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Raddampfermord in Carolinensiel. Ostfrieslandkrimi
Raddampfermord in Carolinensiel. Ostfrieslandkrimi
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eBook302 Seiten4 Stunden

Raddampfermord in Carolinensiel. Ostfrieslandkrimi

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Über dieses E-Book

Eine Leiche auf dem Ausflugsschiff Concordia! Ulrike Naumann wird vor ihrem eigenen Haus brutal entführt. Wenig später werden die schlimmsten Befürchtungen Gewissheit: Die Staatsanwältin, die sich erst vor Kurzem ins beschauliche Ostfriesland hat versetzen lassen, wird auf dem Raddampfer Concordia II. in Carolinensiel ermordet aufgefunden. Hat ein Krimineller, den Ulrike einst ins Gefängnis brachte, Rache geübt? Oder hat die Tat doch einen persönlichen Hintergrund? Besonders tragisch: Erst vor Kurzem hatte Ulrike endlich ihre große Liebe gefunden. Die Kommissare Nina Jürgens und Bert Linnig von der Kripo Wittmund stehen schon bald vor einer paradoxen Situation. Es gibt nämlich gleich zwei Hauptverdächtige mit einem starken Motiv, und bei beiden würden die belastenden Indizien locker für einen Prozess ausreichen. Aber zwei Täter ist einer zu viel. Und außerdem können die ostfriesischen Ermittler nicht einmal die Möglichkeit ausschließen, dass keiner der beiden die Staatsanwältin auf dem Gewissen hat und im Hintergrund ein lachender Dritter die Fäden zieht …

SpracheDeutsch
HerausgeberKlarant
Erscheinungsdatum13. Sept. 2023
ISBN9783965868410
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    Buchvorschau

    Raddampfermord in Carolinensiel. Ostfrieslandkrimi - Rolf Uliczka

    Prolog

    Es war Mittwoch der ersten Märzwoche, und Oberstaatsanwältin Ulrike Naumann versuchte in die Gegenwart zurückzufinden. Sie lag auf dem Rücksitz eines fahrenden Autos. Heftiger Regen prasselte gegen die Windschutzscheibe, sodass die Wischer es kaum schafften. Langsam kam die Erinnerung zurück, sie war von einem Bankett in Oldenburg gekommen und auf dem Weg zu ihrem Schatz gewesen. Aber wie war sie hier in das Auto gekom­men? Ihr eigenes schien es nicht zu sein.

    Sie lag mit dem Kopf hinter dem Beifahrersitz und versuchte sich langsam aufzurichten. Ihre Hände waren mit einem Kabel­binder zusammengebunden. Ihre Beine waren angezogen, bedingt durch den begrenzten Platz quer auf dem Rücksitz. Ihre Füße konnte sie aber frei bewegen. Am Steuer saß eine Person mit einer Kapuze auf dem Kopf. Als sie etwas hochkam, sah sie, dass sie durch ein Wohngebiet fuhren. Sie tastete mit ihren zusammen­gebundenen Händen die Autotür ab, bis sie den Türöffner spürte. Ulrike war sportlich zwar recht fit, um aber aus einem fahrenden Auto, zudem mit gefesselten Händen, springen zu können, hätte sie eine versierte Stuntfrau sein müssen.

    Sie hoffte daher, dass der Fahrer zur Bremsung gezwungen wäre, sobald sie versuchen würde, die Tür zu öffnen.

    Und genau das passierte, als die Tür sich öffnete. Der Fahrer machte eine Vollbremsung. Ulrike war in diesem Moment heil­froh, dass die Tür nicht durch eine Kindersicherung gesichert war.

    Dann ging alles sehr schnell, wobei der Oberstaatsanwältin ihre zierliche Figur zum Vorteil wurde. Sie sprang wieselflink aus dem Auto, obwohl sie immer noch etwas benommen war. Dann rannte die sehr gut trainierte Joggerin in einen Weg zwischen zwei Häusern hinein und rief um Hilfe. Irgendwie kam aber nur ein Krächzen heraus. Der Fahrer musste erst einmal um sein Auto herumlaufen, wodurch sie einen kleinen Vorsprung hatte.

