Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Diamanten des Peruaners: Roman
Die Diamanten des Peruaners: Roman
Die Diamanten des Peruaners: Roman
eBook362 Seiten4 Stunden

Die Diamanten des Peruaners: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Benno wird von seinem hartherzigen Onkel, einem Hamburger Senator, wegen eines geringfügigen Vergehens nach Rio verbannt, flüchtet dort und schließt sich einem um sein Vermögen gebrachten Kunstreiter bei der Suche nach dem gestohlenen Schatz an. Was Benno findet, ist etwas ganz anderes …

Coverbild: Macrovector / Shutterstock.com

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum25. Apr. 2019
ISBN9783730913147
Die Diamanten des Peruaners: Roman

Mehr von Sophie Wörishöffer lesen

Ähnlich wie Die Diamanten des Peruaners

Ähnliche E-Books

Action- & Abenteuerliteratur für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Die Diamanten des Peruaners

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Diamanten des Peruaners - Sophie Wörishöffer

    ZUM BUCH

    Benno wird von seinem hartherzigen Onkel, einem Hamburger Senator, wegen eines geringfügigen Vergehens nach Rio verbannt, flüchtet dort und schließt sich einem um sein Vermögen gebrachten Kunstreiter bei der Suche nach dem gestohlenen Schatz an.

    Was Benno findet, ist etwas ganz anderes …

    Coverbild: Macrovector / Shutterstock.com

    EINS

    Es war im ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts. Über die grünbelaubten Wälle der alten Hansestadt Hamburg schlenderte eine Anzahl halberwachsener Knaben, die sämtlich einer der Oberklassen des Gymnasiums anzugehören schienen. Einer aus der Schar überragte um Kopfeslänge seine jugendlichen Genossen; seine blauen Augen lachten lustig in die Welt hinein, das rosige Gesicht zeigte Kraft und liebenswürdige Offenheit zugleich. Das war Benno Zurheiden, der Neffe des gleichnamigen Großkaufmanns und Senators, in dessen Haus der Knabe erzogen wurde.

    Jetzt blieb er plötzlich horchend stehen. „Auf dem Heiligengeistfelde geht irgendetwas vor, rief er. „Ich sehe Laternen und höre eine Stimme, die fortwährend zu befehlen scheint.

    „Auch Hammerschläge", setzte ein anderer hinzu.

    „Und da wieherte eben ein Pferd."

    „Wenn es Kunstreiter wären!"

    Das Wort elektrisierte alle. Die Knaben stürmten hinaus und sahen dann rechts hinter dem breiten Stadtgraben eine Szene, die ihr lebhaftestes Interesse erregte. Gelb und blau angestrichene, mit Fenstern und Schornsteinen versehene Wagen standen im Hintergrunde einer hölzernen, noch im Bau begriffenen kreisrunden Bude, die jedenfalls als Zirkus dienen sollte; mehrere Pferde, ein Esel und allerlei sonstige Vierfüßler waren an Pflöcke gebunden, während einige Affen, in rote Lappen gehüllt, trübselig auf dem Deckel einer großen Kiste hockten und offenbar den milden Sommerabend für ihre Neigungen noch zu kühl fanden. Kinder tummelten sich zwischen den Wagen im Gras; mehrere Männer, mit Beilen und Hämmern versehen, arbeiteten eifrig an den Wänden der Bretterbude, die bis zum nächsten Abend nicht allein fix und fertig dastehen, sondern auch, mit allerlei fadenscheinigem Aufputz behangen, als Schauplatz der Eröffnungs-Galavorstellung dienen sollte.

    Bennos Blicke überflogen neugierig die von einigen Blechlaternen ziemlich ungenügend beleuchtete Szene. „Prachtvolle Pferde!, flüsterte er. „Ach, wenn der Rappe mein Eigentum wäre!

    Benno deutete auf den angepflockten Esel. „Der Graue ist jedenfalls darauf abgerichtet, seinen Reiter, sobald er ein bestimmtes Zeichen erhält, in den Sand zu werfen – ich möchte einmal die Sache probieren."

    Nun näherten sich alle Knaben den arbeitenden Männern, besonders dem, der als Anführer aller Übrigen den Bau zu leiten schien.

