Männer, die ihr seid, Erblühen ihrer Jugend nachgestellt hatten. Sie kannte ihre klebrigen Gedanken in- und auswendig und war nur froh, dass dem niemals Taten gefolgt waren. Gerne hätte sie ihnen allen giftige, schlagfertige Sätze entgegengeschleudert, doch der passende Moment verstrich und auch hier ging das Tor widerspruchslos auf und entließ die Reisenden in die Nacht.

    Den Bewohnern von Belhaven schien es gleichgültig.

    Das war es. Ich bin fort. Für immer.

    Das Tor schloss sich mit einem Krachen.

    Erst da wurde ihr das ganze Ausmaß der Situation bewusst und die Auswirkungen dessen, was passiert war. Vic befiel ein schleichendes Gefühl der Panik. „Vielleicht… sollte ich es nicht tun."

    Davo wandte sich um. „Wenn du jetzt nicht gehst, wirst du morgen auch nicht gehen. Oder übermorgen. Du wirst bleiben. Und nichts wird sich ändern. Er trat näher heran, holte aus seinem Mantel eine kleine Flasche hervor, entkorkte sie mit seinen Zähnen und nahm einen Schluck. Reichte sie weiter. „Es beginnt, kleiner Spatz.

    Sie nahm die Flasche und nahm einen tiefen Schluck von dem rauchig öligen Gesöff. Sie seufzte, warf noch einen letzten Blick zurück und nickte dann mit dem Kopf in Richtung Heide. „Gehen wir, ehe wir erfrieren."

    Sie hielten sich in der Sicherheit der Handelsstraße auf, durchquerten die Heide und kamen gut voran. Der Krämer ging, ohne ein Wort zu sagen vorneweg. Mit einem Mal wurde Vic klar, dass sie nachts draußen umherwanderten, während Nachttiere auf der Jagd waren, und das sagte sie auch. „Man wird uns in Ruhe lassen", war sein einziger Kommentar und dabei drehte er sich nicht um, sondern bestimmte das Tempo. Die Nacht war friedlich, der Mond nur eine blankpolierte Scheibe, die wegen der Wolken nur zu erahnen war und die Dunkelheit nichts als eine Decke die sich schweigend über alles legte. Nur zu gerne hätte sie ihn alles gefragt: über die südlichen Landen und ihre Feudalherrscher, über die Bewohner von Haven und die Fahrenden Ritter, über ihre Eltern und ihr Erbe. Dutzende von Fragen, die einfach hinauswollten, doch sie sprachen kein einziges Wort miteinander. Zu frisch war die Furcht durch zu viel Geräusche weitaus Schlimmeres als einen Genfling heraufzubeschwören – also schwieg sie lieber und verschob die Fragen auf später. Das Wandern machte ihr nichts aus und die Meilen flogen so dahin, als wären es den Beinen egal, dass sie ohne Schlaf und ohne Pause gehen könnte. Ab und an nickte sie ein, wachte schreckhaft wieder auf, nur um festzustellen, dass sie im Halbschlaf einfach weitergegangen war. Der Weg und ihr Begleiter waren noch immer da und kurz hatte sie das Gefühl durch einen unheimlichen Traum zu wandern, der nie enden würde: auf der Suche nach etwas, was ihr der Teufel versprochen hatte, nur um auf ewig zu wandern und doch nie anzukommen. Kurz dachte sie zwischen den Phasen aus Wachen und Schlafen darüber nach, erinnerte sich an den komisch schmeckenden Fusel und ahnte, dass er ihr eine Art Zaubertrank gegeben hatte – so musste es sein. Das gefiel ihr nicht, und sie nahm sich vor ihn darauf anzusprechen – nur um im nächsten Moment wieder in eine Art Halbschlaf zu verfallen.

    Irgendwann wachte sie auf und stellte mit Entsetzen fest, dass sie auf dem Bauch lag. Sie öffnete die Augen und sah einen Käfer, der vor ihr auf der Erde krabbelte, sie roch frischen Lavendel, hört das Zwitschern der Vögel (Himmel, wie lange war das her!) und in der Ferne brutzelte etwas. Mit einem Ruck erhob sie sich.

    Dort saß er.

    Davo stocherte in eine Pfanne herum, saß mit überkreuzten Beinen vor einem kleinen Lagerfeuer und wirkte kein bisschen müde oder geschafft. Ein kleines Feuer brachte den Speck zum Brutzeln. Auf einer Decke lagen Brot, Trauben, Oliven sowie Butter der fett in der Sonne glänzte. Sonne.

    Herrlich warme Strahlen, die ihr bleiches Gesicht bedeckten und sie glauben ließen, dass sie im nächsten Moment fast erblinden musste. Sie stöhnte auf und rieb sich die Augen. Davos Kopf wandte sich ihr zu. „Aufgewacht, die Sonne lacht. Wir haben ein gutes Stück des Weges hinter uns gebracht."

