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Blutrotes Vermächtnis
Blutrotes Vermächtnis
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eBook253 Seiten3 Stunden

Blutrotes Vermächtnis

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Über dieses E-Book

Lotte freut sich, als sich eines Tages ein attraktiver Mann in ihr altes Jagdhaus im Odenwald verirrt. Ohne ihren Vater zu fragen, der ihr immer alles verbietet, richtet sie dem attraktiven Mann ein Notquartier ein. Fasziniert von ihm beobachtet sie ihn heimlich vor dem Schlafengehen, bis ihr selbst die Augenlider zufallen. Als sie erwacht, ist nichts mehr so, wie es vorher war. Der Mann ist tot. Lotte ist verzweifelt, sie nimmt an, dass ihn ihr Vater getötet hat. Ihr ganz persönlicher Albtraum beginnt.

Die 1960 in Weinheim geborene Autorin ist Mediengestalterin und Erzieherin. 2012 begann sie ein
Online-Studium: Autorin werden und verlegte sich auf die Sparte Krimikurzgeschichten sowie auf Short-Storys im humoristischen Bereich. Besonders bekannt wurde sie durch ihren skurrilen schwarzen Humor. Die Autorin wurde mehrmals ausgezeichnet. Sie stand auf der Shortlist der Wiener Kriminacht, war im Finale der Art Experience in Baden bei Wien und gewann den Deutschen Kurzkrimi-Preis Tatort Eifel.
Ingrid Reidel ist Mitglied bei den Mörderischen Schwestern und den Bloody Maries. Sie ist Mutter einer Tochter und wohnt mit ihrem Partner in einem alten Anwesen in Weinheim.
SpracheDeutsch
Herausgebervss-verlag
Erscheinungsdatum9. Dez. 2023
ISBN9783961273522
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    Buchvorschau

    Blutrotes Vermächtnis - Ingrid Reidel

    Titel

    Blutrotes Vermächtnis

    Ingrid Reidel

    Impressum

    Copyright: vss-verlag

    Jahr: 2023

    Lektorat/ Korrektorat: Peter Altvater

    Coverbild: Rouven Markovic

    Verlagsportal: www.vss-verlag.de

    Gedruckt in Deutschland

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie

    Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Verfasserin und des Verlags unzulässig.

    Widmung

    Dieses Buch widme ich Volker Nau,

    verbunden mir meinem großen Dank für die unermüdliche Unterstützung während der Realisierung dieses Werkes

    Ich bedanke mich auch bei

    Anni

    Conny

    Dagmar 

    Eva

    Heiderose

    Kari

    Katie

    Kristin 

    Michelle

    Sabine

    Stefanie 

    Volker

    für ihre Hilfe, Tipps und ihre Freundschaft

    sowie bei

    Mara

    für den guten Tipp mit dem Verlag

    Kapitel 1

    Lotte erschrak und hob ruckartig den Kopf. Hatte sie nicht ein Geräusch gehört? Das Aufheulen eines Motors. So spät noch?

    Sie legte ihr Buch auf dem Teewagen neben sich ab, bereit, jederzeit aufzustehen. Doch im nächsten Moment wurde ihr klar, dass es lediglich der Schneesturm draußen war, der sein Unwesen trieb. Und dass es bereit düster geworden war. Ein ganz normaler Schneesturm an einem winterlichen Abend und für die Höhenlagen des Odenwaldes nichts Ungewöhnliches.

    Lotte atmete auf und lehnte sich zurück. Sie hatte nicht einmal gemerkt, dass sich das Wetter geändert hatte. Auch nicht, dass es im Wohnzimmer inzwischen recht frisch geworden war. Bevor sie sich weiter ihrem Buch widmete, stand sie auf, ging zu dem Jagdofen hinüber, bückte sich hinunter und legte Holz nach.