    „Guten Abend, meine jungen Herren!, grüßte er, die Pfeife sekundenlang aus dem Munde nehmend. „Wollen Sie sich die Pferde einmal ansehen? Kommen doch morgen sämtlich zur ersten Vorstellung, he?

    „Das wissen wir noch nicht, versetzte Benno. „Was ist es denn mit dem Esel, Herr Direktor, macht er Kunststücke?

    Der Mann mit dem pechschwarzen Haar und der südlich-braunen Gesichtsfarbe schmunzelte: „Kunststücke? Der da? Ich glaube nicht. Es ist der eigensinnigste und bösartigste Esel, den man jemals sah; noch nie gelang es einem Reiter, sich auf seinem Rücken im Sattel zu halten."

    Benno erklärte: „Ich möchte die Sache doch einmal probieren!"

    „Sehr gern, lachte der fahrende Gaukler. „Geben Sie ein Trinkgeld, junger Herr?

    Benno reichte dem Manne vier Schillinge. „Was zahlen Sie, Herr Direktor, wenn ich Ihren Esel auf und ab reite, ohne in den Sand gesetzt zu werden?"

    „Tausend Taler!, versetzte mit vieler Würde der braune Geselle. „Sie können meine Ankündigung täglich auf allen Zetteln lesen.

    „Holen Sie gefälligst das Geld aus dem Kasten, Herr!"

    Die Kunstreiter lachten; der Direktor sattelte den Esel und brachte ihn herbei, dann nahm er aus der Kiste eine kurze Lederpeitsche, mit der er herausfordernd klatschte. „So, Rigolo, mein Tierchen, nun sei einmal recht liebenswürdig gegen den hübschen, jungen Herrn, recht sanft und nachgiebig, hörst du!"

    Moritz und die übrigen Knaben flüsterten miteinander. „Nimm dich in acht, Benno!, sagte einer. „Das Tier sieht böse aus.

    „Lammfromm ist es, ein abgetriebener, schlecht gefütterter Bursche. Passt auf, wie ich ihn regieren will!"

    Er gab das Zeichen, und Rigolo setzte sich in langsamen Trab. Der Graue schien harmlos wie ein zahmes Hündchen zu sein.

    Aber Benno ließ sich keineswegs täuschen, er beobachtete auf das Schärfste jede Miene und jede Bewegung des Direktors, der sich nach den Schritten des Esels im Kreise drehte und fortwährend mit der Peitsche dieselbe Figur beschrieb, ein leichtes Heben und Senken durch die Luft. Der Gaukler wollte einen glänzenden Sieg feiern, daher ließ er dem Knaben Zeit, sich für sicher zu halten. Und jetzt! Wie zufällig, nur sekundenlang hob sich die Peitsche kerzengerade empor, im gleichen Augenblick stieg mit plötzlichem Ruck, der Esel, sodass Benno unfehlbar in den Sand gepurzelt wäre, wenn er sich nicht auf diesen Fall vorbereitet hätte. Wie eiserne Schrauben pressten seine Muskeln die Weichen des Tieres; es war genötigt, sich zu seiner eigenen Rettung schleunigst wieder auf alle vier Füße zu stellen.

    Der Direktor verzog das Gesicht. „Sie haben einen famosen Sitz, sagte er. „Am Ende bleibt es Ihnen vorbehalten, den eigensinnigen Rigolo doch noch zu zähmen.

    Benno nickte, er klopfte den Hals des Esels. „Möglich, antwortete er kurz. „Weiter, mein gutes Tier!

    Die Peitsche des Direktors hob und senkte sich schneller, dann stieg sie urplötzlich wieder in die Luft empor und das Spiel von vorhin geschah zum zweiten Mal. Rigolo konnte weder seinen Reiter absetzen noch sich selbst zu Boden werfen.

    Das Tier zitterte jetzt am ganzen Körper, es schlich zu seinem Pflock und war zu keinem weiteren Schritt mehr zu bewegen.

    Benno sprang zu Boden. „Jetzt meinen Lohn, Herr Direktor!, rief er mit lachender Stimme. „Sie sind alle Zeugen, dass mich Rigolo nicht abwerfen konnte.