    Vor ihr tauchte im schwachen Licht einer Straßenlampe ein weißes Geländer auf. Dann sah sie den Liegeplatz des Rad­dampfers Concordia II, den sie kannte, da sie mit Bennek damit schon eine Fahrt auf der Harle bis zum Yachthafen Harlesiel und zurück unternommen hatte. Sie hatte keine Ahnung, warum ausgerechnet jetzt unwillkürlich die Bilder von der Fahrt mit dem Raddampfer vor ihrem geistigen Auge erschienen. Es war ein wunderschöner Sommertag im August gewesen. Ulrike war mit ihrer neuen Liebe, Bennek Watermülder, im Café Heimathafen verabredet.

    »Das Café ist für seine tollen riesigen Torten bekannt«, hatte er geschwärmt. »Und nach dem Kaffeetrinken machen wir eine Raddampferfahrt auf der Harle bis zum Yachthafen in Harlesiel.«

    Bennek hatte nicht zu viel versprochen … Doch in diesem Moment wurde sie in die grausame Realität zurückgeholt. Sie war beim Ende des Geländers angekommen und es schüttete immer noch wie aus Eimern. Auf dem begrünten Deichhang kam sie barfuß ins Rutschen! Ihre Pumps musste sie irgendwie verloren haben. Sie raffte sich auf und rannte zum Schiff. Waren es die Bilder, die ihr gerade durch den Kopf gegangen waren? Irgendwie fühlte sie sich von dem Raddampfer magisch angezogen.

    Die Gestalt hinter ihr war nur noch wenige Meter entfernt, aber auch ins Rutschen gekommen. Ulrike wusste nicht, warum sie ausgerechnet die kurze Gangway zu dem kleinen Ausflugs­dampfer hinunterlief. Sie wollte sich gerade über die Absperrung schwingen, da traf sie ein Stich in den Rücken und sie schrie auf …

    1. Kapitel

    Oberstaatsanwältin Ulrike Naumann war von Carolinensiel aus auf dem Weg zu einem Bankett nach Oldenburg. Anlass war der Stabwechsel an der Spitze der dortigen Generalstaatsanwalt­schaft, der an diesem Mittwoch der ersten Märzwoche stattfinden sollte. Der zu Verabschiedende und sein Nachfolger hatten beschlossen, diesen Wechsel in einer gemeinsamen Veranstal­tung zu vollziehen. Auch die Partnerinnen und Partner der Staatsanwälte des gesamten Bezirkes waren mit eingeladen. Für die Kolleginnen und Kollegen des Zuständigkeitsbereiches des Auricher Landgerichtes war von dort aus ein Bus gechartert worden.

    Eigentlich hätte Ulrikes neuer Lebensgefährte Bennek Water­mülder, bei dem sie in Carolinensiel erst kurz vor dem Jahres­wechsel eingezogen war, sie begleiten sollen. Ihm war allerdings ein wichtiger Geschäftstermin mit einem Klienten in New York dazwischengekommen und er sollte ursprünglich erst morgen zurückkommen. Zwar war gestern der Rückflug kurz­fristig auf heute vorgezogen worden, allerdings würde Benneks Maschine erst am späten Nachmittag in Düsseldorf landen, sodass es für das Bankett trotzdem nicht mehr reichen würde.

    Um nach Ende der Veranstaltung schneller wieder bei ihrem Schatz sein zu können, war die Oberstaatsanwältin mit dem eige­nen Wagen gefahren, was allerdings heute kein ausgespro­chenes Vergnügen war. Ein großes Tiefdruckgebiet zog von der Nordsee her über das Land. Aber was tat man nicht alles für die Gefühle, und die brannten seit dem letzten Sommer endlich bei ihr mal wieder lichterloh. Eigentlich, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte das Feuer der Gefühle noch nie in dieser Form bei ihr gelodert.

    Dabei war Ulrike mit Mitte vierzig wahrlich kein Teenager mehr. Aber mit ihrer schlanken, zierlichen Figur, ihren halb­langen blonden Haaren, strahlend blauen Augen und ihrem sym­pathischen Lächeln zog sie immer noch manchen Männer­blick auf sich. Ihr beruflicher Ehrgeiz schirmte aber die meisten davon ab, sodass diese gar nicht erst bis zu ihrer Wahrnehmungs­ebene durchdrangen. Ihre gescheiterte Ehe hatte sie dem Karrieregott geopfert, wie sie es gerne nannte. Für Kinder war daher auf ihrer Agenda kein Platz geblieben, was schlecht in das klassische Rollenverständnis ihres geschiedenen Mannes gepasst hatte.

