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"Vielleicht hätte ich eine Familie. Vielleicht hat jemand um mich geweint": Das "fremdvölkische Kinderheim" in Spital am Pyhrn 1943–1945
"Vielleicht hätte ich eine Familie. Vielleicht hat jemand um mich geweint": Das "fremdvölkische Kinderheim" in Spital am Pyhrn 1943–1945
"Vielleicht hätte ich eine Familie. Vielleicht hat jemand um mich geweint": Das "fremdvölkische Kinderheim" in Spital am Pyhrn 1943–1945
eBook339 Seiten3 Stunden

"Vielleicht hätte ich eine Familie. Vielleicht hat jemand um mich geweint": Das "fremdvölkische Kinderheim" in Spital am Pyhrn 1943–1945

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Über dieses E-Book

In Spital am Pyhrn (Oberösterreich) war von 1943 bis 1945 in einem aufgelassenen Gasthof ein sogenanntes "fremdvölkisches" Kinderheim eingerichtet, betrieben von der "Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt" (NSV). Dort waren 106 Säuglinge polnischer, ukrainischer und russischer Zwangsarbeiterinnen untergebracht, die man diesen kurz nach der Entbindung weggenommen hatte, um die Arbeitskraft der Mutter maximal auszubeuten. Die Kinder wurden – entsprechend der nationalsozialistischen Ideologie – als minderwertig betrachtet und daher mangelhaft ernährt, gepflegt und geliebt. Viele starben durch vorsätzliche Vernachlässigung nach ein paar Wochen oder Monaten, 47 Todesfälle sind archivarisch belegt, als Todesursachen scheinen, neben Unterernährung, Magen- und Darminfekte, Hautausschläge und Geschwüre sowie sogenannte "Lebensschwäche" auf. Die überlebenden Kinder wurden nach 1945 in "children's homes" gesammelt und als "Waisen" in ihre vermutlichen Heimatländer repatriiert. Zumeist adoptiert, suchten sie später, oft erfolglos, nach ihren leiblichen Eltern und Spuren ihrer Herkunft.

Die Autorin zeichnet in Erinnerungen, Dokumenten und amtlichem Schriftverkehr Entstehung und Betrieb des Heims in Spital am Pyhrn nach und kontrastiert die offiziell behauptete Verbesserung der dortigen Zustände mit den fortlaufenden Todesfällen der Säuglinge.
SpracheDeutsch
HerausgeberStudienVerlag
Erscheinungsdatum16. Jan. 2023
ISBN9783706562942
"Vielleicht hätte ich eine Familie. Vielleicht hat jemand um mich geweint": Das "fremdvölkische Kinderheim" in Spital am Pyhrn 1943–1945

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    Buchvorschau

    "Vielleicht hätte ich eine Familie. Vielleicht hat jemand um mich geweint" - Maria Prieler-Woldan

    Eine Stimme ist in Rama gehört worden, Weinen und großes Klagen. Rahel weinte um ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen. Denn sie lebten nicht mehr. Jeremia 31, 15

    „Vielleicht hätte ich eine Familie. Vielleicht hat jemand um mich geweint." Katharina B., Überlebende

    1. Einführung

    Im September 2018 stand ich, begleitet von Susanne Lammer, zum ersten Mal in Spital am Pyhrn (Oberösterreich) auf dem Friedhof der Kirche St. Leonhard vor den beiden Gedenktafeln in polnischer und deutscher Sprache, welche an die 1943 bis 1945 dort begrabenen Säuglinge slawischer Zwangsarbeiterinnen erinnern. Es war windig und kalt, und ich fror auch innerlich und weinte, als ich dort in die Metallschale mit den eingravierten Vornamen je eine Glasmurmel legte:

    Stefan – Ludwig – Stanislaus – Teresa – Maria Katharina – Metschislaw – …

    Seither haben mich diese und viele andere Vor- und Nachnamen, die ich auf Karteikarten und Listen, in Gemeindestuben und Archiven suchte und fand, intensiv beschäftigt und immer wieder bewegt: Namen verstorbener und – zumindest bis Kriegsende – überlebender Säuglinge und Kleinkinder. Nach heutigem Wissensstand wurden 106 Kinder, fast ausnahmslos als Säuglinge, zwischen Ende März 1943 und Mitte Jänner 1945 in Spital am Pyhrn im „fremdvölkischen"1 Kinderheim untergebracht. Von 47 ist deren Tod dokumentiert, weitere sechs sind vermutlich ebenfalls umgekommen. Auch die Todesursachen finden sich in den Akten: z. B. Magen- und Darminfekte, Hautausschläge und Geschwüre, sogenannte „Lebensschwäche".