    Der Mann mit der Peitsche war blass bis in die Lippen. „Mein Zirkus ist noch nicht eröffnet, stammelte er. „Es war also mit den tausend Talern –

    „Nur ein Scherz natürlich. Aber dennoch beanspruche ich einen Lohn, Herr Direktor!"

    „Welchen, junger Herr?"

    „Sie sollen mir versprechen, den armen Rigolo nicht zu schlagen!"

    Ein Blitz brach aus den Augen des braunen Gesellen, um seine Lippen schwebte ein zufriedenes Lächeln. „Und das ist alles?", rief er.

    „Das ist alles!"

    „Topp! Schlagen Sie ein – ich mag Sie leiden, junger Herr! Welch einen famosen Kunstreiter würden Sie abgeben."

    Benno lachte. „Viel Ehre!", sagte er gutgelaunt.

    Während die jugendliche Schar jetzt nach verschiedenen Richtungen auseinander ging, hatte Benno im Sturmschritt die innere Stadt durchmessen und nach einer Viertelstunde den Alten Wandrahmen erreicht. Hier lag noch dunkler und schwärzer in der umgebenden Finsternis das Haus seines Onkels, das hohe alte Haus von holländischer, den massiven Giebel der Straße zukehrender Bauart. Der Messingklopfer an der eisenbeschlagenen Doppeltür trug einen Drachenkopf, und die Scheiben der Fenster waren in Blei gefasst.

    Benno schlüpfte in den schmalen, dunklen Gang, der das Zurheidensche Erbe von dem Nachbarhause trennte; geräuschlos schlich er bis auf den Hof und klopfte hier leise an ein beleuchtetes Kellerfenster. „Ich bin es, lass mich hinein."

    Das Licht verschwand und bald danach wurde die Hoftür vorsichtig geöffnet. Ein älterer Mann begrüßte freundlich den Knaben, dem er liebkosend die Schulter klopfte. Na, wo bist du denn heute gewesen, mein Junge? Du siehst mir ja gar nicht so recht vergnügt aus."

    Benno seufzte. „Harms, sagte er, „ich möchte gern noch ein halbes Stündchen mit dir plaudern.

    „Nun, dann komm nur mit; die alte Margarete ist doch noch nicht zu Hause. Was fehlt dir denn aber, Junge?"

    „Gar nichts. Ich dachte nur so zufällig heute Abend an allerlei Dinge, fremde und eigene. Erzähle mir ein wenig von meinem verstorbenen Vater!"

    Der Diener schien zu erschrecken, er nahm die Pfeife aus dem Munde und sah sinnend vor sich hin. „Von deinem Vater, Benno? Ach, das war ein gar lieber Herr."

    „Das sagtest du mir schon häufig, Harms, die Großmutter hat mir auch zuweilen sein Porträt gezeigt und jedes Mal dabei sehr geweint, aber Näheres, Genaueres konnte ich weder von ihr noch von dir erfahren. Es gibt mit Bezug auf meinen Vater irgendetwas, das verschwiegen oder bemäntelt werden muss."

    Harms schüttelte den Kopf. „Ganz und gar nicht. Damit du dir nicht allerlei Geschichten zusammengrübelst und am Ende deinen armen Vater für einen schlechten Menschen hältst, will ich dir lieber reinen Wein einschenken. Seit drei Jahrhunderten haben die Zurheidens hier in Hamburg fleißig auf dem Kontorbock gesessen und gerechnet und geschrieben, dass ihnen die Finger knackten. ‚Zurheiden und Söhne‘ hieß die Firma, alle waren Kaufleute und Schiffsreeder, bis dein Vater kam, der hatte andere Absichten, und das war sein Verbrechen. Er konnte kein Geld festhalten, er liebte den Sonnenschein und das frohe Lachen, während sein Bruder nur an den Gewinn dachte, an Zahlen, Zahlen und immer wieder Zahlen. Da vertrugen sich die beiden denn sehr schlecht, das kannst du wohl denken, sie sind auch schließlich in Unfrieden auseinander gegangen."

    „Mein Vater starb also nicht hier im Hause?"

    Harms sah wie zufällig zur Seite. „Nein", sagte er einsilbig.

    „Aber was war er dann, was betrieb er?"

    Der Diener zuckte die Achseln. „Hat hier studiert, dort studiert – sehr viel Geld verbraucht."

