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Selutarn: Khleonas Geheimnis
Selutarn: Khleonas Geheimnis
Selutarn: Khleonas Geheimnis
eBook572 Seiten7 Stunden

Selutarn: Khleonas Geheimnis

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Über dieses E-Book

Der Raldovar Ọş hatte sich eigentlich auf ein ganz normales Trimester im Biologie-Studium gefreut, als er plötzlich in eine magische Parallelwelt entführt wird.
Die Königin von Selutarn verwickelt ihn in eine streng geheime Mission, um gegen Korruption und Verseuchung anzukämpfen. Ist er diesem Auftrag gewachsen?

Ein Roman aus einer Welt ohne Menschen.
Aus einer Welt, in der Geschlecht eine ganz andere Rolle spielt – geschrieben in geschlechtsneutralem Deutsch.
Jedes Kapitel wird durch eine vom Autor erstellte Tuschezeichnung eingeleitet.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum18. Apr. 2023
ISBN9783347923973
Selutarn: Khleonas Geheimnis
Autor

Rolf T. Meles

Rolf T. Meles wurde 1995 geboren. Aufgewachsen ist er in Ostwestfalen, Südportugal und schließlich Hessen. Mit 16 Jahren hat er diesen Roman begonnen und sich fest vorgenommen, nicht damit aufzuhören, bis er eines Tages veröffentlicht würde. In Laubach hat er sein Abitur gemacht, in Marburg und Rostock Biologie studiert und oft sehr wenig Zeit auf dem Ạtol oder in Selutarn verbracht, doch er ist stets zurückgekehrt. Und er wird es auch immer wieder tun.

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    Buchvorschau

    Selutarn - Rolf T. Meles

    Vorbemerkungen

    Sie können diese Vorbemerkungen einfach überspringen. Doch falls Ihnen beim Lesen etwas seltsam erscheint, finden Sie hier vielleicht den Grund dafür.

    GESCHLECHTSNEUTRALE SPRACHE

    Es geht in diesem Roman nicht speziell um Trans- oder nichtbinäre Personen. Vielmehr möchte ich eine wichtige Eigenart der ẹxilianischen Kultur auch in der deutschen Erzählung transportieren. Wegen der komplexen Geschlechterstrukturen der Raldovar und Tşerila, die Sie noch kennenlernen werden, ist es in Ẹxilien unüblich, sich direkt mit geschlechtsspezifischen Formen anzusprechen. Solange zwei Personen nicht gut miteinander befreundet sind, sprechen sie sich in der Regel geschlechtsneutral an. Deshalb greife ich auf das De-e-System des Vereins für geschlechtsneutrales Deutsch e. V. zurück. Sie müssen die Formen nicht auswendig kennen, um den Text verstehen zu können, es wird sich nach einer kurzen Eingewöhnungsphase ganz normal anfühlen. Sollten Sie aber neugierig geworden sein und mehr dazu lesen wollen, schauen Sie gerne auf geschlechtsneutral.net nach.

    AUSSPRACHE

    Eine der Hauptpersonen hat, wie Sie noch sehen werden, einer anderen Hauptperson ein Alphabet zweier Sprachen gegenübergestellt. Sie hat mir diesen Zettel freundlicherweise überlassen und ich habe noch die lateinische Transkription hinzugefügt.

    Zusammengefasst lässt sich sagen: Steht ein Punkt unter einem Vokal, wird er ausgesprochen, als würde ein J davor stehen. De gemeine Ẹxilianere würde die »Jahreszeit« vermutlich »Ạrescajt« schreiben.

    Da sehen Sie auch schon, dass ein C immer wie das deutsche Z gesprochen wird.

    Dann wäre da noch die Cedille: Sie macht aus einem H einen CH-Laut wie in Dach (»Daḩ«) und aus einem S ein SCH (»Si lernen şnell!«).

    Insgesamt werden alle Vokale schön klar gesprochen und Wörter stets auf der zweiten Silbe betont.