    Im Auftrag des nationalsozialistischen Regimes und im Sinne maximaler Ausbeutung der Arbeitskraft von Zwangsarbeiterinnen wurden die Säuglinge ihren polnischen, ukrainischen oder russischen Müttern möglichst bald nach der Geburt abgenommen und in dieses Heim gebracht. Sie wurden dort mangelhaft ernährt, gepflegt und geliebt und starben häufig schon nach ein paar Monaten. Von den Leichnamen der Säuglinge ist nichts mehr erhalten, aber ihre Namen – und alles, was man sonst dazu noch wissen kann – müssen bleiben. Das ist ein wesentliches Anliegen der vorliegenden Forschungsarbeit.

    Das „fremdvölkische Kinderheim in Spital am Pyhrn ist, zeitlich gesehen, vermutlich das erste im gesamten Deutschen Reich. Im Gau Oberdonau der Ostmark, mit dem Adolf Hitler biografisch verbunden war, sollte begonnen werden. „Hier könnten wir die Dinge einmal gleich in der Praxis durchführen und Erfahrungen sammeln, so schrieb Reichsführer SS Heinrich Himmler an Gauleiter August Eigruber.2 Im „Modell Oberdonau3 wurde die rassistische Geburten- und Bevölkerungspolitik gegenüber slawischen Zwangsarbeiterinnen auch für das „Altreich vorweggenommen und erprobt, was u. a. auch der Schriftwechsel zwischen Linz und Berlin ab 1942 belegt.

    Insgesamt gab es auf dem Territorium des Deutschen Reiches bis zu 200.000 Kinder slawischer Zwangsarbeiterinnen und bis zu 400 solcher Heime, beschönigend auch „Ausländerkinderpflegestätten" genannt. In Deutschland waren sie an Standorten der Großindustrie häufig mit Entbindungsbaracken für die slawischen Zwangsarbeiterinnen kombiniert. Tausende Säuglinge und Kleinkinder im Alter von wenigen Monaten bis zu etwa zwei bis drei Jahren verstarben und wurden, oft namenlos, begraben. Manche AutorInnen sprechen daher nicht von Kinderheimen – als Einrichtungen professionell geplanter und praktizierter Fürsorge –, sondern von Lagerunterkünften, die zunehmend auch in Baracken eingerichtet wurden.

    Nur in Ausnahmefällen wurden Verantwortliche für Ausländerkinderpflegestätten in Kriegsverbrecherprozessen angeklagt, aus vorsätzlicher Vernachlässigung den Tod einer größeren Zahl slawischer Kinder herbeigeführt zu haben.4 „Bereits 1955 hatte Lord Russel of Liverpool als einer der Hauptrechtsberater des Nürnberger Tribunals einen Überblick über die Ausländerkinder-Pflegestätten gegeben, […] ohne nennenswerte Resonanz beim deutschen Leser."5

    Jahrzehntelang war das Wissen um diese jüngsten Opfer des Nationalsozialismus, die verstorbenen und die überlebenden, verschüttet und verdrängt. Das galt für Österreich und die beiden deutschen Staaten BRD und DDR, aber auch für Polen, die Ukraine und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion.

    Im deutschsprachigen Raum begann die Rezeptionsgeschichte der „fremdvölkischen Säuglings- oder Kinderheime mit drei polnischen AutorInnen in ihrem Werk „Kinder im Krieg – Krieg gegen Kinder, das 1981 in Warschau und im selben Jahr noch in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde.6 Mit zeitlichem Abstand folgten dann lokale und überregionale Recherchen und Publikationen, von denen ich einige vor 2000 erschienene hier nenne. Diese keineswegs vollständige Aufzählung ergibt ein Bild über das erst langsam erwachende Forschungsinteresse, das oft auch in örtliche Gedenkinitiativen mündete bzw. von dort ausging. Denn zumeist handelte es sich um Initiativen von Privatpersonen.