    Es war ein alter Ofen, so wie hier fast alles alt war, mit verschnörkelten Jagdmustern auf dem schwarzen Schamottkorpus. Er stand schon hier, seit sie zurückdenken konnte. Fünfunddreißig Jahre lebte sie hier. Seit sie ein Kind war, und Paps lehnte es kontinuierlich ab, ihn durch eine moderne Heizung zu ersetzen, sofern es hier draußen überhaupt möglich gewesen wäre.

    Das fand sie nicht schlecht. Sie liebte es, von gewohnten Dingen umgeben zu sein. Es hatte etwas Beruhigendes, Vertrautes. Veränderungen gab es nur dort draußen. Vor manchen musste man sich richtig in Acht nehmen.

    Nur mal gedacht, sie ginge hinaus in den Wald, um Holz zu sammeln, die Wildschweine hatten in der letzten Zeit überhandgenommen und konnten gefährlich werden. Oder noch schlimmer, sie fuhr hinunter in die große Stadt. Zum Beispiel nach Mannheim oder nach Heidelberg. Sie konnte von den Kerlen angesprochen werden.

    Da war es hier drinnen im Haus viel angenehmer.

    Und mit einer unterhaltsamen Lektüre war es direkt gemütlich.

    Sie stand auf, ging zu ihrem Sessel zurück, bückte sich, nahm ihr Buch auf und setzte sich wieder.

    Sie betrachtete die Titelseite.

    Vom Winde verweht.

    Ein alter Klassiker.

    Sie schlug das Buch auf und suchte die Stelle, bei welcher sie unterbrochen worden war. Die Seite, bei der Rhett Scarlett küsste.

    Manchmal konnte sie sich leibhaftig in die Szenen hineinversetzen. Dann wünschte sie sich, Rhett würde nicht Scarlett küssen, sondern sie.

    Lotte schloss die Augen. Plötzlich merkte sie, wie ihr Herz anfing zu klopfen. Tok, tok, tok.

    Das tat es immer, wenn sie an solche Sachen dachte. An solche Sachen mit der Romantik.

    Doch das Klopfen hörte nicht auf. Tok, tok, tok.

    Im gleichen Moment durchzuckte es sie. Denn sie wusste, dass auch andere Dinge Klopfgeräusche verursachten. Zum Beispiel Stöcke. Paps‘ Stock.

    Er war wohl aus dem Bett aufgestanden und hatte sicher schreckliche Laune. Wie immer, wenn sie nicht gleich neben ihm stand und ihm seine Wäsche reichte.

    Rasch versteckte sie das Buch unter dem Stapel Zeitungen auf dem Teewagen, stand auf und eilte hinaus in den Flur.

    Paps stand da, er hatte tatsächlich seinen Stock in der Hand.

    Das bedeutet nichts Gutes. Und so war es auch.

    Er deutete damit auf das Eck hinter dem Garderobenschrank. „Sieh nach", befahl er mit seiner schnarrenden Stimme.

    Aber sie brauchte gar nicht nachzusehen, sie ahnte, was es war. Allein schon von dem herzzerreißenden Piepsen, welches unterschwellig zu hören war.

    Sie ging hinüber, hob das Schränkchen an und schob es zur Seite. Dahinter befand sich eine Rattenfalle. Eine Klappfalle. Eine von diesen, die sie im Winter auslegten, um der Rattenplage hier im Haus Herr zu werden.

    Es war eine Ratte darin – eine ziemlich große mit glattbraunem Fell. Die Falle hatte die Ratte in der Mitte zerquetscht, aber nicht getötet. Sie zappelte. Eines ihrer Hinterbeine hing über den Rand der Falle hinaus und versuchte, zuckend auf dem Holzboden Halt zu finden. Vergeblich. Ihr Fell war mit Blut durchdrängt.

    „Was sagt du dazu?, setzte Paps nach. „Das ist deine Aufgabe. Und warum hast du unten schon das Licht ausgemacht? Möchtest du endlich mal erwachsen werden und deiner Verantwortung nachkommen, Kleine? Sieh hin!

    Lotte gehorchte. Sie hatte das Gefühl, ihr Magen drehte sich um und ihr wurde übel. Sie überlegte, ob es nur ein Traum war.