    Nicht alle Wörter, die Ihnen als Fremdwörter begegnen werden, entstammen jedoch dem Ẹxilianischen. Alles, was ich zu diesen Ausnahmen sagen muss, ist, dass ein Zirkumflex (^) Buchstaben klarer und häufig länger macht, während ein Akut (´) anzeigt, dass die markierte Silbe betont wird.

    Und wenn Sie nicht mehr weiter wissen, sprechen Sie die Wörter einfach so aus, wie sie Ihnen am schönsten erscheinen.

    ZEITRECHNUNG

    Maßgeblich für die Einteilung des ạtolianischen Jahres sind die Sonne Faşi sowie der größere der beiden Monde, Fẹsla. Daraus resultieren vierzehn Monate, jedes dritte Jahr gibt es jedoch einen zusätzlichen Schaltmonat, so auch im Jahr 3119, in dem diese Geschichte spielt. Daher greife ich auf die ẹxilianischen Namen für die Monate zurück: Selọv, Şirin, Morigal, Sely, Feren, Mosuil, Ọle, Sip-Şal, Roḩeni, Falimen, Şejl, Rol, Şaḩil, Relọ, und in Schaltjahren Tabone. Die Monate haben jeweils zwischen 27 und 29 Tage.

    Die Woche hat zehn Tage, die in etwa so lang dauern, wie ein Tag auf der Erde. Die Wochentage setzen sich im Ẹxilianischen einfach aus den Zahlen von eins bis zehn sowie dem Stamm vat (vatis = Tag) zusammen: Rivat, Ọvat, Savat, Fuvat, Tovat, Mevat, Sivat, Nejvat, Şevat und Fenvat. Fuvat und Tovat sind ›Wochenmitte‹, mindestens Tovats haben fast alle frei. Şevat und Fenvat sind Wochenende, beide Tage sind keine Werktage.

    MERKWÜRDIGE SEITEN- UND KAPITELNUMMERN

    Die Wirbeltiere des Planeten Ạtol, auf dem die folgende Geschichte spielt, haben zumeist sechs oder weniger Finger an jeder Hand, Pfote oder Klaue. Die Spezies, welche zuerst Zahlen erfunden hat, besitzt an jeder Hand sechs Finger. Es ergibt folglich Sinn, dass sie duodezimal zählen, sprich ein Zwölfersystem nutzen. Keine Sorge, alle Zahlen im Fließtext habe ich für Sie dezimal dargestellt, doch die Seiten- und Kapitelnummern habe ich duodezimal belassen und mich dabei den Zeichen der Dozenal Society of Great Britain bedient, welche für die beiden zusätzlichen Einer »↊« beziehungsweise »↋« vorschlägt.

    Diese Zeichen haben im Deutschen keine Namen, aber weil es prinzipiell eine auf dem Kopf stehende 2 beziehungsweise 3 ist, nenne ich sie gerne iewz und ierd.

    Jetzt haben Sie genug Vorwissen, um sich ganz entspannt in die eigentliche Lektüre zu stürzen. Falls sich weitere Fragen aufwerfen, hilft vielleicht auch das Glossar am Ende des Buchs. Ich wünsche viel Vergnügen!

    Prolog

    PALASTBERG. SIVAT, 13. FALIMEN 3097

    Es herrschte angespannte Stille in der düsteren, kühlen Höhle unter dem Palastberg. Von draußen waren keine Geräusche mehr zu hören. Die Kinder wussten nicht, ob das gut war. Es saßen vielleicht fünfzig Kinder dicht gedrängt in der Höhle. Alle versuchten, so nah wie möglich bei Oma Grena zu sein, die auf sie aufpasste.

    Irgendwo schluchzte ein Kind leise, ein anderes Kind schien es zu trösten. Dann sagte es lauter: »Oma Grena, erzählst du uns eine Geschichte?«

    »Sicher. Lass mich überlegen«, antwortete Oma Grena. Ihre tiefe, leicht kratzige Stimme klang fest und sicher und wirkte sehr beruhigend. Sie war sehr alt, doch strahlte sie eine Kraft aus, die den Kindern Sicherheit vermittelte.