    Benno fuhr mit der Hand über die Stirn. „Harms, fragte er, „war mein Vater ein Verschwender?

    Der Alte nickte. „Das war er, Junge. Ein guter, herrlicher Mensch, ein treuer Freund und durch und durch ehrenwerter Charakter, aber das Geld schien zwischen seinen Fingern förmlich zu schmelzen. Basta. Nun geh hinauf und sieh nach an der gewohnten Stelle, ich habe dir da eine Hand voll Pflaumen versteckt."

    Benno erhob sich. „Du meinst, ich soll gar nicht erst ins Wohnzimmer gehen, Harms?"

    Der Alte schüttelte den Kopf. „Nein, mein Lämmchen, nein, ich glaube, das Wetterglas steht heute auf Sturm."

    „Meinetwegen?", fragte unruhig der Knabe.

    „Das wohl nicht, aber die beiden alten Leute scheinen aufgeregt, sie wechseln allerlei scharfe Redensarten; weshalb wolltest du dich also hineinmischen?"

    „Sicherlich nicht. Gute Nacht, Harms!"

    Der Knabe stieg die Stufen bis zur ersten Etage empor und blieb plötzlich vor der Tür des Wohnzimmers stehen. Er hatte gehört, dass drinnen jemand seinen Namen aussprach, der Senator selbst sogar.

    „Weshalb weinen Sie, Mama?, hatte der Senator gesagt. „Ist es Bennos wegen?

    Und dann antwortete eine leise, kaum verständliche Frauenstimme: „Weshalb sollte ich Bennos wegen weinen, Johannes? Ist er nicht ein guter, prächtiger Junge? Aber du liebst ihn nicht, du verfolgst noch in dem schuldlosen Kinde das Andenken des Vaters, den deine Härte, deine Unduldsamkeit in den Tod getrieben hat."

    Der Senator lachte spöttisch. „Vorwürfe?, sagte er in scharfem Tone. „Wahrhaftig, man könnte mit größerem Rechte behaupten, dass das Andenken des Verstorbenen bis zu dieser Stunde die Gegenwart mit allerlei Verdrießlichkeiten erfüllt. Und nun weiß ich denn auch schon, weshalb Sie weinen –es ist heute Theodors Geburtstag, nicht wahr, Mama?

    Ein Schluchzen erklang drinnen im Zimmer.

    Der Senator ging immer auf und ab. „Ich liebe ihn nicht, den Jungen, begann er endlich wieder in demselben scharfen, unfreundlichen Tone. „Ich liebe ihn nicht, das sagen Sie mir, als sei es ein Unrecht, eine Versündigung sogar. Natürlich, wenn man eine Anklage schmieden will, so ist jedes Mittel das richtige. Aber wie lange meine Geduld diesen Zuständen gegenüber noch andauert, das weiß ich nicht. Gestern begegnete mir Bennos Klassenlehrer, der –

    „Der dir doch von dem Knaben nur Gutes gesagt haben kann!"

    „Das weiß ich noch nicht, Mama. Wenigstens in meinem Sinne nicht. Benno lernt spielend seine Aufgaben, er ist der Primus der Klasse, er bleibt nie eine Antwort schuldig, aber er neigt zum Leichtsinn. Jede Torheit seiner Genossen hat er angestiftet, jeder dumme Streich ist ihm willkommen. Einen Menschen, der so zum Leichtsinn neigt, kann ich im Kontor nicht brauchen. Ich denke, den Jungen in fremde Hände zu geben."

    Ein erstickter, unverständlicher Laut klang von den Lippen der alten Frau.

    „Sie sollten sich nicht so unnötig aufregen, Mama! Gute Nacht jetzt, ich schicke Ihnen das Mädchen."

    Er ging zur Klingel, und Benno huschte geräuschlos die Treppen hinauf in sein eigenes Zimmer. In seinem Kopfe wirbelten die Eindrücke dieses Abends bunt durcheinander. Immer wieder dachte er an seinen Vater, an die bittere Verachtung, mit welcher der Senator von ihm gesprochen, und an den tiefen Groll, der offenbar seine Seele erfüllte. Wieder sagte sich Benno, dass hier ein Geheimnis, ein böses, trauriges Geheimnis zugrunde liegen müsse …

    In der Klasse wurde am folgenden Morgen nur von den Kunstreitern gesprochen; jeder der Knaben wollte den Zirkus besuchen, beinahe in jedem vornehmen Hause der Stadt war Ramiro selbst gewesen und hatte mit größter Zungengeläufigkeit seine Eintrittskarten zum Verkauf angeboten. Wieder wurde Benno gefragt: „Nimmt denn dein Onkel keine?"

