Vom Umgang mit Gauklertricks, Absolutheitsansprüchen und kalter' Gewalt: Gegenseitigkeit als Orientierungshilfe in unübersichtlichen Zeiten
Von Michael Freiberg
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Über dieses E-Book
Michael Freiberg
Im Oktober 2023 werde ich 70 Jahre alt, bin seit über 40 Jahren verheiratet und habe mit meiner Frau Brigitte drei Kinder und fünf Enkelkinder. Unsere Tochter wohnt im Vorderhaus mit zwei Söhnen. So haben wir ein Zusammenleben von drei Generationen auf einem Grundstück. Ich studierte Pädagogik in meiner Heimatstadt Köln, um dann sieben Jahre in der Heimerziehung für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche zu arbeiten. Nach meiner Umschulung zum Informatiker wurde ich mit Aufgaben in der Computersicherheit, Business Continuity und dem Schutz Kritischer Infrastrukturen betraut.
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Buchvorschau
Vom Umgang mit Gauklertricks, Absolutheitsansprüchen und kalter' Gewalt - Michael Freiberg
Vom Umgang mit Gauklertricks, Absolutheitsansprüchen und ‚kalter‘ Gewalt
Gegenseitigkeit als Orientierungshilfe in unübersichtlichen Zeiten
Michael Freiberg
© 2023 Michael Freiberg
ISBN Softcover: 978-3-347-91152-9
ISBN E-Book: 978-3-347-91153-6
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Covergestaltung: Annika Damico, Foto Seite 7: GGS Müngersdorf, Foto Seite 143: Brigitte Freiberg.
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung Impressumservice
, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Achtung: In dieser Arbeit werden Tatbestände und Worte erwähnt, die einem nahe gehen könnten, die einige Menschen als traumatisierend bezeichnen könnten. Das Weiterlesen dieser Arbeit geschieht auf eigene Gefahr! Es wird in dieser Arbeit das generische Maskulinum verwendet, alle Geschlechter sollen so inkludiert sein. In den Zitaten wurden ältere Versionen der Rechtschreibung wie auch Rechtschreibfehler nicht korrigiert. Einzig die doppelten Anführungszeichen („") habe ich für meine Zitate vorbehalten und Anführungszeichen im Zitat durch einfache Anführungszeichen (,‘) ersetzt
Für Brigitte,
die in all den Jahren die Geduld nicht verloren hat
Inhalt
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Vorwort
1. Einleitung: Die Werkzeuge der Orientierung – Drei Blickwinkel
2. Der Blickwinkel des Individuums
2.1 Die Macht unserer Wahrnehmung und die Wirksamkeit des Trickster-Archetyps
2.2 Was macht uns aus, was treibt uns an?
3. Zum sozialen Blickwinkel
3.1 Anpassung des Werkzeugs – Wechselwirkungen
3.2 Macht und Ohnmacht
3.3 Gegenseitigkeit
3.4 Normen
3.5 Der Midas-Touch der Moral – die Philosophie des Stattdessen als Heilmittel
3.6 Über kollektive Stimmungen und ihre politische Nutzung
3.7 Konfliktfelder: Ursachensuche des heutigen Zeitgeschehens
4. Zum Blickwinkel der Sachperspektive
4.1 Zwischenschritt: Vertiefung des Werkzeugs ‚Sachperspektive‘
4.2 Vom Umgang mit Chancen, Risiken und Gefahren
4.3 Verantwortung und Engagement als Grundlagen des geteilten Lebens
4.4 Reicht Einsicht hoffen oder brauchen wir Regeln und Recht?
4.5 Die Fähigkeiten der moralischen Intuitionen nutzen
5. Silberstreifen am Horizont
5.1 Das Streben nach Glück und Liebe
5.2 Lösungen finden – Wie soll das gehen?
6. Wie passt das alles zusammen, soll es das überhaupt?
Abspann: Warum Archetypen und griechische Sagen?
Anmerkungen
Vorwort
„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht."