    Und dann war ihr im letzten Sommer Bennek begegnet. Das Thema Kinder war bei dem fast Fünfzigjährigen mit einer inzwi­schen erwachsenen und selbst verheirateten Tochter und einem ebenfalls erwachsenen Sohn bereits abgeschlossen. Seine Tochter hatte ihn sogar schon mit einer kleinen zweijährigen Enkelin zum Opa gemacht. Zu beiden seiner Kinder war es Ulrike gelungen, eine gute Beziehung aufzubauen. Und so hatte sie bereits nach wenigen Monaten ihren eigenen Hausstand in ihrer Mietwohnung in Aurich aufgelöst und war in Benneks großes Haus nach Caroli­nensiel gezogen.

    Dieser führte in Wittmund eine Anwaltskanzlei. Aber im Gericht waren Ulrike und er sich bis zum Zeitpunkt ihres ersten Zusammentreffens noch nicht begegnet. Der drahtige sie nur wenige Zentimeter überragende Jurist mit seinem glatt rasierten im Sommer braun gebrannten Charakterkopf und seinen markan­ten Gesichtszügen war Ulrike schon bei ihrer ersten Begegnung sofort ins Auge gesprungen. Wobei ihr erstes Zusam­mentreffen nicht gerade an einem Ort stattgefunden hatte, den man als Klassiker für ein erstes Date ansehen würde. Hinzu kam noch, dass weder er noch sie zum Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung gerade in Flirtlaune und auf Partnersuche gewesen waren.

    Aber wie das Leben manchmal so spielte. Der zertifizierte und erfahrene Watt- und Nationalparkführer Uffe Ostendorp aus Carolinensiel hatte an jenem Samstagmorgen eine Wanderung durchs Watt von Harlesiel nach Spiekeroog im Programm gehabt.

    Ulrike hatte mit einer langjährigen Freundin aus Oldenburg und Bennek mit einem neu zugezogenen Klienten daran teilnehmen wollen. Für Ulrike war es im Gegensatz zu ihrer Freundin erst ihre zweite Watt-Tour dieser Art. Bennek wiederum war ein erfahre­ner Wattläufer, durch den sein Klient erst auf die Idee gekommen war, mit ihm an einer solchen Wanderung teilzunehmen.

    Es war das erste richtig warme Wochenende im vergangenen Juli gewesen. Die Oberstaatsanwältin sah es noch wie heute vor ihrem geistigen Auge:

    Ulrike war mit einer Kommilitonin aus ihrer Studienzeit in Olden­burg, mit der sie bis heute befreundet war, für eine Wattwande­rung von Harlesiel nach Spiekeroog verabredet gewesen. Am Abend vorher bekam sie den Anruf, dass ihre Freundin wegen einer Sommergrippe kurzfristig absagen musste. Eigentlich hatte die Juristin daraufhin schon vorgehabt, auch auf die Tour zu verzichten. Da aber im Wetterbericht für das ganze Wochenende blauer Himmel und strahlender Sonnenschein vorhergesagt worden waren, entschloss sie sich alleine mitzugehen, zumal die Teilnahme schon angemeldet und auch bezahlt war. Auch die Übernachtung in der Ferienwohnung auf Spiekeroog war bereits gebucht und bezahlt.

    Als sie beim Hundestrand ankam, der in Harlesiel unmittelbar neben dem Wattkieker, einem SB-Restaurant für Fischspezialitä­ten, lag, fiel ihr sofort der sportliche Mann mit dem markanten Profil auf, der sich gerade mit Uffe, dem Wattführer, unterhielt. Auch sie kannte Uffe mit seinem blonden Wuschelkopf, dem wettergegerbten sympathischen Gesicht und immer einem Lächeln auf den Lippen bereits von einem kleinen Wattspazier­gang in Ufernähe, an dem sie vor Kurzem erst teilgenommen hatte. Sie ging also zu ihm, um ihm zu sagen, dass ihre Freundin leider wegen einer Grippe absagen musste.

    »Moin Ulrike, das ist ja schade, dass deine Freundin krank geworden ist«, sagte Uffe nach der Begrüßung. Dann fügte er noch hinzu: »Ich denke, ihr beide kennt euch.«

    »Sollten wir?«, wollte Ulrike wissen.