    Und der Knabe schüttelte den Kopf. „Einen Menschen wie den Kunstreiter lässt er überhaupt nicht vor."

    „Du gehst mit uns!"

    Benno schüttelte den Kopf. „Nein! Das ist unmöglich."

    Dennoch wuchs, je weiter der Tag vorrückte, die Sehnsucht nach dem Anblick der Vorstellung. Diese schönen Pferde, wie sie wohl dahinfliegen würden unter dem rauschenden Applaus der Menge!

    Pferde waren Bennos große Leidenschaft.

    Ich kann doch immerhin nach St. Pauli gehen, dachte er. Weshalb nicht? Es ist mir nie verboten worden.

    Dann verließ er geräuschlos das Haus.

    Zahlreiche Jungen hingen an den Pfählen des Zirkus und versuchten einen Einblick in die Wunder des umschlossenen Hofes zu erlangen, bis sich hinter den Brettern plötzlich ein mit einer riesigen Peitsche bewaffneter Arm drohend erhob.

    Der Arm mit der Peitsche war mit fleischfarbenem Trikot bekleidet, und als zufällig sein Eigentümer einmal über die Planke sah, da begegneten Bennos und Señor Ramiros Blicke einander aus nächster Nähe.

    Der Direktor grüßte. „Hier nebenan ist die Seitenpforte, junger Herr! Bitte, treten Sie näher."

    Bennos Herz schlug schneller. Er sollte also mehr sehen, als alle, die später an der Kasse bezahlen würden – die Kunstleistungen der Truppe und ihr privaten Leben zwischen den bunten Wagen, den Packkisten und den Tieren.

    Er müsste kein geweckter und lebensfroher Junge von sechzehn Jahren gewesen sein, wenn ihn dieser Gedanke nicht unwiderstehlich angezogen hätte. Die Mütze abnehmend, fragte er: „Wünschen Sie mich zu sprechen, Herr Direktor?"

    „Ganz notwendig sogar. Bitte!"

    Die Pforte wurde von innen geöffnet.

    Ramiro drückte ihm kräftig die Hand. „Willkommen!, sagte er. „Wie heißen Sie eigentlich?

    Benno nannte seinen Namen. „Was wollten Sie mir mitteilen, Herr Direktor?", fragte er.

    „Etwas sehr Wichtiges. Kommen Sie aber zunächst mit mir, ich möchte Sie der Frau Direktorin und meiner Tochter vorstellen."

    Benno folgte dem vorausschreitenden Manne und begrüßte höflich eine Gesellschaft von Personen, die da in gar sonderbarer Weise zwischen den Wagen ihr Wesen trieb.

    Bei der milden Wärme des Abends vollzog sich das gesamte Leben und Treiben des fahrenden Völkchens draußen im Freien. Da sah man Schlangenmenschen in schuppigem Gewande, den Athleten in schäbigem Trikot mit noch schäbigerem Samtputz und den weiß angestrichenen Hanswurst mit Zipfelkappe. Ein Mädchen im Gewande einer Spanierin schälte eifrig Kartoffeln, und eine Riesendame in Purpurseide – sechs Fuß hoch – rührte in dem über einem qualmenden Holzfeuer aufgehängten Kessel. Dazwischen spielten Kinder; gelehrte Ziegen mit vergoldeten Hornspitzen weideten friedlich das zertretene Gras, während ihr Genosse, der buchstabierende Pudel, in einer Ecke lag und einem längst abgenagten Knochen vergeblich noch ein genießbares Fäserchen zu entreißen suchte.

    „Mir ist ein genialer Gedanke gekommen!, sagte an Bennos Seite der Direktor, „ein Gedanke, so recht meiner würdig!

    Die löffelschwingende Riesendame probierte ein Tröpfchen des Gemisches. „Prosit!, rief sie. „Das für deinen Einfall, Ramiro!