Annalena Baerbock, 24.2.2022
Die Volksschule Müngersdorf in Köln wurde von Schülern aus allen Schichten besucht: Von Schülern aus der Neu-Müngersdorfer Oberschicht, aus der breiten Mittelschicht um den Ortskern herum und aus einer ausgedehnten Sozialbausiedlung. Die Schule ist ein mächtiger Bau mit einschüchternd hohen Räumen. Unser Lehrer lebte direkt neben uns zur Miete, fuhr aber einen Mercedes 170S. Ein solch beeindruckendes Auto fuhr noch nicht einmal der Meistertrainer Hennes Weisweiler, der auf der anderen Straßenseite wohnte. Unser Lehrer war sehr streng, lehnte aber Gewaltanwendung als Erziehungsmethode ab. Erst auf dem Gymnasium machte ich die Erfahrung mit gewalttätigen Lehrern. Gewalt erlebten wir Grundschüler ansonsten auf dem Schulhof: Ein Schulhofschläger aus der Sozialbausiedlung schüchterte uns alle ein und griff sich regelmäßig einige Opfer heraus. Eine Demonstration seiner Macht gegen die Mächtigen gab er im Klassenzimmer ab: Nach einem Fehlverhalten sollte er eine Strafarbeit von einer Seite am Folgetag abliefern, was er nicht tat. So verdoppelte unser Lehrer die Strafe und wiederholte das Prinzip ein ums andere Mal. Bei der Forderung nach 64 Seiten Strafarbeit gab unser Lehrer auf und legte den Mantel des Schweigens über den Vorgang.
Hogwarts für Muggel: Die Volksschule Müngersdorf
Sascha Lobo hat Donald Trump einmal als Schulhofschläger bezeichnet und weckte so diese Kindheitserinnerung. Nach der Schulzeit habe ich so gut wie nie mehr Gewalt erlebt und mein größtes Privileg ist es wohl, ein ganzes Leben in Friedenszeiten gelebt zu haben. Ich habe auch den Kriegsdienst verweigert. Ich glaubte fest daran, dass Gewalt keinen Platz mehr hat in einer Welt, in der vor wenigen Jahrzehnten noch zwei Weltkriege und der Abwurf von Atomwaffen durch die USA über Hiroshima und Nagasaki stattgefunden haben. Die russische Invasion in die Ukraine stellte so für mich wie für viele Mitmenschen eine Zeitenwende dar, da es nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa keinen Überfall mehr auf ein anderes Land gegeben hat. Uns allen wurde am 24. Februar 2022 verdeutlicht, dass es keine gemeinsame Sicherheitsordnung mehr gibt. Die kalte und rohe Gewalt mit der zusätzlichen Drohung des Einsatzes von Atomwaffen als weiterer Eskalationsstufe hat ihren Platz in der Geschichte wieder eingenommen. Die deutsche Regierung hat mit einer mutigen Kehrtwende reagiert und liefert sogar Waffen in die Ukraine. Es verbleibt eine große Vorsicht gegenüber dem vermeintlich unberechenbaren Gegner; der entscheidende Schritt war jedoch die Erkenntnis, die Welt so gesehen zu haben, wie man sie sehen wollte. Man hat sich von der Illusion verabschiedet, dass die Zeit der kriegerischen Gewalt in Europa beendet und die sanfte Macht des Dialogs die Lösung aller Konflikte sei. In einer anderen Welt aufzuwachen bedeutete in diesem Fall eben keine neue Wirklichkeit, sondern eine illusionäre Sicht der Wirklichkeit gehabt zu haben – wie schon die Trojaner, die sich mit einem hölzernen Pferd ihre Vernichtung hinter die eigenen Festungsmauern gezogen haben. Schon der Brexit und die Wahl von Donald Trump im Jahre 2016 haben mir den Eindruck gegeben, dass unser Bild von der Welt lückenhaft ist. Wie kann man mit den Lügen und Tricks dieser politisch-gesellschaftlichen Kampagnen durchkommen? Wie kann das funktionieren?
Viele Jahre habe ich soziologische, psychologische und anthropologische Analysen der klügsten Köpfe studiert. Recht schnell wurde mir klar, dass ich diese vermeintlichen Pannen in der Geschichte menschlicher Entwicklung mit rein rationaler Herangehensweise nicht verstehen würde. Überdies leiden viele Analysen unter der von ihnen gemachten Voraussetzung, dass Menschen vernünftig handeln würden, wenn sie hinreichend gebildet und informiert wären. Diese Voraussetzung ähnelt dem religiösen Glauben: Wenn nur die Erleuchtung über uns käme, würden alle im Glauben vereint sein. Es ist sehr bedeutsam, was in unserem Kopf stattfindet – und der ist empfänglich für beeindruckende Geschichten und verwegene Gauklertricks. Wenn wir dann dazu verleitet werden, diese Geschichten durch einen Absolutheitsanspruch zur alleinigen Wahrheit zu erklären, betreten wir das Universum von Donald Trump, in dessen Vorstellung eine für ihn verlorene Wahl nicht existiert oder nicht existieren darf.