    Sie waren nicht mehr an der Dunkelküste.

    Aber außer Gefahr auch nicht, denn hinter Davos Kopf bemerkte sie einen Hintergrund, der sich für immer in ihr Gedächtnis einbrennen würde.

    Eine so trostlose und entsetzliche Landschaft hatte sie noch nicht gesehen. Feuersbrünste hatten hier gewütet und verkohlten Fels und abgestorbene Wälder zurückgelassen. Keine Blume wuchs an diesem Ort, kein Vogel sang. Geräusche hallten verzehrt und um ein Vielfaches verstärkt durch gruftartige Täler wie die Seufzer der Erde selbst. In der Ferne erkannte sie helle Punkte und sie begriff, dass es eine Reiterschar war, die durch die Ebene galoppierte. Der Tross schwenkte herum und griff eine Gruppe an, und sofort mischten sich die hellen und dunklen Flecken. Vic verstand, dass dort Krieg herrschte und dass der Tod auf alle lauerte.

    Der Konflikt.

    Davo schnitt das Brot in gleich große Teile. „Selten habe ich so ausgedehnte Landschaften und einen solchen Himmel in derart ungewöhnlichen Farben gesehen. Nordlinge sind, er steckte sich eine Olive in den Mund und zerkaute sie, bis er weitersprach, „verschlossen, wortkarg. Die Straßen wimmeln von Banditen. Aber daran ist wohl der Konflikt schuld.

    „Warum hilfst du mir?"

    „Ich brauche einen Verbündeten. Eine risikobereite Person. Du bist nichts weiter als eine Schachfigur, die vom Tisch gefallen ist. Und ich stelle dich zurück. Greif ruhig zu. An der frischen Luft schmeckt es köstlich. Oh, und keine Sorge wegen denen. Sie haben anderes zu tun." Er nickte unbekümmert Richtung Osten, und etwas in ihr glaubte ihm jedes einzelne Wort.

    Sie starrte auf das Mahl und musste an das Gesöff in der Flasche denken. „Wenn das ein Trick ist, …"

    „Du hungerst nach Abenteuer. Wie jeder junge Mensch willst du dich beweisen. Das ist dein Weg. Oh, und ich weiß, dass du mir am liebsten die Zähne rausschlagen willst. Gegen dein Temperament müssen wir etwas tun, aber nicht jetzt."

    Mühsam um Kontrolle kämpfend blickte sie sich um. Dort im Norden lag irgendwo an der Küste ihr vertrautes, zugleich verhasstes Belhaven; dort wo eine undurchdringliche Wolkendecke die gesamte Küste wie ein Leichentuch verhüllte. Im Westen hingegen blühte die Heide in ihren charakteristischen Farben: grün und Lavendelfarben. Es wirkte friedlich und entspannend. Im Süden fingen Bäume, ja ganze Wälder an und in der Ferne thronte eine beeindruckende Bergkette – das Ziel ihrer Reise. Reise, echote sie stumm und verstand augenblicklich, dass sie noch nie so weit mit den Füßen sich von zuhause entfernt hatte. Und im Osten…

    Nur nicht genauer hinschauen, nicht zu den verkohlten Leichen, nicht in die Ferne wo noch immer Scharmützel stattfanden, Bruder gegen Bruder, Magier gegen Soldat. Nicht sehen, was aus einem starken, unabhängigen Land geworden war. Ein grotesker Totenacker, auf dem niemand seine Ruhe fand, eine furchtbare Fleischhalle, übersät mit abgenagten Skeletten, verwesenden Körpern, abgerissenen Leichenteilen. Und mit einem Mal wurde ihr eine mögliche Zukunft aufgezeigt, und sie musste sich setzen: der Tod auf dem Schlachtfeld war weder ruhmreich noch bedeutungsvoll. „Warum hilfst du mir?"

    „Ich liebe ein gutes Ende. Er lächelte sanft und bedeutete ihr sich von den Oliven zu nehmen. „Ich möchte dir erzählen von einem sehr üblen Menschen auf einem Thron. Von einem verwöhnten Adeligen, der sich von Schmerz und Leid anderer ernährt. Ehemals war dieser Landstrich voller Apfelbäume und weiten Flächen voller Grün, wo fette Kühe grasten. Jetzt sind die Häuser zerstritten, alte Verträge gebrochen und Bestien streifen durch die Lande. Niemand kommt die Leichen fortschaffen, die ständigen magischen Attacken wirbeln das Gefüge durcheinander und wilde Konjunktionskreaturen stürzen sich auf die Unschuldigen. Seuchen entstehen, und Bruder gegen Bruder bekämpfen einander. Schon lange hat der König sich aus der Sache zurückgezogen; wie gelangweilte Kinder es tun, wenn das Spielzeug langsam fad wird.