    »Wie wäre es mit der Legende von Oaoo?«

    »Wer ist Oaoo?«, fragte eines der Kinder sofort.

    »Das ist eine gute Frage, Liebes! Oaoo ist eigentlich niemand. Und doch alles! Wir alle sind Teil von Oaoo. Oaoo ist die Welt, in der wir leben, aber auch alle Sterne im Himmel. Unsere Monde und unsere Sonne Faşi. Das alles ist Oaoo!«, Oma Grena machte eine kurze Pause, während sich die Kinder vorzustellen versuchten, wie jemand so Großes wohl von außen aussehen mochte. Dann fuhr sie fort: »Aber das war nicht immer so, wisst ihr? Vor sehr, sehr langer Zeit war Oaoo noch ganz anders. Und diese Welt, mit Faşi und den zwei Monden lebte auch noch nicht zusammen mit Oaoo. Die Felsen dieser Höhle gab es damals auch noch nicht. All das war nur eine Idee, und niemand weiß, wer sie zuerst hatte. Es war alles eine vage Idee von Staub und Dampf. Und die Idee trieb träumend durch die leere Ewigkeit. Vielleicht hat sie etwas gesucht! Und wahrscheinlich hat es sich selbst gesucht. Das kann sehr lange dauern, wisst ihr? – Doch irgendwann erschien in der Ferne ein zweites Wesen! Es war riesengroß!«

    »Wie sah es aus?«, rief ein Kind irgendwo hinter der Oma.

    Die Oma überlegte einen Moment. War dies überhaupt eine Geschichte für Kinder? Doch dann fuhr sie mit ruhiger Stimme fort: »Stellt euch einen Strudel in einem reißenden Bach vor. Und zwar nur der Strudel. Der Bach ist eigentlich gar nicht da. Ein riesiger Strudel aus hell leuchtenden Sternen in der Dunkelheit. Und der Strudel ist so groß, dass er den ganzen Himmel füllen würde, und noch größer! Und in der Mitte ist – etwas Unsichtbares. Und dieses unsichtbare Etwas ist Oaoo. Und all die leuchtenden Sterne strudeln um Oaoo herum, bis sie in der Mitte ankommen und Oaoo sie frisst.

    Einige Kinder atmeten erschrocken ein.

    »Ist Oaoo böse?«, hauchte ein kleines Kind.

    »Oh nein! Oaoo ist bloß immer sehr hungrig gewesen. Und Sterne waren nun mal sein Leibgericht!«, meinte die Oma.

    »Bäh!«, fand ein Kind, das mit zwei Steinen spielte. Ein paar Kinder lachten.

    »Tja, und Oaoo sah die Idee von unserer Welt und beschloss, dass diese sicher auch ganz köstlich schmecken würde! Und Oaoo drehte sich um die eigene Achse und flog mit dem gewaltigen Strudel drum herum auf unsere Welt-Idee zu!«

    »Oh nein!«, riefen ein paar Kinder ganz schockiert.

    Nur eins rief: »Aber das ist nie passiert! Hätte Oaoo die Welt gefressen, würden wir hier doch gar nicht sitzen!«

    Die Oma seufzte, lächelte dann und schüttelte den Kopf. »Ja, Cego, damit hast du vermutlich recht. Aber jetzt hört zu! Unsere Welt war nämlich nicht die einzige Idee, die da draußen mit Oaoo herumtrieb! Da war nämlich noch das große Ahôm! Und Ahôm war viel, viel größer, als unsere kleine Welt-Idee. Ahôm war damals das Samenkorn eines ganzen Universums!«

    »Was ist denn ein Universum, Oma Grena?«, fragte ein kleines Kind, welches Oma nicht genau erkennen konnte.