Wieder und wieder habe ich versucht, meinen eigenen Trugschlüssen auf die Spur zu kommen und zu einer nüchternen Wahrnehmung der vorzufindenden Interessenlagen, Emotionen und der Funktionsweise unseres individuellen und gesellschaftlichen Lebens zu kommen. Ich entschuldige mich schon jetzt für die verbleibenden Trugschlüsse und freue mich auf ‚Hab ich dich erwischt‘-Rückmeldungen. Es gilt also, in die Welt der Intuitionen, Gefühle und kollektiven Stimmungen zu blicken, ohne sich davon überwältigen zu lassen. Die Versuche, Trugschlüsse zu vermeiden, haben mich jedoch auch dazu verleitet, keinen Standpunkt einnehmen zu wollen. Denn vernünftige Schlussfolgerungen benötigen keinen eigenen Standpunkt und führen in die Alternativlosigkeit, die auch Angela Merkel in Anspruch nahm. Einen Standpunkt gilt es also einzunehmen und auch transparent zu machen.
Es ist jedoch besser, erst das Funktionieren unseres Lebens verstehen zu wollen, bevor ich zu einem Standpunkt komme. Dafür habe ich einen Werkzeugkasten mit drei Blickwinkeln zusammengestellt, den ich im 1. Kapitel vorstelle. Nach der Vorstellung der Analyse-Werkzeuge möchte ich zuerst auf den individuellen Blickwinkel eingehen und zeigen, wie unsere Wahrnehmungen und Antriebe funktionieren. Gegenüber der Tierwelt haben wir im Bereich des sozialen Lebens, der Moral und der Aggression einige Besonderheiten zu bieten, eben auch unsere Affinität für Geschichten und Gauklertricks. Im folgenden Kapitel wird uns der soziale Blickwinkel beschäftigen. Ich beschreibe einige Grundprinzipien des sozialen Lebens, die mir das Verstehen unserer heutigen Situation erleichtert und damit Orientierung gegeben haben und auf Macht, Gegenseitigkeit und Normen eingehen. Im Kapitel über den Blickwinkel der Sache wird auch auf den Umgang mit Chancen und Risiken als einer Kernfunktion moderner Gesellschaften eingegangen. Es geht außerdem um Verantwortung, Rechte und Pflichten. Im 5. Kapitel möchte ich beispielhaft einige Vorschläge zur Lebensgestaltung vorstellen, die mir persönlich Hoffnung machen. Den Abschluss bildet eine kurze Zusammenfassung meiner zentralen Thesen.
Ein Leben zu führen bedeutet auch, in die Zukunft zu schauen, Vorkehrungen zu treffen und Entscheidungen zu fällen. Wenn wir genauer auf das Leben in unserer Welt geschaut hätten, hätten wir das Kommende ahnen und vielleicht etwas ändern können. Wir müssen etwas übersehen haben, unsere Wahrnehmung ist getrübt. In der Zeit als Geschäftsführer des ‚Netzwerks Ethik heute‘ zum Beispiel bekam ich immer deutlicher den Eindruck, dass wir uns nur noch mit Ethik-Häppchen versorgen und nicht genügend an einem Gesamtbild arbeiten. So könnten wir nämlich unsere Lage und das Kommende besser verstehen und unseren Alltag bewältigen. Nach einer ‚Entschlackungskur‘ meines theorielastigen ersten Entwurfs beschränke ich mich in diesem Band auf die zentralen Themen mit den notwendigsten Quellen. Ich hoffe auf diesem Weg, die Leselust zu wecken und zu erhalten. Die ausgesonderten Themen stelle ich in einem zweiten Band mit drei vertiefenden ‚Tauchgängen‘ vor, damit die Informationen nicht verloren gehen.
Meine Kinder befinden sich in der ‚rush hour‘ ihres Lebens. Die Familie, der Beruf und der Aufbau einer Häuslichkeit nimmt sie ganz in Beschlag. Die ‚rush hour‘ des Lebens liegt hinter mir. Ich habe jetzt die Muße, mir unser heutiges Leben genauer anzuschauen. Und ich habe das Privileg, auf eine Zeit der raschen Veränderungen zurückzublicken und damit den Zustand vor den Veränderungen mit den neuen Zuständen vergleichen zu können. Hoffentlich ist diese Arbeit meinen Kindern und der nachfolgenden Generation eine Hilfe.
