Bahini: Die kleine Schwester
Von Marcel von Arx
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Über dieses E-Book
Bahini ist ein Kind des Friedens, denn während des Bürgerkrieges wäre ihre Adoption nicht passiert, zu düster, traurig und gefährlich war es damals in Nepal. Ferner gibt die Geschichte Stichproben aus dem Alltag von Frauen, wie Kumari, das Mädchen, das als Göttin verehrt in einem Tempel eingesperrt ist. Oder Tej Didi, die nach dem Jana Andolan, der Revolution lernen will, Fahrrad zu fahren. Und was ist aus der jungen Frau geworden, die mit einem Stock in der Hand auf der Barrikade die Gleichberechtigung aller Frauen im Leben einfordert?
Die Adoption löst kein Problem, weder der Armut noch der Ungerechtigkeit, sie verbessert die Situation der nepalesischen Kinder nicht. Auch ist es für das Land, das Adoptionen inzwischen nicht mehr erlaubt, stets schwierig gewesen zu sehen, wie reiche Eltern aus dem Westen arme Kinder mit zu sich nach Hause nahmen, irgendwo auf der Welt. Und trotzdem, inzwischen reist Bahini, die ursprünglich als papier- und rechtloses Baby im Morgengrauen vor einer Ziegelsteinfabrik in Kathmandu gefunden wurde, mit einem Diplomatenpass durch die Welt, was die schönste, aber auch anspruchsvollste Geschichte im Leben ihrer Eltern ist.
Marcel von Arx
Marcel von Arx, 1966, aus Solothurn, ist Anwalt und Notar, Ehe- und Hausmann mit zwei fast erwachsenen Kindern. Er arbeitete mit Covenant, swisspeace, der DEZA und dem IKRK in Peru, auf dem Balkan, in Somalia, Ecuador, Nepal, Bolivien, Rwanda, Guinea und in Myanmar. An der International Leadership University in Naypyidaw hat er einen Lehrauftrag in Values, Ethics and Diversity. Er ist am Buddhismus und an Geschichte(n) interessiert. Daher schreibt er.
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Buchvorschau
Bahini - Marcel von Arx
Kapitel 1 – Dasain
Dasain ist ein religiöses Erntedankfest. Der Mond bestimmt das exakte Datum, entweder im September oder im Oktober. Der Monsun ist vorbei, die Hügel sind grün, das Licht hell. In Kathmandu bleibt der Himalaja unsichtbar, der Luftverschmutzung wegen.
Eine Leichtigkeit, ein Aufbruch ist spürbar. Die Menschen reisen heim in ihre Dörfer, auch während dem Krieg und trotz der Armut. Farbige Tikas leuchten auf den Gesichtern. Düfte parfümieren die Luft um die Tempel. Mit dem Klang von Glocken werden der Tag und die Reise gesegnet, oft von Frauen, die rote Saris tragen.
Auch wir wandern, wenigstens im Kathmandu-Tal. Der Weg ist schmal, oft steil. Papier, Abfall und Dreck liegen herum. Die Fenster der Häuser aus Backstein sind klein und verriegelt, als ob die Sonne störte. Wir riechen Dal Bhat, Linsen und Reis, der an Dasain mit Fleisch, Ziege oder Lamm ergänzt wird. Auch uns ist das tägliche Essen inzwischen vertraut, ein Ritual.
Unterwegs fotografieren wir Kinder, die Drachen steigen lassen, bunte Punkte im Wind. Geübt ziehen sie an den Schnüren und versuchen, die Flugbahn ihres Gestells zu steuern. Sie jauchzen, wenn es nach oben getragen wird und im blauen Himmel, schier grenzenlos fliegt. Oder sie schimpfen und weinen, wenn es sich in einem Mast oder in den Ästen eines Baumes verfängt, das Papier zerreisst und der Drachen kaputt geht. Dabei bemerken wir, dass die Jungen und Mädchen das Spiel nie aufgeben, sondern es immer wieder aufs Neue probieren, als wollten sie ihr Schicksal herausfordern und in die eigenen Hände nehmen.
In Nagarkot, auf der Krete am Rand des Tals, sehen wir zwar nicht den Mount Everest, aber den Himalaja, schemenhaft, ruhig und majestätisch, wie ein Magnet, das uns anzieht. Dabei wird es uns mit Matia Sanjay im Babybjörn bewusst, dass Dasain vor allem auch ein Familienfest ist.
Kapitel 2 – Gunsa
Ein Waisenhaus ist zu wenig abenteuerlich. Anders als die meisten Adoptiveltern wollen wir nicht in einem Heim vorstellig werden, sondern ein Kind aus einem armen, entlegenen Dorf aufnehmen. Ob unsere Tochter vielleicht aus einem maoistisch kontrollierten Gebiet kommt, ist uns egal.
