Richtig sitzen - locker Rad fahren: Ergonomie am Fahrrad
Von Juliane Neuß
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Buchvorschau
Richtig sitzen - locker Rad fahren - Juliane Neuß
Einführung in die Ergonomie
Vom Brötchenholer zum Vielfahrer!
Einer Studie zufolge* fährt der durchschnittliche Deutsche etwa 300 km pro Jahr mit dem Fahrrad. Das ist sehr wenig. Zum Vergleich: In Holland fährt man gut 1000 km und selbst in Dänemark sind es noch 950 km.
Ich wage zu behaupten, dass einer der Gründe dafür die häufig unpassenden Fahrräder sind. In Holland und Dänemark ist der Anteil derer, die in der »echten« Hollandradposition fahren, relativ hoch. Diese Position ist auf kurzen Strecken ergonomisch unproblematisch, weil dabei weder Armnoch Rückenlänge berücksichtigt werden müssen.
Ein Hollandrad passt immer, wenn man allein die Sattelhöhe richtig einstellt.
Durchschnittlich besitzt in Deutschland fast jeder Mensch ein Fahrrad. Die geringe Fahrradnutzung liegt also nicht daran, dass keine Räder zur Verfügung stehen. Auch Siedlungs- und Infrastruktur sind nicht die einzigen Ursachen für den geringen Anteil des Radverkehrs. Trotzdem fahren viele Menschen nur extrem kurze Strecken und betrachten einen Ausflug von 20 Kilometern Länge schon als Tagestour. Diese Menschen sind für mich die klassischen »Brötchenholer«. Sie fahren zwar gelegentlich zum Bäcker, stellen aber bei Tagestouren nach wenigen Kilometern fest, dass ihre Räder ihnen zu unbequem sind. Manchmal wird dann ein anderer Sattel oder ein anderer Lenker montiert, vielleicht sogar ein vollgefedertes Rad gekauft, aber die grundsätzliche Unbequemlichkeit, die durch eine falsche Sitzposition entsteht, ist damit nicht behoben. Die »Brötchenholer« empfinden eine Tagestour von 20 bis 30 Kilometern schon als äußerst anstrengend. Fragt man sie nach dem Grund, werden nicht etwa schmerzende Beine angegeben, sondern Nacken-, Rücken-, Handgelenks- und Sitzprobleme. Alles Anzeichen für unpassende Räder. Diese Schmerzen kann man nicht wegtrainieren. Im Gegenteil: Das subjektive Belastungsempfinden steigt exponentiell mit der Länge der Fahrt an, sodass an größere Distanzen überhaupt nicht zu denken ist.
Wer sich aus gesundheitlichen oder ökologischen Gründen für eine verstärkte Nutzung des Fahrrades entschieden hat, kommt um eine korrekte ergonomische Anpassung nicht herum.
Wer vom »Brötchenholer« zum »Vielfahrer« werden möchte, muss gar nicht hoch trainiert einsteigen, sondern nur auf den alltäglichen Strecken genügend Spaß und weniger Schmerzen haben.
Eine Verlängerung der Fahrstrecken ergibt sich durch positive Erfahrung von allein. Wichtig ist nur, dass das Radfahren nicht als schmerzhaft oder unbequem empfunden wird. Der Mensch ist von Natur aus träge; er spart Energie, die er sich ja ursprünglich in Form von knapper Nahrung zuführen musste. Ohne diese natürliche Neigung wären viele Erfindungen nicht gemacht worden, die es dem Menschen erlauben, eigene Energie einzusparen. Das Fahrrad ist eine der energieeffizientesten Fortbewegungsmöglichkeiten des Menschen. Der durchschnittliche Radfahrer leistet 50 bis 100 Watt, wenn er für eine Geschwindigkeit von 15 Stundenkilometer in die Pedale tritt, ein Läufer braucht für eine ähnliche Geschwindigkeit unter gleichen Bedingungen das Drei- bis Vierfache.