1. Einleitung: Die Werkzeuge der Orientierung – Drei Blickwinkel
Das erste Werkzeug, mit dem ich diese Arbeit begann, war die Unterscheidung von Sollen und Sein. Vorhaben, Ziele und Visionen sind wichtig für unser Leben. Sie dürfen uns nur nicht dazu bringen, die Wirklichkeit mit dem Blickwinkel zu betrachten, wie sie sein sollte. Vom Sollen aufs Sein zu schließen bedeutet, einem moralistischen Trugschluss aufzusitzen.¹ („Dass nicht sein kann, was nicht sein darf.) Leider können wir uns nur schwer von diesem Trugschluss lösen, immer wieder habe ich diese Arbeit daraufhin geprüft und mich beim Idealisieren erwischt. Selbst die Frage nach „der
Wirklichkeit setzt voraus, dass eine Wirklichkeit aus einem Guss existiert. Um nicht in ein Netz der vielfältigsten (und noch dazu gefühlten) Wirklichkeiten zu geraten, empfehle ich, drei Blickwinkel einzunehmen: Die eigene Sicht, die der Gruppe(n)/ Gesellschaft und die der Sache. Im II. Band mit den Tauchgängen habe ich beschrieben, wie ich zu diesem Modell gekommen bin und bitte jeden, der an dieser Werkzeugwahl zweifeln möchte, dort erst einmal nachzulesen.
Wer bei mir im Hauptbuch bleiben möchte, sollte noch wissen, dass mit jedem der drei Blickwinkel die Gefahr der Parteilichkeit verbunden ist. Selbst wenn wir in uns selbst keinerlei Voreingenommenheit wahrnehmen können, sind uns sicherlich schon viele Menschen begegnet, die wir als voreingenommen wahrgenommen haben. Auch das Thema (die Sache) kann Sachzwänge mit sich bringen, die aus diesem Blickwinkel alternativlos erscheinen mögen. Und der Soziologie als der Wissenschaft der Gruppen und Gesellschaft wirft der Soziologe Armin Nassehi² vor, sich zu sehr zum Interessenvertreter der Sozialdimension und der Gemeinschaft zu machen. Damit besteht das Risiko, die Gesellschaft so zu betrachten, wie sie sein sollte, und nicht, wie sie ist (moralistischer Trugschluss). Nassehi plädiert dafür zu schauen, wie etwas wirklich funktioniert.
Es bildet sich nicht nur ein Dreieck von Ich, Gruppe, Thema. Es zeigt sich, dass es eine wechselseitige Beziehung zwischen den Eckpunkten gibt: Die Gesellschaft, meine Familie, meine Freunde beeinflussen mich, aber auch ich nehme Einfluss auf sie. Wir können zusammenarbeiten, gegeneinander kämpfen oder jede mögliche Kombination zwischen den beiden Extremen betreiben. Auch die Sache, die ich bewältigen möchte, beeinflusst mich durch Handbücher, Google-Wissen oder Regelwerke. Mein Thema muss jedoch nicht das Thema meines Gegenübers sein, oder vielleicht glauben wir nur, dass wir über dasselbe Thema reden. In Wahrheit reden wir aneinander vorbei. Nun möchte ich den Leser nicht länger auf die Folter spannen, der erste Entwurf eines Bildes sagt mehr als viele Worte:
Abbildung 1: Eigene Folie
Diese erste Fassung des Werkzeug-Modells bildet die Elemente für die individuelle Perspektive ab. Für die Einnahme der weiteren Perspektiven werden im Laufe dieser Arbeit an geeigneter Stelle noch Ergänzungen des Bildes nötig sein.
Um nun das Modell in den Arbeitsmodus versetzen zu können, werde ich mich eingehender mit den drei Blickwinkeln (Nassehi nennt sie Dimensionen³) beschäftigen. Wie funktionieren unsere individuelle Wahrnehmung und unser Handeln und was können wir über die gesellschaftliche Seite sagen? Welche Themen beschäftigen uns derzeit, wie behandeln wir diese und uns gegenseitig dabei? Wie im Vorwort gesagt, möchte ich die Rolle von Rationalität im Zusammenspiel oder Gegenspiel zu unseren Emotionen und moralischen Einstellungen erkunden und damit das Funktionieren von Individuum und Gesellschaft besser verstehen lernen. Wir klären so drei Fragegruppen: Was will ich, was kann ich? Was sagen die Anderen, was wünschen sie, was fordern sie, was sind ihre Absichten? Was bietet mir die Sache, was erfordert sie?
2. Der Blickwinkel des Individuums
2.1 Die Macht unserer Wahrnehmung und die Wirksamkeit des Trickster-Archetyps
„There’s one way to find out if a man is honest
- ask him. If he says ‘Yes’ you know he is a crook."