Zielstrebig bitten wir Sepp, ein Kind für uns zu finden. Immerhin hatte Lilian während einer gemeinsamen Reise nach Janakpur erstmals gespürt, mit Matia Sanjay schwanger zu sein. Das deuten wir als ein gutes Omen.
Die Emanzipation der Frau, der Kampf gegen die Korruption oder die Abschaffung der Kasten dauern Generationen. In seinem Projekt lässt Sepp Strassen in ferne Dörfer bauen, damit die Menschen Zugang zum Markt oder zu einem Arzt haben. Ferner unterrichtet er sie in Hygiene, fördert den Handel und achtet darauf, dass die Frauen auf den Baustellen denselben Lohn erhalten wie die Männer. Wie engmaschig sein Netz an Kontakten ist, wird offenkundig, als nach ein paar Tagen bereits unsere Tochter in Kathmandu auftaucht.
Drei Männer warten vor der Ekanta Kuna. Einer trägt ein Bündel auf dem Arm. Schwarzes, dichtes, strubbeliges Haar leuchtet in der Sonne. Ungeduldig fahre ich meinen Computer herunter und informiere Lilian über die Ankunft der vier Besucher, die eigentlich erst am Nachmittag im Büro hätten ankommen sollen.
Tara sieht aus wie eine Zigeunerin. Mit grossen, dunklen Augen schaut sie um sich. Ihre Hände und Füsschen sind schmutzig. Seit langem sind ihre Kleider nicht mehr gewaschen worden. Nicht das Tuch, sondern die Körperwärme des Mannes schützt sie vor der Kälte. Sie riecht nach Natur und Armut. Dringend bräuchte sie ein Taschentuch. Und sie ist aus einer Welt, in der es keine Windeln gibt.
Der Mann mit dem Kind auf dem Arm ist misstrauisch. Seinem spindeldürren Gefährten mit dem Topi auf dem Kopf ist der Stuhl unbequem. Nur der dritte lächelt; die Fahrt sei gut gegangen, teilt er mit.
Gunsa ist ein Punkt, eine Stecknadel in Sindhupalchok. Was auf der Karte zwei Finger von Kathmandu entfernt ist, bedeutete für die Expedition eine Wanderung und Busfahrt von siebzehn Stunden, eine Weltreise.
«Welcome», eröffnet Sepp die Sitzung, während eine Didi Tee serviert. «Ich freue mich, seid ihr alle hier, und bin froh, dass Sanguitta für uns übersetzt», präzisiert er, worauf diese endlos lang zu reden beginnt, was die Situation leicht entspannt.
Taras Mutter sei an Tihar gestorben. Vermutlich habe sie schlechten Alkohol getrunken. Weil ihr Vater noch in Trauer sei, sei er in Gunsa geblieben. Allerdings, meint Sanguitta, sei er mit der Adoption einverstanden.
«Sie sieht kerngesund aus», stellt Sepp zufrieden fest und holt ein Babykleid hervor, derweil die Dolmetscherin uns informiert, im Hotel Clock Tower ein Zimmer reserviert zu haben. Ob wir Zeit hätten, ins Patan-Spital zu kommen, will sie geschäftig wissen, heute um 14 Uhr.
Das Gespräch ist so sachlich, dass für Emotionen wenig Platz bleibt. Lilian hält Tara kurz auf dem Arm, während ich mit der Hand über ihre Stirn fahre und dabei nichts, gar nichts spüre ausser den fremden Geruch in meiner Nase. Bahadur steckt Sepps Kleid ein. Sanguitta zählt das Geld für Kost und Logis. Es ist vorgesehen, dass die drei Bauern spätestens am Donnerstag zurück nach Gunsa fahren, der Ernte wegen.
Prem ist Taras Onkel. Er hat eine enge Beziehung zu dem Baby, das er wie ein Vater behandelt. Sein Misstrauen mir gegenüber lässt mich frösteln. Nimmt er mich als Konkurrenten, ja Feind wahr? Die ganze Angelegenheit ist ihm unangenehm und entspricht nicht seinem Willen. Er ist, ahne ich, gegen die Adoption.
Zurück an meinem Computer, läuft ein Stummfilm vor mir ab. Tihar, das Fest des Lichtes, kurz nach Dasain. Die kranke, hustende Mutter. Der Geruch von Dal Bhat. Ein Schamane schaut vorbei. Der Vater ist auf dem Feld. Seine Frau bleibt appetitlos. Ein Nachbar eilt den Berg hinunter in die Apotheke. Niemand stillt Tara. Das Baby schreit. Die Mutter stirbt. Die Beerdigung – Trauer.