    »Ihr seid doch beide Juristen«, antwortete der Wattführer. »Und Benneks Kanzlei betreut mich schon seit Jahren anwaltlich und notariell.«

    »Moin, ich bin Bennek Watermülder«, stellte sich der Angespro­chene vor. »Aber ich könnte mich auch nicht erinnern, dass wir uns schon mal begegnet sind.«

    Bevor Uffe noch aufklärend einwirken konnte, wurde er von einem anderen angemeldeten Teilnehmer der Wattwanderung angesprochen.

    »Ich bin Oberstaatsanwältin Ulrike Naumann«, stellte sich die Juristin vor.

    »Ach, Sie sind das. Man sprach davon, dass eine noch recht junge Oberstaatsanwältin den Posten in Aurich übernimmt. Dann sind Sie noch nicht so lange hier. Übrigens, sorry, wir sind hier nicht bei Gericht, sondern bei der Wattwanderung, da gilt ja das Du!«

    »Habe ich inzwischen auch schon gelernt. Bin aber tatsächlich erst ein halbes Jahr hier. Vorher war ich in Bremen als Ober­staatsanwältin tätig«, antwortete Ulrike lachend. »Und du führst eine Kanzlei, wenn ich das richtig verstanden habe?«

    »Ja, in Wittmund. Eigentlich hätte man sich da doch trotzdem schon mal im Gericht begegnen können«, wunderte sich Bennek.

    »Ich bin überwiegend im Landgericht Aurich zuständig und komme daher selten ins Wittmunder Amtsgericht. Bist du alleine bei der Tour nach Spiekeroog?«, fragte Ulrike.

    »Eigentlich nicht. Ich war mit einem neuen Klienten verab­redet.«

    »Ah, das nennt man heute, glaube ich, im Marketing Kunden­bindung«, konnte sich Ulrike lachend die Bemerkung nicht verkneifen.

    »Nee, normalerweise führe ich meine Klienten weder als Härtetest noch zur Klientenbindung ins Watt«, erwiderte Bennek ebenfalls lachend. »Aber ich hatte ihm gestern in meiner Kanzlei davon erzählt, dass ich das vorhergesagte schöne Wetter am Wochenende für eine Wanderung durchs Watt nach Spiekeroog nutzen wollte. Und da fragte er mich, ob ich ihn mitnehmen könnte. Er wollte sowas schon immer mal machen. Bis dahin hatte er nur an ein paar kleineren Touren teilgenommen. Ich habe ihn dann nachgemeldet, und zurück wollten wir die Fähre nehmen.«

    »Da macht der erst Wallung und dann kneift er. Auch nicht die feine englische Art, wie man früher zu sagen pflegte«, wunderte sich Ulrike. »Oder hatte den auch die Sommergrippe befallen?«

    »So ähnlich. Er hat mich heute früh auf Handy angerufen. Er sagte, dass ihm gestern wohl das Essen nicht bekommen sei und im Watt die nächste Toilette doch etwas weit entfernt wäre.«

    »Das kann ich verstehen. Und deine Frau hatte keine Lust mitzugehen?« In Ulrikes Bauch begann es zu kribbeln.

    »Wir sind schon lange getrennt … wie das Leben heute manch­mal so spielt. Und wie ist das bei dir?«

    »Ebenso. Das Leben ist bekanntlich kein Wunschkonzert.« Die Schmetterlinge in Ulrikes Bauch schienen einen Freudentanz aufzuführen. Dabei ahnte sie in diesem Moment noch nicht, dass es Bennek ganz ähnlich erging.

    Als Uffe die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Wattwande­rung für eine Einweisung zusammenrief, war es wie selbstver­ständlich, dass die beiden gemeinsam zum Sammelplatz neben dem Hundestrand gingen. Es hätte nur gefehlt, dass sie Hand in Hand gegangen wären.

    Bei der Begrüßung der Wattläufer hatte Uffe bereits mit seinem erfahrenen Kontrollblick und entsprechenden Fragen geprüft, ob alle die richtige Bekleidung und Ausrüstung dabeihatten. Eigent­lich war die Gruppenstärke auf fünfundzwanzig Teilnehmer begrenzt. Zwei Anmeldungen waren ausgefallen, aber heute Mor­gen waren noch unangemeldet zwei Ehepaare dazugekom­men. Und da die Wetterbedingungen ausgesprochen gut waren, nahm Uffe heute siebenundzwanzig Personen mit auf die Tour.