    »Ein Universum ist ein Wesen, in dem unvorstellbar viele Welten leben. Da gibt es helle Wolken. Und wenn einey sich die hellen Wolken genauer ansieht, bestehen sie aus ganz vielen Sternen! Und jeder Stern ist so groß, dass sich darum Welten wie unsere hier drehen können. So groß ist ein Universum!«

    Es war still in der Höhle. Die Oma hatte mit einem erstaunten Geraune gerechnet. War das zu viel? – Jetzt konnte sie aber nicht einfach aufhören. Also erzählte sie weiter: »Stellt es euch vor, wie ein Baum. Auf jedem Blatt dreht sich ein Stern, der im Dunkeln leuchtet. Und nun stellt euch eine kleine Nuss vor. Ihr wisst ja, dass die Nuss, wenn sie auf einen schönen, feuchten Waldboden fällt, aufplatzt, und ein Baum daraus keimt. Nun, so eine Nuss war Ahôm damals. Und sie trieb genau auf Oaoo zu!

    »Ich mag Nüffe. Befonderf, wenn Mama fie abendf am Feuer knackt!«, erzählte ein Kind lispelnd, das direkt an Omas Knie lehnte.

    Sie hatte die Kinder also wieder. Zufrieden lächelte sie und nickte. »Nüsse sind auch sehr gesund, Kel! Und das wusste auch Oaoo! Und nun sah es auf der einen Seite den kleinen Samen unserer Welt und auf der genau anderen Seite die große, saftige Nuss namens Ahôm! Und weil Oaoo sehr, sehr gierig war, wollte es beide aufessen! Dafür musste Oaoo sich in zwei Richtungen strecken. Das war anstrengend, für so ein riesiges, schweres Wesen, aber es schaffte es schließlich doch. Es packte Ahôm und unsere Welt und riss sie beide an sich! Zack!«, die Oma klatschte in die Hände und die Kinder zuckten erschrocken zusammen. Nach einer kurzen Pause seufzte sie und fuhr fort: »Aber bevor Oaoo die Nüsse knacken konnte, keimte Ahôm plötzlich! Schuld daran war unsere Welt! Als Oaoo Ahôm und unsere Welt gerade verschlingen wollte, trafen sie sich und die Welt-Idee war wie der lockere Waldboden, den Ahôm gesucht hatte. Und glaubt mir, wenn direkt neben euch eine Nuss mit einer solchen Geschwindigkeit keimte, wie Ahôm es jetzt tat, würde es euch ganz schön umhauen! Bum! Zack! Plötzlich war Ahôm ein riesiger Baum mit aberwitzig vielen Blättern, auf denen überall Sterne mit Welten kreisten! – Aber wisst ihr, was noch viel erstaunlicher war? Das Gleiche passierte auch mit Oaoo. Ja! Nun stellt euch einmal vor, ihr seht ein kleines Tier. Vielleicht ein Grend¹. Das kleine Grend findet eine Nuss und will sie fressen. Doch als es die Nuss frisst, keimt sie mit einem lauten ›PENG!‹ zu einem Baum! Und mit einem Mal merkt das Grend, dass es auch mit einem fast noch lauteren ›PENG!‹ selbst zu einem Baum geworden ist! Genau das war mit Oaoo passiert.

    Nun schwebten da also zwei Universums-Bäume. Die Wurzeln waren nicht in Erde vergraben, sondern sie umschlangen die Wurzeln des anderen Baumes wie in einer innigen Umarmung mit hunderten von knorrigen Armen.