Radfahrer reagieren sehr empfindlich auf Energieverlust. Wer viel Energie in die Abwehrspannung gegen eine unbequeme Sitzposition steckt, der wird Radfahren als anstrengend empfinden. Ein ergonomisch korrekt eingestelltes Fahrrad verlangt weniger Energie für die Haltearbeit auf dem Rad, dafür werden aber viele kleine Muskeln zur Stabilisierung eingesetzt.
Den höchsten Nutzen erzielt man, wenn die natürliche Faulheit durch Optimierung der Randbedingungen zur Leistungssteigerung führt. Das nennt man dann Effizienz.
Zum effizienten Radfahren gehören neben der Ergonomie der richtige (hohe!) Luftdruck im Reifen, ein möglichst leichtes Rad und eine sauber eingestellte und gewartete Technik.
Was ist Ergonomie?
Der Begriff Ergonomie hat sich in den letzten Jahren fast inflationär verbreitet. Immer soll signalisiert werden: Wo dieser Begriff verwendet wird, geht es um die Gesundheit und die individuellen Bedürfnisse des Körpers.
Das griechische Wort Ergonomie setzt sich aus den Begriffen »Ergo« für »Arbeit« und »Nomos« für »Regel« zusammen. Körperliche Arbeit soll bestimmten Regeln folgen, damit die Menschen keine körperlichen Schäden davontragen. Als der Begriff »Ergonomie« in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstand, war die industrielle Revolution in vollem Gange. Bis zu dieser Zeit war es üblich, dass ein Mensch einen Produktionsprozess vom Anfang bis zum Ende erledigte. Die industrielle Fertigung teilte Fertigungsschritte in immer kleinere Einheiten, sodass für den einzelnen Arbeiter eine wenig komplexe Arbeit mit wenigen, immer gleichen Handgriffen übrig blieb (wovon etwa der Film »Moderne Zeiten« mit Charlie Chaplin erzählt). Die Folge dieser Arbeitsteilung waren Monotonie und einseitige körperliche Belastung. Einseitige Belastung und Monotonie sind dem Menschen aber fremd. Jahrtausende lang haben Menschen bei ihrer Arbeit abwechslungsreiche Tätigkeiten ausgeübt, die sich zwar zyklisch wiederholten, aber in sich nicht einseitig waren.
Je geringer die Abwechslung während mehrstündiger Arbeit wurde, desto sorgfältiger musste man auf die Anpassung Mensch-Maschine achten.
Häufig wird Ergonomie nur als »Bedienergonomie« verstanden. Bedienergonomie heißt, dass der Mensch mit seinen Körperformen oder mit seinem Bewegungsradius zu dem jeweiligen Gerät passt. Bedienergonomie – oder man könnte auch sagen »Lage-Ergonomie« – heißt aber noch nicht, dass der Mensch dabei auch zu größerer körperlicher Leistung befähigt wird. Das kann nur die Leistungsergonomie. Leistungsergonomie ist eher »anstrengend bequem« und beachtet die Gelenkwinkel (Arbeitswinkel), die beim kraftvollen Bedienen eines Gerätes entstehen. Weil jeder Mensch andere Proportionen hat, muss in jedem einzelnen Fall das Gerät an den Menschen angepasst werden.
Ein gutes Beispiel, um die Fragestellung der beiden Ergonomiearten zu unterscheiden, ist die »Unterarmgehstütze«, landläufig Krücke genannt. Der Griff, auf dem die Hand ruht, ist nach Gesichtspunkten der »Bedienergonomie« konstruiert, und wenn man Glück hat, gibt es Modelle für große oder kleine Hände.