    So veröffentlichte als Erste im Jahr 1987 Bernhild Vögel ihre Untersuchung zum „Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen in Braunschweig mit 360 in drei Heimen verstorbenen Säuglingen und Kleinkindern. Ihrer Initiative ist auch die Online-Plattform „Krieg gegen Kinder ab 20007 zu verdanken. Ebenfalls im Jahr 1987 erschien von Hans Holdhaider ein Beitrag über „Die Kinderbaracke von Indersdorf im Landkreis Dachau; Raimond Reiter publizierte 1993 in Hannover seine Dissertation „Tötungsstätten für ausländische Kinder im Zweiten Weltkrieg, Gisela Schwarze veröffentlichte 1997 anhand von Recherchen über das westfälische Entbindungslager Waltrop ihr Buch über „Kinder, die nicht zählten. Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im Zweiten Weltkrieg. In den etwa 300 bis 400 „fremdvölkischen Heimen sind mehrere Tausend slawische Kinder zu Tode gekommen; es gibt Hochrechnungen von bis zu 50.000 Kindern.8

    In Österreich, das sich bis Mitte der 1980er Jahre noch als Opfer des Nationalsozialismus verstand, kam die historische Forschung zu den „fremdvölkischen" Kinderheimen erst in den Jahren um 2000 in Gang, und zwar im Rahmen der HistorikerInnenkommission9 zur Entschädigung von Zwangsarbeitskräften. Abseits der Geschichtswissenschaft und der in die Gedenkarbeit involvierten Menschen sind diese Heime auch einer interessierten Öffentlichkeit immer noch kaum bekannt.

    Für Oberösterreich, genauer Oberdonau, hat als Erste die Zeithistorikerin Gabriella Hauch mit ihrem Team über „Ostarbeiterinnen. Vergessene Frauen und ihre Kinder"10 geforscht, darunter auch über das „fremdvölkische Kinderheim in Spital am Pyhrn. Der Titel ihres 2001 in einem Sammelband publizierten Aufsatzes ist programmatisch: Es geht nicht nur um die bislang vergessenen Kinder, sondern auch um die vergessenen Mütter, also um Schwangerschaften und Geburten, Zwangsabtreibungen und die Wegnahme ihrer Kinder. Der Journalist Martin Kranzl-Greinecker veröffentlichte 2005 eine Dokumentation über „Die Kinder von Etzelsdorf. Notizen über das ‚Fremdvölkische Kinderheim‘ im Schloss Etzelsdorf, Pichl bei Wels (1944–1946). Er hatte zuvor schon Überlebende beider Heime (Spital und Pichl) ausfindig gemacht und unterstützte sie in der Folge über viele Jahre bei der „Spurensuche" nach ihrer Herkunft.

    Beide Werke und die weitreichenden Vorarbeiten dazu wurden Ausgangsbasis für meine eigene Forschung, die längst fällige Monografie zum ersten „fremdvölkischen" Kinderheim in Spital am Pyhrn. Darin konnte ich manches vertiefen, ergänzen, zuweilen auch korrigieren. Gleichzeitig war es eine späte, vielleicht letzte Gelegenheit, noch Nachkommen von Zwangsarbeiterinnen als ZeitzeugInnen zu erleben und ihnen zuzuhören.

    „Vielleicht hätte ich eine Familie, sagte Jahrzehnte später eine Überlebende, die mittlerweile selbst verstorben ist. „Vielleicht hat jemand um mich geweint. Nicht nur die archetypisch gezeichnete jüdische Rahel – siehe Bibelzitat im Vorspann – hatte in den Jahren des Nationalsozialismus um ihre Kinder zu weinen. Das galt auch für Boleslawa und Stefania, für Lidia und Ennia, für Malschka und Paraskawia, die ihre Säuglinge ans „fremdvölkische" Kinderheim abgeben mussten, oft in den sicheren Tod, oder die, bedingt durch Chaos und Verwechslungen, ihr Kind nach 1945 nicht wiederfanden. Nicht vergessen werden sollen auch diejenigen Zwangsarbeiterinnen, die im Heim als Arbeitskräfte eingesetzt waren und, zumeist selbst hungrig, das Sterben der Säuglinge hilflos mitansehen mussten.