    „Schrecklich. Aber du erzählst es mir nicht ohne Grund, wie?"

    „Du ziehst gegen den König zu Felde."

    Die Frau gab einen heiseren Schrei von sich – unsicher ob sie lachen oder verzweifeln sollte. „Ich… ich habe nichts damit zu schaffen."

    „Ich glaube, dass dir nicht klar ist, dass König Ludwig für deine missliche Lage verantwortlich ist. Der König missachtet die Ratschläge seiner Berater und verwickelt aus Eigennutz und kindlichem Verständnis die Ländereien in einen wütenden Krieg, den du von hier gut sehen kannst. Täglich sterben hier Soldaten und Magier in einem sinnlosen Kampf – so auch deine Eltern, die nichts mit der Sache zu tun hatten. Ja, solange währt der Konflikt schon und die ehemals gleichgestellten Gegner lösten sich auf, teilten sich in religiöse und politische Gruppen, die nur selten zusammen das große Ganze im Blick haben. Das ist ein Krieg, den niemand mehr gewinnen kann und seit fast fünfzehn Jahren außer Kontrolle geraten ist. Wie viele Mütter müssen noch weinen? Davo redete in einer Ruhe, als würde er einem Kaufmann eine simple Sache wie das Wetter in der Ferne erklären. Er wirkte kühl und abgeklärt, schob sich eine Scheibe Brot in den Mund und blickte zur grauenhaften Ebene, als hätte er nichts anderes gesehen; oder mehr noch: als betreffe ihn das alles nicht. „Wie viele Kinder warten jetzt auf ihre Väter und Brüder, die niemals durch die Haustür kommen?

    „Es ist klar, dass du ihn nicht magst. Was hat er dir getan?"

    „Wir hatten einen Pakt. Plötzlich änderte sich seine Haltung. Angebissenes Brot wurde achtlos fortgeworfen, die Züge verhärteten sich, als hätte er sich an eine lang zurückliegende Schmach erinnert, deren Wunde noch immer empfindlich schmerzte. „Einen Pakt, unter dem ich meine Talente und Verbindungen spielen ließ, um ihm zu verschaffen, was sich der König so sehnlichst wünschte. Doch am Zahltag drückte er sich vor seinen Verpflichtungen; mehr noch, er betrog mich und ließ mich hinauswerfen. Das lasse ich mir nicht gefallen. Er sprach wie gewohnt ruhig, doch in seinen Augen flimmerte es gefährlich. Sie ahnte, dass sein Zorn schrecklich köchelte. Das war es also.

    „Du", stieß sie leise hervor, „du versprichst mir, dass du mir hilfst. Du träufelst mir Honig ins Ohr, redest von meiner Familie und einem Wappen. Und jetzt zeigst du auf ein Schlachtfeld und sagst, dass ich kämpfen soll!? Ich bin kein Ritter!"

    „Victoria von Belhaven… woher weiß ein Adler, das er fliegen kann, erwiderte er plötzlich gutgelaunt. „Du hast zweifellos begriffen, dass du mehr kannst als nur Fische zu entschuppen. Ich biete dir die Wahl; einen Ausweg von der Dunkelküste. Du hast zweifellos Talent und ja, eine Ritterin bist du noch nicht…

    „Was du nicht sagst…"

    „Nimm diese Chance an, oder du wirst zurückgehen. Wie viele Freunde hast du in Belhaven? Wie lange willst du noch beim Alten Svenson Fische bürsten? Wenn du zurückgehst, bist du verdammt in der Bedeutungslosigkeit. Ein Schicksal, grausamer als der Tod, gepeinigt von der grausamsten Frage des Universums: Was wäre, wenn? Eine alte, gebrochene Frau voller Bedauern. Oder… du folgst mir."

    In der Ferne grollte es dumpf.

    „Schöne Reden."

    „Danke. Ich habe meine Momente."

    Da war es wieder. Diese leichte Überheblichkeit, dieses sorglose Getue eines Händlers, auf das bestimmt jeder hereinfallen konnte. Und da war noch mehr: Vic war sich plötzlich sicher mit einem Dämon zu reisen, zumindest einem Wahnsinnigen, der die Welt um sich nur als Spielfläche betrachtete. Einer Person, die aus niederen Gründen lockte und für sich einspannte. Er ist womöglich kein Mensch.

    „Verpiss dich, zischte sie heiser und wollte nichts anderes als wieder zu gehen. Einfach weiter, bis die Füße sie nicht mehr trugen. Egal, wohin. „Ich gehe zurück. Ich sterbe nicht für einen sinnlosen Krieg...

    „Komm mit mir, und ich mache aus dir einen fahrenden Ritter, führe dich von einem Abenteuer zum Nächsten und zeige dir Wunder über Wunder. Und

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1