Die Höhenverstellung für die Position des Griffes dagegen hat Auswirkungen auf den Arbeitswinkel, den der Arm im Ellbogengelenk einnimmt. Diese Höhe ist bei jedem Menschen unterschiedlich. Nur, wenn der Arm im Stand leicht angewinkelt ist, kann man sich hochstemmen, um die Beine zu entlasten. Jede abweichende Position ist deutlich anstrengender oder funktioniert gar nicht. Mit diesem Problembereich beschäftigt sich die »Leistungsergonomie«. Wer schon mal in einem Fitness-Studio an Kraftmaschinen trainiert hat, weiß, wie sorgfältig die Trainer auf die richtige Einstellung der Geräte achten müssen, damit die aufgebrachte Kraft keinen Schaden an den Gelenken anrichtet. Auch dabei geht es um das Einhalten der richtigen Gelenkwinkel.
Der Handgriff an einer Unterarmgehstütze als Beispiel für Bedienergonomie.
Warum sollte das beim Fahrrad anders sein?
Auch auf dem Fahrrad zählen ausschließlich die Winkel, die der Körper einnehmen kann.
Durch die vielen Varianten in den Proportionen des Menschen kann man nicht die gesamte Geometrie des Fahrrades allein an der Beinlänge und der damit verbundenen Rahmenhöhe festmachen. Wer sein Fahrrad nur aufgrund der Beinlänge aussucht, berücksichtigt nicht die Rückenlänge und auch nicht die Armlänge, die keinesfalls genormt sind. Es gibt Menschen mit langen Beinen und kurzem Oberkörper und umgekehrt, und die Armlänge kann auch dabei noch variieren. Einer der Ersten, der beim Fahrradbau die Oberkörperproportionen der Radfahrer berücksichtigte, war Hugo de Rosa, der die Rennräder für Eddy Merckx und Francesco Moser mit unterschiedlichen Rahmenlängen baute, obwohl beide Fahrer die gleiche Schrittlänge hatten (siehe Grafik S. 22). Warum fällt es so schwer, die Körpermaße genau zu berücksichtigen? Wir kennen heute außer dem Fahrradfahren keine Tätigkeit mehr, die dem ganzen Körper des Menschen über Stunden Leistung abfordert und das auch noch im Zusammenhang mit einer »Maschine«, die auf Arme, Beine und Rumpf einwirkt. Zum Wandern brauchen wir lediglich Schuhe (und eventuell Wanderstöcke in der richtigen Länge), zum Schwimmen nur das Wasser; andere körperliche Tätigkeiten werden nicht mehr über längere Zeit ausgeübt. Es gibt eine Ausnahme: das Arbeiten mit der Sense!
Die Höhenverstellung der Unterarmgehstütze verändert den Armwinkel und zählt somit zur Leistungsergonomie.
Das Mähen mit einer Sense, was oft über viele Stunden am Stück ausgeübt wurde, erfordert neben Übung und der richtigen Technik vor allem eins, nämlich eine passende Sense. Eine Sense muss genauso sorgfältig an den Körper des Menschen angepasst sein wie ein Fahrrad. Nur so ist das ermüdungsfreie Arbeiten über lange Zeit möglich. Wenn wir unseren Schreibtischstuhl in der Höhe einstellen, dann brauchen wir nur darauf zu achten, dass wir mit den Füßen den Boden erreichen. Die Hände sollen im richtigen Winkel zur Tischplatte bzw. Tastatur gehalten werden können. Am Schreibtisch wird außer statischer Haltearbeit keine nennenswerte körperliche Leistung erbracht. Hier werden nur die richtigen Ruhewinkel gefordert. Ruhewinkel sind die normalen Gelenkwinkel, die der Körper aufgrund seiner anatomischen Gegebenheiten einnimmt. Fehlhaltungen werden lange toleriert und zur Not durch andere Fehlhaltungen und Verkrampfung der überforderten Haltemuskulatur kompensiert.
Ergonomisch korrekt ist »anstrengend bequem«
Wer denkt, dass man ergonomische Bequemlichkeit erreicht, indem man möglichst wenig die Muskeln benutzt, der irrt.