    Nun lachten alle. „Ich danke dir, Juanita, meine Gemahlin!, versetzte mit elegantem Aufschwung der Kunstreiter, „ich danke dir, obgleich mir dein Glückwunsch anstatt in edlem Weine in ganz gemeiner Grütze zugetrunken wird. Und nun urteile selbst, Frauchen, wie dir meine Idee gefällt. Nicht wahr, Kinder, es werden tausend Taler demjenigen versprochen, der dreimal auf Rigolos Rücken die Bahn zu durchreiten vermag?

    Madame Juanita seufzte ein wenig. „Versprochen!, wiederholte sie in gedehntem Tone. „Ja!

    Die Übrigen lachten, nur Ramiro blieb bei seinem unerschütterlichen Ernst. „Wohlan, fuhr er fort, „es werden sich wie gewöhnlich einige Wagehälse melden und bei der zweiten Tour in den Sand fallen. Soweit wäre alles nur das Altgewohnte, jetzt aber kommt mein Vorschlag. Sie, junger Herr, treten ganz plötzlich durch eine Nebentür, anscheinend aus der Mitte des Publikums in die Bahn hinein und –

    „Um Gottes willen!, rief Benno. „Ich sollte vor aller Augen den Esel besteigen? Wohin denken Sie, Herr?

    „Still! Es ist ja noch etwas ganz Besonderes, ganz Unerwartetes dabei. Nachdem Männer und Knaben in den Sand gepurzelt sind, erscheinen Sie als altes Weib mit ungeheurer Haube, geschminktem Gesicht und einer riesigen Küchenschürze. Als Peitsche gebrauchen Sie einen Schaumlöffel oder einen Besen. Ist das nicht ein großartiger Gedanke?"

    Madame Juanita, der Athlet und der Schlangenmensch klatschten vergnügt in die Hände.

    Nun erhielten Bennos Wangen eine ziegelrote Färbung, auch die Nasenspitze bekam ihren Klecks, dann folgten dicke kohlschwarze Augenbrauen, und als unser Freund in einen vorgehaltenen Spiegel sah, glaubte er sein eigenes Gesicht nicht mehr erkennen zu können.

    „Jetzt die große Haube!, befahl Ramiro. „Es ist doch eine vorhanden? Und eine Küchenschürze?

    Ein junges Mädchen brachte beides, auch das aus buntem Stoffe gefertigte und vielfach mit Flecken von anderer Farbe ausgebesserte Frauenkleid.

    Benno warf den Rock ab und die Ausstaffierung begann. Wie lachten der Athlet und der Schlangenmensch, wie hüpften die Kinder vor Vergnügen! Dann kam eine Likörflasche zum Vorschein, die aus der Hand des Direktors von Mund zu Mund wanderte. „Auf gutes Glück für die Vorstellung!"

    Draußen vor der Tür hatte sich längst die schaulustige Menge versammelt. Bei den verheißungsvollen Klängen der Trompete stürzte sie sich gleich einer plötzlich entfesselten Wasserflut in das Innere der Holzbaracke.

    Benno war hinter den Vorhang zurückgetreten, sodass er alles überblicken konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Da kam seine ganze Klasse angerückt, Mann für Mann, alle mit freudestrahlenden Gesichtern. Sie unterhielten sich laut miteinander und mehrere Male hörte Benno seinen Namen, der immer in bedauerndem Tone ausgesprochen wurde. „Wäre er doch hier! Man muss über seine Witze so herzlich lachen!"

    Allmählich füllte sich der Zirkus bis auf den letzten Platz. Ramiro schmunzelte vor Vergnügen. Das Geschäft blühte augenscheinlich.

    Dann kam die erste Nummer. Pierrot machte seine Dummheiten, fiel zwischen zwei Stühle und bekam schmähliche Prügel; die Affen schossen Pistolen ab und trommelten, die Ziegen standen mit allen vier Füßen auf Tellern, die ihrerseits auf Flaschenhälsen balancierten. Nach dem Schlangenmenschen und den Clowns kam Rigolo an die Reihe.

    Heute wedelte er freundlichst mit dem Schweife und schien so harmlos wie ein zahmes Schoßhündchen.