    Jetzt fragt ihr euch vielleicht, was aus unserer Welt geworden ist? Ja? Nun, sie ist tatsächlich von Oaoo verschlungen worden. Aber das war gut! Denn Oaoo war jetzt ein Universums-Baum und hatte genauso viele Blätter, wie Ahôm. Und mitten in Oaoos Baumkrone gab es ein wunderschönes, frisches Blatt, auf dem unsere Welt jetzt lebte. Sie war jetzt keine Idee mehr. In der Mitte des Blattes drehte sich wie ein leuchtender Stern unsere Faşi. Und drum herum drehte sich unsere Weltkugel: Selutarn! Und um Selutarn herum drehten sich fortan unsere beiden Monde, Molsidor und Fẹsla.«

    Eine Weile wurde es still in der Höhle. Dann fragte ein Kind: »Heißt das, wir wären niemals geboren worden, wenn Oaoo uns nicht aufgegessen hätte?«

    »Wer weiß? Vermutlich nicht. Aber wir wären auch nie geboren worden, wenn Ahôm nicht in dem Moment gekeimt wäre, in dem Oaoo uns gegessen hat«, vermutete Oma Grena.

    Und dann fuhr sie fort: »In der Krone von Ahôm gibt es übrigens auch ein Blatt, auf dem sich eine Faşi dreht. Sie ähnelt unserer zum Verwechseln! Und auch um sie dreht sich eine Weltkugel mit zwei Monden. Ja, so wird es sich erzählt. Und es wird sich außerdem erzählt, dass die Leute, die auf dieser Weltkugel leben, ihrer Welt manchmal sehr wehtun. Und wenn das passiert, hat Ahôm Schmerzen, die bis in die Wurzeln reichen. Und wenn Ahôms Wurzeln vor Schmerz zucken, spürt auch Oaoo die Schmerzen. Ja und wenn das passiert, kommen bei uns Monster wie die Şreltôr aus den Tiefen der Berge.«

    Das erschrak die Kinder sehr. Ein paar fingen an zu weinen. Ein Kind rief unter Tränen: »Dann sind diese Leute schuld, dass die Shreltôr da draußen die Häuser kaputtmacht⁈«

    Die Oma sah sich schuldbewusst um. Hätte sie doch aufgehört zu erzählen, als die Kinder so verträumt dasaßen und sich zwei uralte Bäume mit glitzernden Blättern vorstellten! Jetzt hatte sie alles nur noch schlimmer gemacht.

    ¹Ein kaninchengroßes Tier, das nicht nur äußerst putzig, sondern auch sehr intelligent ist und erstaunlich gut verschiedene Laute imitieren kann.

    Kapitel 1

    Die Neue

    GOLAḨ. RIVAT, 25. SIP-ŞAL 3119

    Es war ein sonniger Rivatmorgen, der erste Tag einer neuen, ạtolianischen Woche. Ọş war auf dem Weg zur Uni und durchschritt soeben den Corşymis-Park. Avide zwitscherten und Faşi, die Sonne, erhob sich majestätisch über den weiten Wäldern jenseits der Stadt. In der Luft lag der angenehme Duft nach allerlei Blüten. Alles war von traumhafter Schönheit; ein guter Start ins Herbsttrimester, wie Ọş fand. Er nahm sich noch eine große Nase voll von diesem Duft, dann verließ er den Park und betrat den Campus der Universität Golaḩ durch das eigentümliche Tor am Eingang. Gefertigt aus hellgrauem Chitin formte es einen Spitzbogen, auf dessen Scheitelpunkt die Skulptur eines schwer zu identifizierenden Tieres mit einer Schriftrolle in den Klauen saß.

    Die Universität war das wichtigste Aushängeschild der beschaulichen Kleinstadt Golaḩ. Gerade einmal einundneunzigtausend Einwohnerne hatte die Ortschaft im mittleren Südost-Ẹxilien zu verzeichnen. Sie lag in den östlichen Ausläufern des Ạkel-Gebirges im fruchtbaren Ryạ-Tal. Viel Tourismus gab es hier nicht, dafür war die Altstadt nicht alt genug und die Lage nicht hoch genug in den Bergen. Eigentlich gab es hier vor allem Wald. Subtropischen Nebelwald, um genau zu sein. Das bedeutete viel Nebel, meist auch Regen, hin und wieder Nebel mit Regen oder umgekehrt.