    Eine Nennung von Zwangsarbeiterinnen und ihren Kindern mit vollem Namen ist ein wesentliches Anliegen meiner Forschung und der Gedenkarbeit und richtet sich gegen das Vergessen und Verdrängen der Nazi-Gräuel. Verwechslungen und mehrfache oder falsche Schreibweisen lassen dabei manchmal keine eindeutige Identifizierung zu. Dennoch steht die Namensnennung auch im Dienst von Menschen, welche bis heute auf der Suche nach ihren leiblichen Müttern, Vätern oder Geschwistern sind.

    Gleichzeitig gibt es berechtigte Interessen von ZeitzeugInnen und Angehörigen der Opfer, dass ihre Daten geschützt werden. Das eine gilt es gegen das andere abzuwägen, und die Entscheidung im jeweiligen Fall ist mir nicht leichtgefallen.

    Ein Resultat der zahlreichen Archivrecherchen, inhaltlich und technisch unterstützt von Susanne Lammer, ist eine Datenbank mit allen verfügbaren Informationen zu den Kindern des „fremdvölkischen" Säuglingsheims in Spital am Pyhrn und ihren Müttern bzw. Eltern. Eine Liste der verstorbenen Kinder wird in dieser Forschungsarbeit veröffentlicht. Die Datenbank zu den – zumindest bis 1945 – überlebenden Kindern wird vom Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim verwaltet, sodass die Ergebnisse für weitere Nachforschungen, auch von Angehörigen, zur Verfügung stehen (Kontaktadresse im Anhang).

    Neben den Namen der Opfer gibt es auch die Namen der Täter und Täterinnen bzw. der Mitläufer und Mitläuferinnen. Auch hier gibt es Nachkommen. Sie tragen keine persönliche Schuld für die Einstellungen und Entscheidungen ihrer Eltern und Schwiegereltern, Groß- und Urgroßeltern, wenn diese das herrschende Unrechtssystem des Nationalsozialismus aktiv gefördert, davon profitiert oder vielleicht auch nur durch fehlende Zivilcourage daran Anteil gehabt haben. Am Erbe des Nationalsozialismus kommen aber Familien, Gemeinden und unsere ganze Gesellschaft letztlich nicht vorbei.

    Als nachgeborene Forscherin bin ich keine Richterin und froh, nicht selbst unter der Nazidiktatur in Gewissensentscheidungen gekommen zu sein. Dennoch gilt es, gerade auch in der Forschung, genau hinzusehen. Es geht dabei „einerseits um die Frage der ‚Wahrheit‘ der historischen Verhältnisse selbst, […] andererseits um die ‚Wahrhaftigkeit‘ einer Erzählung dieser Geschichte"11, auch unter Einbeziehung der letzten Überlebenden.

    Meine Arbeit versucht das in sechs Kapiteln, wobei ich zusätzlich auch Augenmerk auf einzelne relevante Personen lege (Kapitel 2a und 3a).

    Das folgende Kapitel 2 verortet das „fremdvölkische Kinderheim in seinem räumlichen und zeitlichen Umfeld des „Dorfes im Gebirge Spital am Pyhrn, darunter auch, als Ort des Geschehens, im früheren Hammerherrenhaus und dem darin untergebrachten ehemaligen Gasthof Lindenhof.

    Dessen Eigentümer Ferdinand Schürrer, der in das Unternehmen eingeheiratet hatte, wird in Kapitel 2a zu SS-Oberführer Franz Langoth in Verbindung gesetzt, welcher später für die „fremdvölkischen" Kinderheime in Oberösterreich (bzw. Oberdonau) verantwortlich war. Dass sich die beiden gleichaltrigen Herren allem Anschein nach schon Jahre zuvor kennengelernt hatten, verweist auf ideologische und später auch geschäftliche Verbindungen.