    Die Knaben stießen einander an und ermutigten sich gegenseitig; der Direktor bot lächelnd, als handle sich’s um eine Anzahl Strohhalme seine tausend Taler aus, und in der Ecke hinter dem Vorhang faltete Madame Juanita vor Entsetzen die Hände. „Wenn einer dieser kecken jungen Schlingel den Widerstand des Esels besiegen würde? Was dann?"

    Vorläufig sah es allerdings nicht danach aus. Moritz Dehnhardt, Bennos intimster Freund hatte sich zum Ritt gemeldet und war auf das heimliche Zeichen hin schmählich in den Sand gesetzt worden; dann folgte Hermann Bärenberg, den ein gleiches Schicksal ereilte, und nach ihm fand keiner mehr den Mut, sich der Tücke des grauen Vierfüßlers anzuvertrauen. Señor Ramiro streckte den Arm aus. „Will niemand von den Herrschaften mehr sein Glück versuchen? Tausend Taler, wer den Esel dreimal um die Bahn reitet. Tausend Taler, meine Herrschaften!"

    Das war Bennos Stichwort, er wusste es, und der ganze Übermut seiner sechzehn Jahre erwachte. Das Kleid an beiden Seiten fassend, bald laufend, bald stehen bleibend, begab er sich in die Reitbahn und sah ringsumher, als sei er unsicher, ob man das Wagnis erlaubt finden werde oder nicht. Madame Juanita hatte ihm den großen Grützelöffel in die Hand gedrückt, und so bewaffnet näherte er sich dem Esel, der vor Schreck ein lautes: „Jaa! Jaa!" hören ließ, worauf er schleunigst Reißaus nahm.

    Ein unaufhörliches Gelächter des Publikums begleitete diese Flucht, von der jeder Einzelne annahm, dass sie sorgfältig einstudiert sei. Stöcke und Füße trommelten in ohrenzerreißendem Getöse auf den Bretterboden; der Esel wurde stürmisch gerufen.

    „Rigolo heraus! Rigolo heraus!"

    Pedrillo hatte ihn draußen eingefangen und brachte jetzt den Widerstrebenden zurück. Der Direktor hielt ihn am Zügel, bis Benno den Sitz gewonnen hatte, und nun begann der Ritt durch den kreisrunden Raum, wieder mit allen Zeichen der entsetzlichsten Angst des Esels, wieder mit seinem kläglichen Geschrei, das indessen von dem tobenden Gelächter der Zuschauer vollständig übertönt wurde.

    Rigolo sah den erhobenen Peitschenstiel und schüttelte den Kopf, während Bennos Klassenkameraden in ein lautes Hurra ausbrachen. Sie mochten in den Frauenkleidern ihren kecken Primus erkannt haben; ein betäubender Lärm verkündete die ungeheure Heiterkeit, von der sie beseelt waren, aber auch zugleich die Gefahr, in der Benno während dieses Triumphzuges schwebte.

    „Er ist es!, hörte er zischeln. „Er ist es!

    „Hurra, Benno, Hurra!"

    „Dakapo!, schrien zahllose Stimmen. „Dakapo!

    In dem Durcheinander von Stimmen lenkte Benno den Esel zur Ausgangstür, wo ihn der Athlet in Empfang nahm, während unser Freund seine ungeheure Haube vom Kopf riss und in einem Stalleimer das erhitzte Gesicht von der darauf haftenden Farbe reinigte. Ein zweites Mal das Kunststück zu probieren, wagte er nicht; die Kameraden hatten gar zu unvorsichtig seinen Namen genannt.

    „Morgen Abend folgt die Fortsetzung, nicht wahr?, lächelte der Schlangenmensch. „Sie waren der Glanzpunkt der Vorstellung.

    Aber Benno schüttelte energisch den Kopf. „Es ist ganz unmöglich, sagte er. „Ich habe von vornherein ausgemacht, dass sich die Sache nicht wiederholen dürfe. Wahrhaftig, Madame, besäße ich Geld, so würde ich es Ihnen für Ihr krankes Kind mit Vergnügen geben, aber nochmals den Esel reiten kann ich nicht.