    Doch das hier war kein Traum. Höchstens ein grausiger Albtraum.

    „Aber Paps ich … ich …"

    Sie blickte zwischen sich und der Ratte hin und her. Sie wusste, was er von ihr erwartete, wusste, was er in Bezug auf die Ratte von ihr erwartete.

    „Heb sie auf!"

    Aber sie konnte nicht. Jetzt war ihr nicht nur übel, sie spürte auch einen Kloß in ihre Kehle heraufwandern, der ihr die Luft zum Atmen nahm.

    Gleichzeitig piepste die Ratte und schnappte kraftlos nach Luft. Die Augen des gequälten Tieres traten aus ihren Höhlen heraus.

    Lotte wandte sich ab. Sie konnte es nicht sehen. Die raue Stimme ihres Vaters drang in ihr Unterbewusstsein.

    „Dass du das nie hörst, Kleine. Dass du nie mitbekommst, wenn die Klappe zuschnappt. Du weißt genauso wie ich, dass sie kommen, wenn es draußen schneit. Das ist ganz normal. Das weiß jedes Kind. Aber du glaubst es nicht. Stattdessen gibst du dich deinem Schmuddelkram hin …"

    Mit einem Mal verstummte Paps. Verstummte einfach und sagte kein Wort mehr. Er stand da, versteinert wie aus Marmor gehauen.

    Lotte starrte ihn an. Starrte ihn und die Ratte an.

    Dann, nachdem sie gedacht hatte, er wäre für immer in die ewigen Jagdgründe entschwunden, redete er weiter, so als hätte er nie aufgehört.

    „Aber nein, meine Tochter gibt sich lieber Schundlektüre hin."

    Lotte erschrak, konnte Paps jetzt schon durch Wände sehen?

    „Das ist keine Schundlektüre, Paps. Das ist Aufklärung …"

    „Aufklärung? Dass ich nicht lache. Du wirst das jetzt tun. Schau die Ratte an."

    Sie schüttelte den Kopf.

    „Dann wirst du mit den Konsequenzen leben müssen, Kleine."

    Seine Stimme war mit einem Mal trügerisch sanft.

    Lotte wusste, was das bedeutete. Obwohl sie sich bemühte, nicht zuzuhören, konnte sie Vaters Worte verstehen. „Dann werde ich dich verlass…"

    „Nicht. Sag es nicht!" Sie schrie es förmlich hinaus. Schrie es aus ihren Lungen und somit auch den Kloß mit hinaus. Dann musterte sie die Ratte eingehend. Plötzlich wurde sie eins mit ihr, der Tod war manchmal eine Erlösung. Und es war ein Akt der Nächstenliebe, eine gequälte Kreatur nicht länger leiden zu lassen …

    Draußen strich der Sturm um die Ecken und ließ das Haus ächzen. Die alten verstaubten Jagdtrophäen hier an der ebenso vergilbten Rispentapete an der Wand, das alte unmoderne Telefon auf dem Garderobenschrank. All diese vertrauten Gegenstände waren ihr plötzlich zuwider und wirkten wie Bollwerke aus einer längst vergessenen Zeit. Hier kam sie sich mit einem Mal vor, als steckte sie in einer Zwangsjacke.

    Wie von einer unsichtbaren Kraft gelenkt, bückte sie sich und fasste die Rattenfalle an, nahm sie auf.

    Das Fell der Ratte fühlte sich klebrig und feucht an.

    Das Tier schnellte mit ihrem Kopf herum und versuchte, sie zu beißen. Es machte ihr nichts aus.

    Sie streichelte über ihr blutiges Fell.

    Sie spürte, dass Paps jetzt hinter ihr stand. Sie spürte seinen typischen Geruch. Eine Mischung aus Rasierwasser und Mottenkugeln.

    Er berührte sie zart an ihrer Schulter. Sie beobachtete, wie er den Mund öffnete.

    „Und jetzt gehen wir hinüber."

    Sie wusste, was Paps damit meinte, und sie gehorchte.