Ergonomisch korrektes Radfahren heißt immer, möglichst viele Muskeln an der Arbeit zu beteiligen. Jeder Muskel für sich soll nur wenig Arbeit haben und entsprechend lange die Leistung erbringen. Nur wenn viele Muskeln arbeiten, ist sichergestellt, dass einzelne Muskeln nicht überlastet werden. Außerdem muss jeder Muskel in dem Bereich arbeiten dürfen, für den er gebaut ist. Jeder Muskel hat einen optimalen Arbeitswinkel. Der Bizepsmuskel am Oberarm arbeitet am besten, wenn der Armwinkel kleiner als 90 Grad ist, wohingegen das Bein am liebsten fast ganz gestreckt ist. Das Ziel der Fahrradergonomie ist es, die wichtigsten Körper- und Arbeitswinkel zu erkennen und die Haltung auf dem Fahrrad nötigenfalls zu korrigieren.
Die Muskulatur ist nicht nur an der primären Leistung beteiligt, sondern hat auch eine wichtige Schutzfunktion für die Gelenke. Jedes Gelenk ist mit speziellen, oft sehr kleinen Muskeln ausgestattet, die, richtig angespannt und trainiert, das Gelenk vor Verschleiß schützen können. Die Gelenkflächen werden auf diese Weise auf Abstand gehalten, sodass keine zerstörerischen Kräfte auf die Knorpelflächen einwirken, sondern sich immer ein schützender Flüssigkeitsfilm zwischen den Gelenkflächen befindet. Besonders die Wirbelsäule mit den kleinen Wirbelgelenken braucht ausreichend Training und eine gesunde physiologisch korrekte Grundhaltung, um optimal zu funktionieren.
Ein korrekt eingestelltes Fahrrad, zusammen mit ein paar Verhaltensregeln für die Tritttechnik, ist die beste Grundlage für einen starken und gesunden Rücken und für stabile Kniegelenke.
Außerdem kann man auf einem ergonomisch optimierten Rad auch schwache Rückenmuskulatur wieder auftrainieren und dabei deutlich bessere Effekte erzielen, als in mühevoller und zeitraubender Arbeit an Kraftmaschinen im Fitness-Studio.
Im Gegensatz zum Hochleistungssport möchte Fahrradergonomie den Spaß und die Gesundheit durchs Radfahren erhalten. Im Leistungssport (und immer da, wo es um Geld geht) werden Höchstleistungen oft auf Kosten der Gesundheit erbracht. Ein Profi wird nach seiner Karriere nicht mehr gefragt, ob sein Rücken noch heil ist. Daher sind Aussagen über Sitzhaltung und Ergonomie von Rennsportlern mit Vorsicht zu betrachten. Viele Empfehlungen dienen der Optimierung von Geschwindigkeit, der Verringerung des Windwiderstandes und dem Einsparen von Rahmengewicht, nehmen aber wenig Rücksicht auf die physiologisch korrekte Körperhaltung des Fahrers.
Fahrradergonomie zielt besonders darauf ab, die zwei am stärksten gefährdeten Bereiche des menschlichen Körpers vor Überlastung zu schützen und gleichzeitig zu stärken: den Rücken bzw. die Wirbelsäule und die Knie.
Die Rückenmuskulatur ist heute schon bei vielen jungen Menschen nachweislich zu schwach und schlecht trainiert, weil viel zu viele Beschäftigungen im Sitzen und in der falschen Sitzhaltung ausgeübt werden. Fahrradfahren bietet die ideale Möglichkeit, Rückentraining mit gesunder, schneller und umweltfreundlicher Fortbewegung zu kombinieren.
Das Gleiche gilt für die Kniegelenke. Besonders durch Übergewicht und mangelndes Training haben heute viele Menschen Knieprobleme. Das Knie ist wie kein anderes Gelenk auf eine stabilisierende und stützende Muskulatur angewiesen, um auch in den späten Lebensjahrzehnten noch schmerzfrei arbeiten zu können.
Leider ruinieren sich viele Radfahrer die Knie durch eine unnötig tiefe Sitzposition und durch das Fahren in