    In Kapitel 3 widme ich mich dem Umfeld der für das „fremdvölkische Kinderheim zuständigen Organisationen: Träger war die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV), der in Deutschland Erich Hilgenfeldt, in der Ostmark und Oberdonau Franz Langoth vorstand. Für die verwandten, aber auch konkurrierenden NS-Organisationen NSV und „Lebensborn war Reichsführer SS Heinrich Himmler gesamtverantwortlich.

    In ideologischem Zusammenhang damit steht auch der „NS-Bund der Deutschen Schwestern". In Kapitel 3a betrachte ich den Lebensweg der Säuglingsschwester Imelda Marinelli von Linz nach Polen und von dort in die Kinderheime von Spital am Pyhrn und Schloss Etzelsdorf.

    Kapitel 4 beschäftigt sich mit dem Thema der Zwangsarbeit von slawischen Frauen in der Ostmark, vorwiegend nach schriftlich dokumentierten Erinnerungen der Betroffenen. Beginnend mit den Umständen von Deportation und „Desinfizierung" waren gerade Frauen besonderen Belastungen und Risiken ausgesetzt. Deren Schwangerschaften führten häufig zu Zwangsabtreibungen bzw. zur Wegnahme ihrer neugeborenen Kinder.

    Kapitel 5 ist ganz den Kindern, Müttern und Betreuungspersonen des Heimes in Spital am Pyhrn, des Lindenhofs, gewidmet, wo Bürokratie und Chaos nebeneinander herrschten. Das Leben, die Mangelversorgung und das fortgesetzte Sterben der Säuglinge wurden bald auch Thema von Kontrollbesuchen und von mehrfacher Korrespondenz zwischen Linz und Berlin. Konkrete Schicksale von Müttern und deren verstorbenen oder überlebenden Kindern runden das Kapitel ab.

    Aus der Sicht von 1943 und 1944 geborenen Nachkommen von Zwangsarbeiterinnen und damit letzten ZeitzeugInnen wird schließlich in Kapitel 6 durch lebensgeschichtliche Interviews deutlich, was es heißt, ohne Wurzeln zu sein und jahrzehntelang nach Spuren der eigenen Herkunft zu suchen. Dem Wunder des Überlebens stehen bleibende Lasten gegenüber.

    In einer Schlussbetrachtung führe ich die Ergebnisse meiner Forschung zusammen und verweise auf weitere offene Fragen.

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    Gedenktafel deutsch, Friedhof St. Leonhard, Spital am Pyhrn, Foto: Jack Haijes

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    Murmeln in Schale mit Namen verstorbener Kinder, Foto: Jack Haijes

    _______________

    1   „Fremdvölkisch ist ein Begriff der NS-Ideologie, die ein abgestuftes System „höherwertigen und „minderwertigen Lebens kennzeichnet. Ganz oben standen die „Arier, am unteren Ende finden sich die jüdische Bevölkerung, Roma und Sinti sowie die Slawen: Sie alle betrachtete man als Gefahr für den „Deutschen Volkskörper. Gleichzeitig war das Deutsche Reich auf Zwangsarbeitskräfte in großer Zahl, vor allem aus dem Osten, angewiesen: auf Polen und Polinnen sowie die als „Ostarbeiter bezeichneten Männer und Frauen aus der Ukraine und den Ethnien der damaligen Sowjetunion. Näheres dazu in Kapitel 4.