    Sie schritt über den Flur ins Bad. Blut tropfte auf die Dielen, das würde sie nachher wegputzen.

    Paps war ihr gefolgt. „So" forderte er sie auf.

    Sie beugte sich über das Waschbecken, zog die Feder zurück und holte die Ratte heraus, drückte das zappelnde Tier sanft auf die kalte Keramik, in die Ausbuchtung des Waschbeckens.

    Sie begann, die Ratte zu beruhigen, indem sie leise mit ihr sprach: „Gleich wird es vorbei sein.".

    Das Fiepen des Tieres war herzzerreißend und schrecklich. Ein dünner Blutstrom quoll aus der klaffenden Wunde und dem Maul heraus.

    Lotte war mittlerweile so von Sinnen, dass sie Paps‘ Stimme nur noch, wie aus der Ferne hörte. „Nun, nimm endlich das Messer."

    Das Messer, eines der kurzen Schlachtermesser aus dem Schlachthaus, das sie hier seit der starken Rattenplage deponierten, war im Badezimmerschrank. Sie musste es nur herausnehmen.

    Sie zitterte, tat, was Paps gesagt hatte, hielt die Ratte immer noch fest. Mit dem anderen Arm öffnete sie den Schrank, holte das Schlachtermesser heraus.

    Während sie mit der einen Hand immer fester zudrückte, führte Paps ihre andere Hand. Sein Griff fühlte sich so fest an wie ein Schraubstock.

    Wie durch einen Schleier hindurch schaute sie zu, wie das Messer mit einem satten Geräusch in den Körper der Ratte eindrang. Die Ratte zappelte und quiekte, bi sie erschlaffte. Ihr Quieken hörte auf.

    Es war vorbei.

    Ohne ein Wort zu sagen, wandte sich Paps ab und lief in Richtung seines Zimmers. Die Lektion war erledigt.

    Und sie würde die tote Ratte entsorgen müssen.

    Sie nahm den Kadaver an den Füßen und ging hinüber zum Badezimmerfenster. Es klemmte wie immer und sie brauchte ihre ganze Kraft, um es zu öffnen. Sie warf den Kadaver im hohen Bogen hinaus. Morgen würde sie ihn mit den Abfällen der letzten Schlachtung entsorgen.

    Sie wollte gerade das Fenster schließen, als sie ein Geräusch bemerkte.

    Ein Klopfen.

    Jemand stand unten an der Haustür und hämmerte gegen das Türblatt.

    Es war sicher einer von den Städtern, die einen Festtagsbraten für das Wochenende kaufen wollten, schoss es ihr in den Kopf.

    Lotte drehte sich herum. Sie ging aus dem Badezimmer, eilte die Treppe hinunter, griff nach ihrer Jacke vom Haken und öffnete die Haustür.

    Kapitel 2

    Verdammt, wo kam jetzt plötzlich der viele Schnee her? Jan schlug aufs Lenkrad.

    Außerdem wurde sein Corsa durchgeschüttelt wie eine leere Nussschale im Wind. Und die Heizung in seinem Wagen schaffte es nicht mehr, den Wagen warm zu halten.

    Gleichzeitig hatte sich die Straße vor ihm im Scheinwerferlicht in eine weiße Linie verwandelt, die sich kurvig den Berg hoch schlängelte.

    Moment mal, kurvig den Berg hoch schlängelte?

    Das letzte Mal, als er hier war, hatte sich die Straße ganz anders hochgeschlängelt. Auch steil, aber bei Weitem nicht so steil.

    Allerdings war das letzte Mal schon eine Weile her. Das war im vergangenen Herbst gewesen. Da war er am helllichten Tag aus Wald-Michelbach losgefahren.

    Aber jetzt, nach zwölf Stunden Autofahrt war er todmüde und abgespannt. Trotzdem, an diese Gegend hier konnte er sich einfach nicht erinnern.

    Erinnern, erinnern, ja er sollte sich jetzt erinnern, wie diese Gegend hier ausgesehen hatte.

    Verdammt.