Ist der Witwer in der Lage, über eine Adoption zu entscheiden, darüber nur nachzudenken? Es muss schwierig für ihn sein, das Baby ohne die Mutter zu betreuen. Vermutlich ist sein Kind ihm finanziell eine Last. Trotzdem befürchte ich, dass wir eine lokale Tragödie für eine internationale, für unsere Adoption ausnutzen. Und überhaupt, berauben wir Prem und seine Familie nicht ihres wichtigsten Gutes, ihrer Würde?
*
«Achtet darauf, dass sie auf keinen Fall aus der Flasche trinkt», warnt uns Doktor Steve. Die Menschen vom Land würden den Schoppen nicht kennen und die Hygiene missachten, was oft fatale Folgen habe. Es ist kurz nach 14 Uhr.
Er spricht so schnell, dass wir ihn kaum verstehen. Mit Tara allerdings ist er grossartig. Verspielt tastet und hört er sie ab und plaudert mit unserer Tochter, wie ich das gern täte. Welche Tests er machen solle, erkundigt er sich schliesslich.
Laut Gesetz muss ein Kind vor der Adoption auf HIV geprüft sein. Was sonst noch? Was wollen, müssen wir wissen? Sind wir bereit, ein krankes Kind in unserer Familie aufzunehmen? Auch ein todkrankes?
Obschon Prem im Patan-Spital ist, ziehen wir ihn nicht bei. Tatenlos sitzt der Onkel auf einem Stuhl, wie ein Lamm, das auf dem Adoptionsaltar geopfert wird.
Gereizt schaue ich Tara an und will sie liebhaben, das struppige Haar, die Rotznase und die kräftigen, braunen Beinchen. Allein, ich kann es nicht. Noch nie ist mir ein nepalesisches Kind so fremd vorgekommen wie jetzt meine eigene Tochter, als dieser ein weiterer Nadelstich in den Oberarm gemacht wird.
Tara ist gesund und munter. Quicklebendig strampelt sie, als sei es ein Vergnügen, auf Herz und Nieren geprüft zu werden, was in Gunsa unmöglich ist.
Nur flüchtig hatten wir uns überlegt, was tun, sollte unsere Adoptivtochter nicht gesund sein. Was lange nebensächlich und bei Matia Sanjay kein Thema war, ist jetzt existenziell. Schicken wir Tara bei einer Gelbsucht zurück? War ihre Mutter schizophren? Ihr Vater Alkoholiker? Hat sie einen Klumpfuss? Oder vielleicht Läuse?
«Nur das Minimum», bitten wir Doktor Steve.
*
Vor der Apotheke habe ich den Eindruck, ganz Kathmandu sei krank. Patienten sitzen auf Plastikstühlen oder liegen auf dem Fussboden. Die Fenster sind schmutzig. Es riecht nach Dal Bhat. Ein Krankenpfleger eilt durch den Raum. Eine Zeichnung fordert die Leute auf, sich impfen zu lassen. Eine Sirene heult. Tara, realisiere ich, ist eine Bedrohung.
Eine Idee hat unvermittelt ein Gesicht. Siebzehn Mal hatte ich dieses bereits fotografiert und mir immer wieder eingeredet, Tara sei jetzt, und zwar ab sofort, meine Tochter. Elf Monate ist das Baby alt, allein ihr Leben ist mir unbekannt, ein blinder Fleck, ein schwarzes Loch nur.
Ungeduldig beobachte ich, wie der Apotheker Rezepte prüft, dann zwischen seinen Regalen verschwindet und den Patienten endlich Pillen oder eine Flasche aushändigt. Langsam rücke ich vor, möchte aber eigentlich nie an der Reihe sein.
Tara verletzt meine Intimität. Mit Matia Sanjay sind wir eine Familie. Von der Zeugung bis zur Geburt, von der Nabelschnur bis zu den Windeln, vom ersten Lachen bis zur Wahl des Namens. Gefällt mir Tara überhaupt?
Die Pflegerin sticht zu. Das Baby schreit. Prem leidet. Passt sie in unsere Familie? Kann ich es mir vorstellen, Tara meine Zeit, Fürsorge und Liebe zu schenken, wie Matia Sanjay?
Mit dem Hustenmittel in der Hand bahne ich mir den Weg durch die Menge und suche den Raum, wo die letzten Tests gemacht werden, orientierungs- und ratlos.
*
Nach einer schlaflosen Nacht wissen wir nicht mehr, ob wir Tara adoptieren wollen. Ebenso wenig können wir es uns vorstellen, sie jetzt wie eine heisse Kartoffel fallen zu lassen. Reuig schlagen wir den Männern aus Gunsa vor, statt Tara zu adoptieren, ihre Gesundheit und Erziehung zu finanzieren, bis sie achtzehn Jahre alt ist. Das scheint uns das Minimum zu sein, nachdem sich unsere Lebenswege nun einmal gekreuzt haben. Sepp übermittelt das Angebot Sanguitta, die es Prem und seinen Gefährten übersetzt. Postwendend lehnen die drei es ab.
Bilden wir