    Nachdem der Wattführer nochmal auf die wichtigsten Verhal­tensregeln im Watt, insbesondere beim Durchqueren der Priele und Schlickbereiche, hingewiesen hatte, sagte er: »Wie den meis­ten von euch bekannt sein dürfte, wird Spiekeroog auch als die grüne Insel bezeichnet. Das hat sie unter anderem auch ihrem relativ großen Baumbestand zu verdanken. Wie auf allen Ost­friesischen Inseln wird von Vogel- und Naturschutz nicht nur geredet, dieser wird gerade auch auf Spiekeroog gelebt.«

    »Kann man wohl sagen«, bestätigte einer der Teilnehmer. »Auf Spiekeroog ist selbst das Fahrradfahren nur eingeschränkt er­laubt.«

    »Deswegen gehen wir ja jetzt auch zu Fuß durchs Watt!«, rief ein anderer Mann zur Erheiterung der Gruppe.

    »Dann wollen wir die grüne Insel nicht länger auf uns warten lassen«, sagte Uffe und ging voraus ins Watt.

    Bei der heutigen klaren Sicht war die Silhouette von Spiekeroog am Horizont gut zu erkennen. Sie waren schon eine Weile gelau­fen, als Uffe mit einer kleinen Forke aus einem der berühmten Sandkringel im Watt den ersten Wattwurm aus dem freiliegenden Meeresboden holte. Nicht jeder der Wattwanderer mochte den Wurm in die Hand nehmen, bevor er wieder in die Freiheit entlas­sen wurde und sich weiter seiner – im wahrsten Sinne des Wortes – Drecksarbeit widmen konnte. Manchem war der Anblick des sich in der Hand kräuselnden Wurmes doch zu ekelig.

    Einen Schönheitswettbewerb unter Würmern hätte diese Spezies sicher nicht gewonnen. Aber Uffe informierte seine staunenden Zuhörer darüber, dass die Wattwürmer als Sandfresser jährlich den gesamten Boden des Wattenmeeres umgruben und damit Lebensgrundlage für unzählige andere Meeresbewohner schaff­ten.

    »Deshalb verdienen diese Würmer unseren größten Respekt!«, klärte Uffe die Gruppe auf. »Sie verdauen die Giftstoffe und scheiden den Rest wieder aus.«

    »Das klingt ja fast so, als wären die Wattwürmer die Ökopolizei des Wattenmeeres«, sagte Ulrike.

    »So kann man es auch sagen!«, bestätigte Uffe lachend. »Darü­ber hinaus beherbergt das Watt unzählige andere kleine Würmer, Schnecken, Muscheln und Krebse, die wiederum Nahrungsgrund­lage für viele Vögel und Fische sind. Uns wird sicher noch das eine oder andere Watt-Tierchen auf unserem Weg begegnen.«

    »Davon habe ich schon viel gehört«, meldete sich eine andere Teilnehmerin zu Wort. »Es ist die erste Wattwanderung für meine Freundin und mich. Daher bin ich sehr gespannt auf das, was uns heute noch an Sehenswertem begegnen wird.«

    »Ihr werdet heute sicher noch einiges zu sehen bekommen, das kann ich euch versprechen«, sagte Uffe. »Allerdings haben wir noch fast zehn Kilometer vor uns, und die See folgt gnadenlos dem Rhythmus der Gezeiten. Das Wasser wird sich daher von seiner Rückkehr ins Watt nicht aufhalten lassen, nur weil wir Spiekeroog noch nicht erreicht haben. Deshalb werden wir uns nicht jedes Mal so lange aufhalten können wie bei unserem Watt­wurm.«

    »Das ist aber schade!«, sagte eine andere Teilnehmerin.

    »Wenn du oder auch andere von euch daran besonders interes­siert sind – dafür haben wir verschiedene Wattwander-Angebote mit speziellen Themen, die dann in Küstennähe stattfinden und bei denen zum Beispiel für das vielfältige Biotop Watt mehr Zeit zur Verfügung steht. Aber jetzt wollen wir erst einmal ein wenig Strecke bis zum ersten Priel hinter uns bringen«, schloss der Wattführer fürs Erste die Diskussion.