    Dafür bestand die Population Golaḩs zu fast einem Drittel aus Studenternen. Viele von ihnen lebten auf einer Plattform, etwa 500 Meter über den anderen Stadtteilen, dem Nebel sowie dem Wald. Ein ganzer Bezirk war der Stadt so hinzugefügt worden, gemeinhin einfach ›Stelzenbezirk‹ genannt. Hier oben schien häufig eine starke, heiße Faşi und bestrahlte die modernen Gebäudeblöcke der Universität von Golaḩ. Ihre schlichten, quaderförmigen Grundstrukturen wurden hie und da von modernen Chitingebilden kaschiert, die in ihrer Form an dunkelblaue, violette und grüne Knospenschuppen erinnern sollten, oder durch Glasfassaden aufgebrochen.

    Auf den hellen, gepflasterten Wegen sowie den dunkelgrünen Wiesen des Campusgeländes tummelte sich das bunte Volk der Studenterne und Dozenterne. Die weit überwiegende Mehrheit davon war Ọş vollkommen unbekannt. Aber da war auch Soyl. Wie immer trug er seine Mütze. Eine schlichte, schwarze Mütze, vielleicht um seinen kahlen Kopf zu verbergen, denn er war ein Şiral und besaß somit kein Haupthaar. Şirale waren nicht etwa Mitglieder eines Clubs glatzköpfiger Menschen. Nein, weit gefehlt, denn Menschen kannte in Golaḩ niemand. Fakt ist, niemand auf dem ganzen Planeten Ạtol hatte je von einerm Menschen gehört und vermutlich würde sich daran auch so schnell nichts ändern. Ọş und Soyl waren Raldovar. Was zuerst an Raldovar auffiel, war das zusätzliche Gliedmaßenpaar. Die zunächst humanoid anmutenden Geschöpfe liefen auf vier Beinen, von denen die hinteren mächtige Sprungbeine formten. Dadurch konnte einerm Menschen der Gedanke an einen Zentauren kommen, der sich einst sehr gut mit einer Heuschrecke verstanden hatte. Aber zum Glück sah kein Mensch zu und so konnte dieser törichte Eindruck gar nicht erst aufkommen.

    Die Haut der Raldovar schimmerte in tiefem Blau. Es war ein Blau, in dem einey sich verlieren konnte. Manche hatten so dunkelblaue Haut, wie ein klarer Sommernachthimmel, andere waren vom Blau einer schimmernden Südsee, aber manch ein Raldovar wies auch Hauttöne irgendwo dazwischen auf, mit Tendenzen ins Violette, Graue oder fast schon Helllila.

    Abgesehen von der Hautfarbe unterschieden sich die Raldovar in einem weiteren wichtigen Merkmal. Es schien recht exakt ein Drittel aller Raldovar von dichtem Fell bedeckt zu sein, während die anderen zwei Drittel Haupthaar trugen oder gar nicht behaart waren. Und hier reckte die Evolution des Ạtol stolz die Brust heraus. Niemand war ihr bislang so recht auf die Schliche gekommen, inwiefern sie es für sinnvoll erachtet hatte, die Raldovar mit sechs Geschlechtsformen auszustatten, und darauf war sie auch noch stolz. Sie hatte auf die Mühe verzichtet, sechs tatsächliche Geschlechter zu erfinden. Sie hatte sich auf jeweils drei weibliche und drei Männliche Geschlechtsformen beschränkt und es so geschickt eingefädelt, dass eine Tochter nie die Geschlechtsform der Mutter und ein Sohn nie die Geschlechtsform des Vaters erbte, wodurch alle sechs Formen voneinander abhängig waren. De Raldosoziologere Gil Şrelor hatte schließlich im neunzehnten Jahrhundert nach Forg eine offizielle Unterteilung in drei Paare vorgenommen, die sich besonders ähnelten. Die Ehn und den Fọr stopfte en in die erste imaginäre Schublade, die en in der Sprache der damaligen Zeit mit »Dichtes Felle am gantsen Leybe, von gedrungener Architektuhr; vermutelich die ursprüngelichste Forma. Eintzigst der Ehn isset eine Scheckigung im Felle vergönnet« beschriftete. Daraufhin wird en sich mit wichtiger Miene am Kinn gekratzt haben, denn einen Bart hatte en nicht vorzuweisen, um nun gedanklich nach der Arn und dem Farl zu greifen. Diese beförderte en mit einem neidischen Blick auf den Vollbart des Farles in die zweite imaginäre Schublade, welche mit folgendem Vermerk versehen war: »Kein Felle, ledigelich Haupt und Schahm von Haare bedecket. Intermediär in vielerleih Hinnesicht«. Nun blieben nur noch die Kọra und der Şiral. Sie sollten das dritte Paar bilden, zu dem en fortan auch sich selbst zählen würde (wenngleich ense Gattin eine Ehn war). Die Schublade ließ folgendes verlauten: »Vollends nackend, athlethisch gebauet unt grohß von Wuhchse.«