    2   Bundesarchiv (BA) Berlin, NS 19-3596, Himmler an Eigruber, 9.10.1942.

    3   So die Zeithistorikerin Gabriella Hauch, vgl. Hauch 2001a, 1290.

    4   Im Volkswagenwerk in Rühen kamen 1944/45 rund 300 Zwangsarbeiterkinder ums Leben. Der leitende VW-Betriebsarzt Hans Körbel wurde 1946 von einem britischen Militärgericht wegen vorsätzlicher Vernachlässigung (willfull neglect) von Fürsorgepflichten zum Tod durch den Strang verurteilt. Die Todesstrafe betraf auch Schwester Elle Schmidt. In der Salzburger Volkszeitung vom 1.7.1946 wurde darüber berichtet. https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_K%C3%B6rbel bzw. https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=svz&datum=19460701&seite=2&zoom=33. Zur Verteidigungsstrategie ein Beispiel in Vögel 2005, 6. Einer der im März 1946 Angeklagten, Gestapo-Kommissar Fritz Flint, sprach in seiner Vernehmung von einer Epidemie in der Milch als Todesursache. In der Nacht vor der Fortsetzung der Verhandlung verstarb der 40-jährige Angeklagte „überraschend".

    5   Dube-Wnęk 2011, 27. Vgl. Lord Russel of Liverpool: Geißel der Menschheit. Kurze Geschichte der Naziverbrechen. Frankfurt am Main 1955.

    6   Roman Hrabar/Zofia Tokarz/Jacek E. Wilczur; alle im Folgenden genannten Werke siehe Literaturliste.

    7   www.krieggegenkinder.org, erstellt 2000 bis 2004 von Bernhild und Florian Vögel, aktualisiert bis 2012 (Stand 14.3.2022).

    8   Allein in Niedersachsen wurden 58 „fremdvölkische" Kinderheime betrieben, sie umfassten nach Raimond Reiters Angaben 3.000 bis 4.000 ausländische Kinder, von denen nach seiner Hochrechnung etwa 2.000 bis 3.000 als verstorben anzunehmen sind. Weitere Kinder starben vermutlich noch nach Kriegsende – vgl. www.rreiter.de (14.3.2022).

    9   https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreichische_Historikerkommission (14.3.2022).

    10   Im selben Jahr veröffentlichte sie, mit etwas anderem Schwerpunkt, den Aufsatz „Zwangsarbeiterinnen und ihre Kinder: Zum Geschlecht der Zwangsarbeit, der auch die „Kinderkrippe im Lager 57 der HGW (Hermann-Göring-Werke) behandelt. Weitere Publikationen: siehe Literaturliste.

    11   Ziegler/Kannonier-Finster 2016, 266.

    2. Spital am Pyhrn – Dorf im Gebirge: Bevölkerung, Geschichte und politische Entwicklung

    Spital am Pyhrn – Hospiz am Alpenübergang

    Die Gemeinde Spital am Pyhrn, in der Ortschronik „Dorf im Gebirge" genannt, ist ca. 90 Kilometer von der Landeshauptstadt Linz entfernt. Sie liegt, umgeben von Bergketten, im südlichen Oberösterreich am Ende des Garstnertales und zugleich am Fuß des Pyhrnpasses, der die Grenze zur Steiermark bildet. Die Verbindung zwischen den beiden Bundesländern ist heutzutage wetterunabhängig via Bahnbzw. Autobahntrasse durch den Bosrucktunnel gewährleistet.

    Über den Pyrhnpass auf 945 m Seehöhe führten schon in alter Zeit Verkehrswege, z. B. die Verbindung von Aquileia (heute Italien, Region Friaul/Julisch-Venetien) nach Ovilava12 (Wels). Zur Kreuzzugszeit entstanden im österreichischen Raum an Pässen, wie z. B. auch am Wechsel und Semmering, Pilgerhospize, daher der Ortsname Spital. Sie dienten nicht nur Reisenden und Kranken, sondern sollten auch den Passverkehr sichern und den politischen Einfluss weltlicher und geistlicher Herrschaften gewährleisten. Daher wurden die Hospize großzügig mit Grund- und Forstbesitz sowie mit Bezugsrechten von Salz, Fisch und Wein ausgestattet. Das Hospital am Pyhrn, welches zum Bischof von Bamberg gehörte, besaß u. a. Höfe und Weingärten in der Steiermark und in der Wachau.13

