Eine Kostprobe buddhistischer Praxis
Von Thaye Dorje
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Buchvorschau
Eine Kostprobe buddhistischer Praxis - Thaye Dorje
Die buddhistische Zuflucht
Die Motivation für die Zufluchtnahme
Wenn wir Zuflucht nehmen, ist unsere Motivation von großer Bedeutung. Wir Menschen sind auf eine logische Abfolge und Geschichte ausgerichtet. Wir betrachten zum Beispiel unsere Geburt und unsere physische Existenz als einen linearen Prozess, unser Geist hat sich an diese Sichtweise gewöhnt und wir sehen, denken und kommunizieren entsprechend. Die Zufluchtnahme ist bekannt als die Praxis, mit der wir den ersten Schritt auf dem Weg der Buddhas und Bodhisattvas gehen. Sie beginnt deshalb mit einer Motivation. Dafür würde ich den Ausdruck „Furcht benutzen, was merkwürdig erscheinen mag. Ich habe ja oft erwähnt, dass der Weg zur Erleuchtung nicht etwa mit Furcht, sondern mit Hingabe, Vertrauen, Mitgefühl, usw. gepflastert ist, sodass der Begriff „Furcht
in diesem Zusammenhang sehr widersprüchlich erscheinen könnte.
Das Phänomen, die Vorstellung, die Natur von Furcht unterscheidet sich nicht von anderen Phänomenen. Sie kann nicht absolut definiert werden als etwas ausschließlich Positives oder Negatives. Es handelt sich nur um eine Erfahrung, um ein Phänomen, und wenn es angemessen, also maßvoll eingesetzt wird, hat es einen entsprechenden Nutzen und seine eigenen Qualitäten.
Um zu verdeutlichen, wie wir aus Furcht Nutzen ziehen können, fällt mir der Einsatz von Gewürzen wie Chili ein. Einem Gericht ohne einen Hauch oder eine Spur von Gewürzen – ganz gleich welchen – mangelt es an Kraft, an wirklichem Geschmack. Entscheidend ist allerdings die richtige Dosierung.
Gift ist ein anderes Beispiel. Damit ein Medikament tatsächlich wirkt, muss eine gewisse Dosis Gift darin enthalten sein, denn das verleiht ihm seine Heilkraft.
So wird gesagt, dass wir die richtige Dosis von Furcht brauchen, um unsere Motivation zu bewahren und deren Triebkraft nicht zu verlieren. Keine Furcht in dem Sinne, dass wir vollständig von Schrecken erfüllt sind, sondern eher im Sinne eines Hauchs der Erkenntnis, dass die Dinge kostbar, dass sie rar und vergänglich sind. Es ist diese Einsicht, die ich auf gewisse Weise als Furcht beschreiben würde.
Unser erster Instinkt betrifft immer unsere eigene Person, also unseren eigenen Schutz und Nutzen. Wenn wir hinfallen, strecken wir sofort die Arme aus, um uns schützen. Die Zufluchtnahme beginnt mit dem Gefühl von Furcht, wir könnten diese kostbare Existenz und Gelegenheit möglicherweise verlieren. Sie ist kostbar aufgrund ihrer großen Qualitäten, denn sie ist der fruchtbarste Boden überhaupt, um etwas zu pflanzen, welche Saat auch immer wir pflanzen wollen. Sie ist zudem kostbar, weil wir sie jederzeit, im nächsten Augenblick schon, verlieren könnten. Das ist ein gesundes Maß an Furcht, die richtige Dosis, die uns anspornt und motiviert, uns dem buddhistischen Pfad zuzuwenden und diese Reise zu beginnen.
Die buddhistische Zuflucht wird traditionell immer so gelehrt, dass die Grundlage dafür die Furcht vor Samsara⁵ ist. Wenn wir nämlich den Emotionen nachgeben und beginnen, durch unsere Handlungen, Rede und Gedanken ungünstige Saat in unseren Geist zu pflanzen, verlieren oder trüben wir die uns innewohnende Klarheit immer weiter bis hin zu dem Punkt, wo wir überzeugt davon sind, überhaupt keine Klarheit zu besitzen! Wir meinen dann, die störenden Aspekte unseres Geistes oder Bewusstseins seien alles, was wir haben, und verlieren die Perspektive, dass es eine Hoffnung gibt. Deshalb heißt es in den Lehren, wir sollten eine Spur von Angst haben. Denn so geben wir den Emotionen so lange nicht nach, bis wir genügend Kraft gewonnen haben und in der Lage sind, von nichts mehr abhängig zu sein, weil wir die vollkommene Verwirklichung erlangt haben.
Ein verständiger Geist erkennt, wie man Dinge moderat und in geeignetem Maße nutzt, so wie es nötig ist. Dies kann für jeden einzelnen verschieden sein. Für manche Menschen ist es sehr klar, sich nicht durch äußere Umstände ablenken zu lassen. Sie erkennen, dass wir alle auf äußerst wechselhaftem und letzlich vergänglichem Grund stehen. Wenn man diese Tatsache verstanden hat und sich damit wohlfühlt, braucht man keine weiteren Ansätze oder Praktiken hinzuzufügen. Deshalb können sie bereits von diesem Punkt an zum nächsten Schritt übergehen.
Allerdings essen und trinken wir auch manchmal, obwohl unser Hunger bereits gestillt, der Durst gelöscht ist. Wir sind es jedoch gewohnt, uns ständig weiter etwas zuzuführen. In der gleichen Weise hat ein Dharma-Praktizierender zu einem gewissen Zeitpunkt bereits verstanden, was er aufgeben und was er verwirklichen sollte, und doch besteht die unnütze Gewohnheit fort, weiterhin zusätzliches und unnötiges Karma anzusammeln. Es geht darum zu verstehen, wie wir verschiedene Arten von Verständnis oder Erfahrung umsetzen. Für einige ist es der traditionelle Weg, der sie ausreichend für die Praxis motiviert. Dieser besteht darin zu erkennen, dass es ein Risiko, eine Gefahr gibt: Wenn wir diese äußerst günstige Gelegenheit jetzt nicht nutzen, könnten wir sie im nächsten Moment verlieren. Diesen Ansatz sollten sie dann umsetzen.
Ohne von Furcht völlig überwältigt zu werden, sollten wir dann darauf achten, dass wir keine Zeit und Energie verlieren oder anderweitig verschwenden. So können wir sogenannte Verdienste ansammeln und verbunden damit die Erfahrung und das Wissen, das Weisheit genannt wird.
Das Ziel dabei ist letztlich kein anderes, als Klarheit zu erlangen und diese zu vervollkommnen. Es kann jedoch individuell verschieden sein. Es gibt unterschiedliche Arten, die Zuflucht zu praktizieren. Eine davon ist bekannt als der Weg der Bodhisattvas⁶. Für diejenigen, die diesem Weg folgen wollen, ist es noch bedeutsamer oder interessanter zu erkennen, dass es nicht nur um den eigenen Nutzen geht, sondern auch um alle anderen fühlenden Wesen. In diesem Fall ist die Fürsorge – der mitfühlende und liebende Teil in uns selbst – so stark, dass eine größere Bewusstheit besteht. Der Instinkt, für sich selbst zu sorgen, ist immer noch vorhanden, aber gleichzeitig versteht man, dass man in einer Position ist, in der man etwas völlig Neues tun kann. Es ist ein Ausgangspunkt, durch den man diese Verwirklichung nicht nur für sich selbst, sondern auch für alle anderen erlangen