    Bis zum ersten Priel hatte sich die Wandergruppe schon ein wenig auseinandergezogen. Als die vorderen Wanderer den Priel erreichten, ging Uffe voran in das sich ins weite Meer zurück­ziehende Wasser und sagte: »Zügig den Priel durchqueren und auf den Nachbarn achten. Vor allem da, wo es tiefer wird, ist die Strömung ziemlich stark. Die Großen, Kräftigeren helfen den Kleineren und etwas Schwächeren. Ich bin gleich wieder bei euch.«

    Dann ging er zurück, um auch den etwas weiter hinten Nach­folgenden entsprechende Anweisungen zu geben. Ulrike und Bennek bildeten schon nach kurzer Zeit deutlich die Nachhut. Sie waren so sehr in ihr Gespräch vertieft, dass sie gar nicht darauf achteten, dass Uffe schon eine ganze Weile vor dem Priel auf sie wartete.

    Bennek hatte Ulrike gerade gefragt: »Für eine Oberstaats­anwältin bist du aber tatsächlich noch verdammt jung, und dann zieht es dich auf einmal in die ostfriesische Provinz?«

    Bevor die beiden Nachzügler Uffe erreicht hatten und Ulrike antworten konnte, mischte sich Uffe, dem der Wind Teile von Benneks Frage zugeweht hatte, in das Gespräch ein: »Na, ihr seid mir ja zwei! Vorhin habt ihr euch noch nicht einmal gekannt und seid jetzt bereits so mitten in Fachgesprächen vertieft, dass ihr den Anschluss zur Gruppe verloren habt.«

    »Mach dir keine Sorgen, Uffe. Wir kommen schon klar«, antwortete der Anwalt.

    »Bennek, dass du klarkommst, da habe ich keinen Zweifel. Wenn du nicht als Anwalt dein Geld verdienen würdest, könntest du bald selbst als Wattführer fungieren. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Touren wir beide schon zusammen zu den Ostfriesi­schen Inseln unternommen haben.«

    »Wohl wahr. So eine Wattwanderung öffnet einem Geist und Seele. Daher nutze ich das, sooft Wetter und meine Termine es zulassen.«

    »Okay, seht mal zu, dass ihr mehr dranbleibt. Ich muss mich vorne wieder um die anderen kümmern.«

    Die Nachzügler, die beide nicht zu den Größten gehörten, hatten schon sehr bald durchnässte Shorts. Ulrike, die erst das zweite Mal überhaupt im Watt war, hatte sogar ein wenig Schwierig­keiten, nicht von der Strömung mitgerissen zu werden, sodass die beiden schließlich Hand in Hand durch den Priel wateten. Als sie die Sandbank erreichten, machte sich die Gruppe, die sich dort ein wenig erfrischt hatte, bereits wieder auf den Weg und Uffe rief ihnen noch zu, dass sie nach einer ganz kurzen Rast versuchen sollten, den Anschluss wiederzufinden.

    Nachdem Ulrike und Bennek etwas getrunken hatten, folgten sie auch gleich der Gruppe, um den Abstand nicht zu groß werden zu lassen.

    »Ulrike, du bist mir noch eine Antwort schuldig«, erinnerte Bennek seine Begleiterin.

    »Ach so, ja. Du wolltest wissen, was mich in die Provinz ver­schlagen hat.«

    »Genau, wer so früh schon Oberstaatsanwältin wird, hat doch durchaus in einer Stadt wie Bremen eines Tages sogar die Möglichkeit, noch Generalstaatsanwältin werden zu können.«

    »Bennek, du bist als Anwalt und Notar gewohnt, vertrauliche Dinge für dich zu behalten. Zudem habe ich mitbekommen, dass der Wattführer dich offensichtlich schon lange Jahre zu kennen und dir sehr zu vertrauen scheint. Normalerweise würde ich deine Frage nämlich nicht beantworten.«

    »Was ist denn daran so geheimnisvoll?«, fragte der Anwalt, obwohl er sich die Antwort jetzt schon fast denken konnte. Daher fügte er noch hinzu: »Es sei denn, du bist irgendwelchen Leuten in Bremen zu nahe gekommen.«

    »Stimmt, genau das. Ich war dort bei der Generalstaats­anwaltschaft unter anderem für Delikte wie Mord zuständig. Eines Tages hatte ich kommentarlos einen Briefumschlag in meinem Briefkasten, der einige Fotos enthielt. Diese zeigten mich mit einer Freundin, mal im Theater, mal im Café und mal im Kino.«