    Unter dem ersten Spitalmeister, der einer Bruderschaft von Laien und Klerikern vorstand, wurde 1198 eine Kirche gebaut, in deren Nähe sich nach der Rodung bäuerliche Liegenschaften und Hofgewerbe ansiedelten. So gab es im frühen 14. Jahrhundert schon eine Hoftaverne und einen Hofschmied und entlang des Trattenbaches drei Mühlen. Zur Versorgung der Bruderschaft und des anwachsenden Wirtschaftsverkehrs über den Pass sind zu dieser Zeit auch schon ein Hofbäcker sowie die Gewerbe von Schneider, Kürschner, Fassbinder, Zimmermann und Bader nachzuweisen.14

    1418 wurde in Spital ein Chorherren-Stift eingerichtet. Im Zuge der Gegenreformation entstand zwischen 1642 und 1736 eine prächtige Barockanlage von Stift und Kirche, die das Ortsbild bis heute prägt. Nach Aufhebung des Stiftes 1807 übernahmen kurzzeitig Mönche aus St. Blasien im Schwarzwald die verlassenen Gebäude, sie zogen aber schon nach zwei Jahren nach Kärnten (St. Paul im Lavanttal) weiter, nicht ohne besondere Schätze mitzunehmen, eine kostbare Monstranz und wertvolle Schriften.15 Als Ort für Schätze, die entwendet, verwahrt und abtransportiert wurden, bekamen das Stift und seine Kirche nochmals im Nationalsozialismus Bedeutung, worauf ich weiter unten näher eingehe.

    Wie die nach dem Süden weiterreisenden Mönche den Pyhrnpass überquerten, ist nicht überliefert. Zur Regierungszeit von Kaiserin Maria Theresia wurde jedenfalls die Passstraße verbessert, und ab 1842 führte eine Postlinie von Wels nach Liezen. Die Postkutsche konnte die Steigung über den Pass jedoch nur ohne Passagiere bewältigen, weshalb diese dort aussteigen und ein Stück zu Fuß gehen mussten.16

    Der Errichtung einer ersten Lokalbahn auf der oberösterreichischen Seite folgte ab 1901 der Bau der Pyhrnbahn mit mehreren Talübergängen, kleineren Tunneln und schließlich dem 4,8 km langen Bosrucktunnel. Diese Verbindung der westlichen Teile der Monarchie mit deren Haupthafen Triest hatte allerdings weniger die Bequemlichkeit der Reisenden als vielmehr wirtschaftliche Überlegungen als vorrangiges Ziel, wie es der Reichstagsabgeordnete Dr. Sylvester im Mai 1901 im Abgeordnetenhaus erläuterte:

    „Längs der neuen Strecke befinden sich reiche Lager von Gips, Alabaster, schwarzem und rotem Marmor, wertvollem Sandstein, Weißkalk, Tonlager, Steinkohle, Zement […], weiter Torfmoore, Schwefelquellen, Salzquellen und ungemein reiche Holzbestände. Über den Pyhrn gehen laut Mautgebühr zirka 10.000 Stück Vieh jährlich. Die bedeutendste Industrie, die durch diese Strecke gefördert wird, ist die Sensenindustrie. Vier Jahrhunderte lassen sich die Sensenschmiedezünfte nachweisen. Von den in Österreich im Jahre 1898 erzeugten Sensen fallen auf das Windischgarstner Tal fast der zehnte Teil. Infolge der schlechten Bahnverbindungen und die dadurch erschwerte Konkurrenz mussten17 von 22 Sensenwerken bereits sechs Werkstätten geschlossen werden […]."18

    Diese Entwicklung konnte allerdings auch die neue Bahnverbindung nicht aufhalten, wie sich zeigen sollte.

    Sensenschmieden, Hammerherren und der Lindenhof

    Eines dieser traditionsreichen Sensenwerke und seine Familiengeschichte werden hier näher beleuchtet, weil das später errichtete dazugehörige Herrenhaus, der heutige Lindenhof, im 20. Jahrhundert an eine NS-Organisation vermietet wurde, die das „fremdvölkische" Kinderheim betrieb.

    Am „Vordern Hasenberg zu Spital am Pirn wurde im Jahr 1555 vom „Dechant zu Spital ein Grundstück zur Errichtung einer Sensenschmiede verkauft. Das erbaute Werk hatte im Lauf

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