    Er schlug wieder auf das Lenkrad.

    Und im gleichen Moment fiel ihm alles ein - nicht ganz klar - so ungefähr, wie er vor einer halben Stunde an diese Kreuzung gekommen war. Und wie er gezögert hatte.

    Ja, das war der Grund: Er hatte die falsche Straße genommen. Und jetzt war er mitten in einem Wald, der Teufel wusste wo, und es war stockdunkel. Es stürmte und schneite, was das Zeug hielt.

    Aber jetzt mach dir mal nicht ins Hemd.

    Oh ja, das konnte er sich gar nicht erlauben, ins Hemd zu machen.

    Du hast doch schon ganz andere Dinge hinter dich gebracht.

    Tatsächlich, das hatte er allerdings.

    Zum Beispiel, als er die Umverteilung gestartet hatte. Die Umverteilung, so wie er es nannte.

    Die Umschichtung von der unehrlichen Gastronomie in die ehrliche Gastronomie. Von seinem Chef Karl, zu seiner zukünftigen Chefin Stephanie. Seiner Traumfrau.

    Dazu hatte er die Gunst der Stunde genutzt, als Karl nebst Gattin in Urlaub gefahren war.

    Ein Kurztrip nach Malle, wie sie es immer knapp nach Weihnachten machten, um sich vom Stress des Weihnachtsgeschäftes zu erholen.

    Drei Tage, während das Lokal geschlossen hatte und die Grübers nicht in ihrer Wohnung waren.

    Und so hatte er, Jan Hartmann, Karl Grübers bester Oberkellner, schamlos nach seiner Chance gegriffen.

    Der Einbruch im „Klabautermann".

    Eigentlich war es gar kein Einbruch gewesen, denn Karl hatte ihm einmal den Schlüssel zum Hintereingang ausgehändigt.

    „Hier, Jan, hatte er gesagt, „ein guter Oberkellner braucht den Schlüssel zum Lokal. Falls es mal brennt, wenn wir in Urlaub sind. Oder wir vergessen haben, das Licht auszumachen.

    Und oh ja, es hatte gebrannt. Aber nicht das Licht, sondern unter seinen Fingernägeln.

    Denn die Frage war, wo war das Geld? Das viele Schwarzgeld, welches Karl immer am Fiskus vorbeiverdiente. Das war in der Großgastronomie ganz einfach. Die Zeche der Gäste wurde einfach nicht eingebongt, und so verschwanden die Scheinchen und Münzchen einmal in dem Geldbeutel und einmal in jenem.

    Und sicher hatte Karl das Geld nicht auf die Bank getragen. Folglich musste es irgendwo im Haus versteckt sein.

    Und das bestimmt nicht im Gastraum, sondern an irgendeinem Ort oben in Karls Wohnung.

    Also war er, der tolle Oberkellner, der durch seinen Fleiß mit dazu beigetragen hatte, den Rachen Karls zu stopfen, am gestrigen Abend zu dem uneinsehbaren Parkplatz gegenüber der Gastwirtschaft gefahren. War mit seiner Aktentasche und der Taschenlampe in der Hand ausgestiegen und hinüber zu dem alten, gastronomisch umgebauten Herrenhaus geschlichen.

    War um das Gebäude herum gegangen, hatte den Schlüssel der Grübers aus seiner Hosentasche gefischt und hinten die Eingangstür aufgeschlossen. Diese war mit einem quietschenden Geräusch aufgesprungen und er hatte erschreckt nach rechts und links gesehen. Dabei hatten seine Knie angefangen zu zittern, er hatte es ignoriert, war durch die Küche hindurch in den Gastraum gelaufen. In eine der vielen Schubladen lag der Schlüssel für die Wohnung oben versteckt. Er hatte Karl einmal zugesehen, wie er ihn zwischen die Korkenzieher in dem abgegriffenen Kieferholzschränkchen gelegt hatte.

    Er hatte den Wohnungsschlüssel an sich genommen, war durchs Treppenhaus nach oben gehuscht und hatte die Wohnungseingangstür geöffnet.