    »Das hört sich gar nicht gut an. Hattet ihr denn einen bestimmten Verdacht?«

    »Nicht nur einen. Dafür kamen zwei Fälle in Betracht, an denen ich gerade arbeitete. Wir hatten schon Personenschutz in Betracht gezogen, und ich bin selbst beim Jogging nicht mehr ohne kleinkalibrige Pistole aus dem Haus gegangen. Aber das Hauptproblem war meine Freundin. Ich bekam nach kurzer Zeit nochmals Fotos, die aber diesmal meine Freundin alleine zum Beispiel beim Einkaufen im Supermarkt zeigten.«

    »Und dann war dir deine Freundin wichtiger als deine Karriere, oder?«

    »So ungefähr.«

    »War das die, mit der du heute an der Wattwanderung teilneh­men wolltest?«

    »Nein, ins Watt wollte ich mit einer anderen Freundin, die ich schon seit meiner Zeit an der Oldenburger Uni kenne. In Oldenburg bin ich übrigens auch geboren und aufgewachsen. Zurzeit vermeide ich jeden Kontakt nach Bremen.«

    »Und nach Oldenburg hättest du nicht gehen können? Die haben doch auch eine Generalstaatsanwaltschaft.«

    »Aber keine Stelle frei. Und in Aurich ging der dortige Oberstaatsanwalt gerade in Pension und sein designierter Nach­folger bekam plötzlich gesundheitliche Probleme und befindet sich inzwischen im Vorruhestand, wie du ja sicher weißt. Na, und wie sieht es bei dir aus?«, konnte Ulrike ihre gerade neu geweckte weibliche Neugier nicht zurückhalten. »Von mir kennst du ja jetzt schon fast die halbe Vita.«

    »Na ja, eigentlich war mein Werdegang auch mal etwas anders geplant gewesen. Nach meinen ursprünglichen Vorstellungen hätte dieser nicht mit einer kleinen Anwaltskanzlei in meiner ostfriesischen Heimatstadt Wittmund enden sollen. Für die Über­nahme der Kanzlei unseres Vaters war eigentlich mein zwei Jahre älterer Bruder vorgesehen. Aber dem war das Jurastudium zu trocken und er hat nach dem Ersten Staatsexamen zur Betriebs­wirtschaftslehre gewechselt und dort sein Diplom gemacht.«

    »Und du hast dann das Jurastudium durchgezogen und an seiner Stelle die Kanzlei eures Vaters übernommen, oder?«

    »Ja, so ähnlich. Mein Bruder ist in ein mittelständisches Unter­nehmen mit eingestiegen und ich übernahm die Kanzlei unseres Vaters. Dabei hatte ich damals eigentlich sogar ans Auswandern gedacht und von der Harvard University geträumt.«

    »Wow, Überflieger?!«

    »Nee, das nicht, auch wenn ich nicht schlecht war. Aber ich war schon mal als Austauschschüler in den USA gewesen, und seitdem stand Auswandern auf meiner Agenda. Und in Bezug auf Harvard haben mich allein die Studiengebühren und Unterhalts­kosten ganz schnell aus meinen Träumen gerissen. Wobei noch die Frage gewesen wäre, ob die mich überhaupt angenommen hätten. Aber trotzdem habe ich mich auch im Studium für das amerikanische Gesellschaftsrecht des Mittelstandes interessiert.«

    »Aber da wusstest du doch, spätestens nachdem dein Bruder das Studienfach gewechselt hatte, dass du mal die Kanzlei deines Vaters übernehmen solltest, oder?«

    »Das schon, aber das war für mich gefühlt noch ganz weit weg. Mein Vater führte die Kanzlei und er dachte auch selbst noch lange nicht daran, diese an mich zu übergeben. Der Einfachheit halber arbeitete ich allerdings nach meinem zweiten Staats­examen erst einmal in der Kanzlei meines Vaters. Aber dann bekam er einen Herzinfarkt und musste kürzertreten, und nach dem zweiten führte er die Kanzlei nur noch nach außen hin. Den Rest kannst du dir denken. Ich hatte inzwischen meine damalige Frau kennengelernt, und schon bald kamen meine Tochter und mein Sohn auf die Welt. Die Realität hatte mich auf den Boden der Tatsachen geholt.«

    »Aber ein Garant für dauerhaftes Eheglück scheint das ja nicht gewesen zu sein.«

    »Wie sagtest du vorhin so treffend?

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