    Mit diesem kleinen Exkurs bewegen wir uns wieder zurück ins zweiunddreißigste Jahrhundert, wo Ọş seinen alten Freund nach den langen Trimesterferien endlich wiedersah. Soyls Oberkörper war mit einer schwarzen Lederjacke über einem ebenso schwarzen Hemd bedeckt, auf dem das Logo seiner Lieblingsmannschaft prangte. Sein Hinterleib war mit einer schwarzen Zuweste bekleidet, die mit nützlichen, großen Taschen und ein paar Nieten besetzt war. Letztere dienten offensichtlich weniger dem Zusammenhalt der Weste, als vielmehr der Ästhetik. Seine Hosen waren beide aus schlichtem, schwarzen Stoff, der hie und da schon etwas abgenutzt wirkte. An den Füßen trug er dunkelgraue Stoffschuhe.

    Die beiden begrüßten sich mit einer herzlichen Umarmung und tauschten sich über die vergangenen Wochen aus, während sie über den Campus schlenderten.

    Wie um deutlich zu machen, dass die Trimesterferien nun vorüber waren und der Ernst des Lebens weiterging, wartete nun zuallererst eine Vorlesung über Biochemie auf sie. Die Freunde studierten ab heute im zweiten Trimester Biologie in Golaḩ.

    Pünktlich um halb acht ließ Professore Reylin ens schweres Lehrbuch, das en immer bei sich hatte, auf den Tisch fallen. De Professore hub zur üblichen Begrüßung an. Ọş und Soyl hatten sich gerade über die Ferien unterhalten und saßen im Nu aufrecht und wie gebannt in ihren Sesseln. Doch um sie herum wollte das Tuscheln zu ihrer Verwunderung nicht aufhören.

    Es war nicht immer praktisch, so weit vorne zu sitzen. Da bekam einey weniger von dem mit, was hinter einerm geschah. Und so waren die Studenterne in der ersten Reihe fast so verwundert ob der andauernden Unruhe, wie Professore Reylin. Sie wandten sich nach hinten, de Professore musterte jedey wie mit Adleraugen. Ens Blick blieb an einerm jungen Raldovar hängen, de als einzige ruhig und mit unergründlichem Gesichtsausdruck in der dritten Reihe saß. En mochte vom Aussehen eine Arn von Anfang zwanzig sein. Ọş schnappte Wortfetzen aus dem Getuschel der anderen Studenterne auf: »Wo kommt en denn her?! Ich habe en nicht reingehen sehen!«

    Dann etwas lauter von Hyra, de Ọşs Wissen nach eine Kọra war und direkt neben derm Neuen saß: »Du hast mir einen Heidenschreck eingejagt! Eben gerade saß da noch niemand, wie hast du das gemacht?!«

    De Neue blickte ernst und ungerührt geradeaus. Beim Sprechen rollte en das R ganz weich im Hals. Ọş überlegte, in welchem Akzent dies üblich war, doch kam er auf kein Ergebnis.