Groucho Marx
Wie viele andere habe ich mich nach der US-Wahl 2016 gefragt, wie ein Mensch gewählt werden kann, der sich so unanständig verhält und schamlos lügt. Damals habe ich viele Analysen in der Hoffnung gelesen, gute Erklärungen zu finden. Vorgefertigte Schablonen wie links gegen rechts oder arm gegen reich machten das Bild nicht wirklich klarer.⁴ Selbst diejenigen, die sich von solchen Schablonen frei gemacht hatten, kamen nicht richtig voran mit ihren Thesen.
Spätestens seit der Brexit- und der US-Wahl müssen wir lernen, dass Stimmungen den Verlauf der Geschichte ändern können und Fakten nicht die maßgebliche Rolle spielen, die wir ihnen zuschreiben. In Diktaturen mit vollständiger Kontrolle von Militär, staatlichen Organen und Medien sollte uns das Phänomen nicht überraschen, wie etwa das Beispiel Nordkorea zeigt. Viel interessanter ist es, wie es in Demokratien gelingt, autokratische Herrschaft zu etablieren. Daher blickte ich zurück zu den Autoren aus der Zeit der Weimarer Republik und der Naziherrschaft. Die Analysen dieser Autoren waren keine intellektuellen Spielereien, es war ihnen ernst, es war existentiell. Insbesondere die Arbeiten von Stefan Zweig beeindruckten mich sehr.
Der Psychologe Carl Gustav Jung hat den Versuch gewagt, über die Sprache von Bildern, Mythen und Symbolen Zugang zu Bereichen zu finden, die unser Intellekt nicht erreicht. Seine These des kollektiven Unbewussten war mutig, weil sie kaum beweisbar sein wird. Seine These der Archetypen dagegen kann darauf verweisen, dass es in vielen, wenn nicht allen Kulturen wirksame Muster gibt, die sich ähneln.⁵ Wir alle können mit Mütterlichkeit etwas anfangen, Heldensagen waren und bleiben populär und selbst wenn sich heute viele Menschen von den Kirchen abwenden, ist der Wunsch nach und der Glaube an etwas Heiliges eher auf dem Vormarsch. Der rationale Geist der Aufklärung scheint uns nicht zu genügen (mal davon abgesehen, mit welchen Gewaltexzessen er sich durchgesetzt hat). Wir haben Instinkte, Intuitionen und Gefühle, es fällt dem rationalen Verstand einfach schwer, damit umzugehen. Archetypen mit ihren Narrativen eröffnen uns zum Beispiel durch den Trickster-Mythos einen Zugang zu den Phänomenen Trump und Johnson. Der Trickster kommt immer listig und improvisierend daher, ist oft lustig, manchmal auch chaotisch und brutal. Hermes, der Gott der Betrüger, und natürlich Odysseus kommen einem in den Sinn, der sich an einen Mast binden ließ, um nicht den tödlichen Verführungen seiner langen Heimreise zu verfallen. Derselbe Odysseus, dem die Idee mit dem trojanischen Pferd zugeschrieben wird. Das Spektrum der Trickster-Figuren geht von Robin Hood, der den Reichen nahm, um es den Armen zu geben, über Zauberern bis zu Mephisto und Luzifer, die versuchen, Menschen auszutricksen und zu vernichten.
Auch heute ist der Trickster populär, denken wir an den kürzlich verstorbenen Diego Maradona mit seiner Hand Gottes und natürlich all die Elfmeter-Schwalben, die die Fans des Tricksters begeistern und die Gegner empören. So unfair kann man doch nicht sein! Im Folgenden konzentriere ich mich auf die unerfreulichen Seiten des Tricksters, zuvor möchte ich hervorheben, wie sympathisch so ein Schelm sein kann, dem man nichts verübeln mag. Von früh auf hören wir, dass wir lernen und üben müssen, um ein Ziel zu erreichen. Wie verlockend ist es da, mit Tricks eine Abkürzung zu nehmen. Wir wollen gerne die Belohnung, aber nicht den Preis dafür bezahlen. Deswegen steht uns der Trickster so nahe. Eine Welt ohne Trickster wäre langweilig und nicht lustig. Mit Lotto und dem Casinospiel gibt es populäre Varianten der Hoffnung, mit kleinem Einsatz großen Gewinn zu machen. Solange es nicht zur Spielsucht führt, ist es ein vermeintlich harmloses Trickster-Vergnügen. Es gibt auch eine andere Seite, die gerne nicht wahrgenommen wird: Eine beliebte Karnevalsverkleidung ist der Pirat (ein Symbol auch beim Fußballverein St. Pauli), der im wirklichen Leben auch heute noch mordet und raubt. Oder auch das betrügerische Hütchenspiel, dessen moderne Variante ich im I. Tauchgang beschreibe. Ernten