    Dann reichte er nacheinander den verschiedenen Gliedern der Truppe zum Abschied die Hand, bat den Direktor zu grüßen und ging zur Pforte, um sich schleunigst auf den Heimweg zu machen. Er wandte sich in der Absicht, im Sturmschritt die Langereihe hinab zu laufen und dann rechts ab im weiten Bogen das Altonaer Tor zu umgehen. Da tauchte plötzlich hinter ihm ein älterer Mann auf. Es war Herr Mählmann, im Kontor von Zurheiden und Söhnen seit länger als einem Menschenalter das Faktotum, die rechte Hand des Chefs, ebenso menschenfeindlich und übertrieben sparsam wie Herr Johannes, ebenso abgeneigt aller Lebensfreude wie dieser.

    Er zog das Kinn ganz in die Halsbinde hinein, stellte den Stock energisch auf das Pflaster.

    „Na, Mosjö!, sagte er. „Was sind denn das für Geschichten? Wie kommen wir gegen Mitternacht hierher nach St. Pauli? He?

    „Meine Uhr zeigt zwanzig Minuten über zehn."

    Herr Mählmann stieß wieder seinen Stock auf das Pflaster. „Nun?, fragte er. „Wissen etwa der Herr Senator, dass wir uns um diese Zeit vor den Toren der Stadt befinden? Wie steht es damit, he?

    Benno hatte jetzt dem Unvermeidlichen gegenüber die verlorene Fassung wiedererlangt. „Herr Mählmann, antwortete er möglichst ruhig, „ich habe mich auf einem Ausgange mit meinen Kameraden ein wenig verspätet, das ist alles. Vor das Tor zu gehen, wurde mir niemals verboten.

    „Auch zu dieser Stunde? Was? Jedenfalls werde ich dem Herrn Senator Mitteilung machen. Muss die Geschichte melden, geht nicht anders. Und nun vorwärts!"

    Benno seufzte heimlich. Er wusste, fühlte, dass ihm Böses bevorstand; beinahe mit Grauen sah er etwas später die dunklen Umrisse des Hauses am Alten Wandrahmen vor seinen Blicken auftauchen.

    Stunden vergingen, ehe er einschlief, um dann verworrenes Zeug zu träumen. Am anderen Morgen schmerzte sein Kopf, aber trotzdem ging er zur Schule. So im Hause ganz allein dazusitzen, das hätte er nicht ertragen.

    Ein langer, banger Tag! Aber die Stunden vergingen, und endlich musste der Heimweg angetreten werden.

    Vor der Tür stand Harms; das gute alte Gesicht schien heute sehr unruhig. „Du, raunte er, „der Senator hat nach dir gefragt, du sollst gleich zu ihm kommen. Was bedeutet denn das, Junge?

    Benno legte die Schulbücher auf einen Tisch, umsogleich in das Wohnzimmer zu gehen.

    Als er die Tür öffnete, sah er seinen Onkel mitten in dem großen Raume auf und ab gehen, während die Großmutter im Lehnstuhl am Fenster saß und mit unruhigem Blick ihren Enkel erwartete. Der linke Arm der mehr als achtzigjährigen Dame war gelähmt, er lag auf der breiten Kante des Stuhles.

    Bei Bennos Eintritt sagte die Greisin: „Johannes, sprich freundlich mit dem armen Jungen."

    Der Senator zuckte die Achseln. „Ich werde gerecht urteilen, Mama, versetzte er. „Das ist mehr als alle Freundlichkeit.

    „Komm einmal hierher, wandte er sich dann zu dem Knaben. „Ich möchte von dir eine Aufklärung haben. Mählmann sagt mir, er habe dich gestern Abend gegen halb elf Uhr vor dem Millerntore getroffen. Verhält sich das so?

    „Ja, Onkel."

    „Ah! Und wo warst du zu dieser späten Stunde gewesen?"

    „In – einem Zirkus auf dem Heiligengeistfelde, Onkel!"

    Der Senator horchte plötzlich auf. „Was ist das? Bei Kunstreitern oder dergleichen? Natürlich gab dir Harms das dafür notwendige Geld?"

    „Harms weiß bis zu dieser Stunde von der ganzen Sache nichts."

    „Nun gut! Also wer gab dir das Geld?"

    „Niemand – ich habe kein Eintrittsgeld bezahlt. Der

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1