    In die Intimsphäre zweier Menschen einzudringen, war nicht einfach und es ging ihm gewaltig gegen den Strich. Wenn er nur nicht so frustriert gewesen wäre. Er versuchte, das Gefühl auszublenden, konzentrierte sich auf das Suchen des Geldverstecks.

    Schließlich fand er den Tresor im Schlafzimmerschrank und atmete auf.

    Der Safe war nicht mit einem Schloss gesichert, wie er heimlich befürchtet hatte, sondern mit einem Zahlenschloss. Dann die Zahlenkombination.

    Im Prinzip war Karl - wie beim Schlüssel - leichtsinnig. Bei Zahlen benutzte er immer die gleiche Kombination. Nämlich die Geburtsdaten seiner Frau. Achter September neunzehnhundertvierundachtzig.

    Er musste nur die Kombination eingeben und der Geldschrank öffnete sich wie von Zauberhand.

    Und dann staunte er nicht schlecht. Ein gewaltiger Stoß Scheine lachte ihm entgegen.

    Scheine in ockerfarbenen Tönen mit dem Porträt der mythologischen Gestalt Europas vor einem Fenster und den kleinen Euro-Symbolen. Das alles in handliche Päckchen gebündelt. Schätzungsweise um die Hunderttausend Euro in bar.

    Dazu eine goldene Rolex.

    Bei der Rolex kam er zunächst ins Straucheln, nahm sie dann an sich, steckte sie in seine Aktentasche und verließ damit die Wohnung genauso wieder, wie er sie aufgesucht hatte.

    Schnell schlich er zu seinem Wagen, setzte sich hinein, startete den Motor und fuhr so behutsam wie möglich an und brauste dann zügig davon.

    Zunächst fuhr er in seine Wohnung, wo er sich kurz entspannen musste.

    Im Wohnzimmer hatte er schon eine seiner großen Reisetaschen gerichtet, vorgepackt. Zwei Paar Jeans, Unterwäsche, ein Oberhemd. Nicht zu viel. In die Tasche musste noch das Geld. Wenn etwas zum Anziehen fehlte, würde er es in Wald-Michelbach oder Weinheim nachkaufen können.

    Nachdem er Geld und Uhr unter der Wäsche versteckt und sich kurz ausgeruht hatte, stellte er Gas und Wasser ab und brachte den Mülleimer herunter, dass er nicht stank.

    In seinem Nachttisch bewahrte er etwas Bargeld auf. Sechs Zehneuroscheine und ein paar Münzen. Er nahm es an sich. Noch vor der Morgendämmerung brach er auf.

    Eine Stunde später durchquerte er die Lüneburger Heide. Danach ging es weiter Richtung Soltau.

    Er fuhr die Nacht über durch.

    Gegen sechs Uhr schlitterte er direkt in einen Stau. Morgendlicher Berufsverkehr.

    Er umfuhr die Ansammlung der Blechlawinen. Gönnte sich in Hannover einen Kaffee an einer Autobahnraststätte. Kurz vorm Westerwald verließ er die Autobahn.

    Nicht nur, weil es auf der Autobahn stockte, sondern, weil er ein paar Schleifen fahren wollte, um seine Spur zu verwischen.

    Denn das war sein Ziel: Seine Spur zu verwischen. Ein für alle Mal. Seinen Lebensweg hinter sich zu lassen, mit dem er immer gehadert hatte. Und wenn er genau über sich nachdachte, zurückblendete, dann musste er feststellen, dass er eigentlich nie Glück gehabt hatte. Sein Leben war eine einzige Achterbahnfahrt gewesen.

    Mit achtzehn kamen seine Eltern beim Bergsteigen ums Leben und hinterließen nichts weiter als Schulden.

    Also schmiss er sein Studium der Psychologie und nahm eine Gelegenheitsarbeit an, um sich und seinen damals noch minderjährigen Bruder Rolf über Wasser zu halten.

    Sein Wunsch, Psychologe zu werden

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