    »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken. Von Zeit zu Zeit schleiche ich, ohne es zu beabsichtigen«, sagte en mit weicher, ruhiger Stimme und neigte dabei respektvoll den Kopf.

    Einige lachten. Professore Reylin räusperte sich.

    »Nun, da das geklärt ist, darf ich noch einmal um Ruhe bitten!«

    »Entschuldigen Sie, Professore! Aber en hier hat sich aus dem Nichts vor mir materialisiert, ich kann Hyras Reaktion schon nachvollziehen!«, meldete sich ein andere Raldovar, de direkt hinter derm Neuen saß. Jedenfalls war jetzt Ruhe. Nur Tşel meldete sich zu Wort: »Außerdem – von wo willst du bitte gekommen sein? An mir bist du nicht vorbeigegangen. Und von woanders hättest du nicht kommen können. Wo in aller Welt kommst du bitte her?! Und wer bist du?« – Tşel saß links von derm Neuen und war ein Fọr, wie Ọş wusste. Tşel wurde mit seinem Gebaren alten Klischees gerecht. Fọren wurde nachgesagt, sie könnten es nur schwer ertragen, wenn etwas unerklärt blieb.

    Das dicke Lehrbuch krachte erneut aufs Pult. De Professore kniff ense Augen zu einem engen Spalt zusammen und sah Tşel durchdringend an. »Also gut! Ich kenne Sie alle vom letzten Trimester, und zwar namentlich. Bis auf Sie!«, en deutete auf de Neue, »Sie wissen daher als Einzigey hier im Raum nicht, wie sehr ich die Ruhe der Aufmerksamkeit in meinen Lehrveranstaltungen zu schätzen weiß. Dennoch scheinen Sie im Augenblick de Ruhigste im Saal zu sein! Ich wünsche, dass sich alle anderen augenblicklich ein Beispiel an Ihnen nehmen!«

    Es war schwer zu sagen, ob en sauer oder sehr erstaunt war. Letzteres wäre nicht allzu verwunderlich, wenn wir uns weiter auf alte Klischees berufen wollten und uns erlauben würden, Professore Reylin nach ensem Aussehen ebenfalls in die Schublade des Fọrs zu stecken. Doch das Geschlecht einers Dozentes ging natürlich kein Studente etwas an und so sollten auch wir davon absehen.

    »Professore, ich will wissen, seit wann es möglich ist, eine Teleportation durchzuführen, ohne dass der Organismus dabei stirbt!« Tşel trug eine zerknautschte, braun karierte Mütze, sowie eine runde, schwarze Brille. Sein Fell war von dunkelbrauner Farbe, aber seine Denkfalten waren nun trotz Gesichtsbehaarung schwer zu übersehen.

    Teleportation? Glaubte Tşel das etwa wirklich? Ọş wechselte einen amüsierten Blick mit Soyl.

    »Nein, Person Gow, Teleportation ist noch nicht ohne Abtötung sämtlicher Organismen möglich und wird es meiner Meinung nach auch niemals sein. Erst gestern habe ich eine Tagung besucht, in der ein Referente die neuesten Errungenschaften in der Quantenforschung dargelegt hat. Und so unbemerkt, wie de junge Raldovar den Saal auch betreten haben mag, Teleportation können wir wohl guten Gewissens ausschließen!« Durchdringend blickte de Professore nun de Neue an und sagte höflich, aber nach wie vor mit einem leicht verärgerten Unterton: »In jedem Fall haben Sie recht erfolgreich auf sich aufmerksam gemacht. Hätten Sie die Güte, sich nun wenigstens rasch vorzustellen?«

    Peinlich berührt aber mit stolzem Schwung erhob sich de Raldovar und sagte ruhig: »Gern, Professore Reylin. Es war durchaus nicht meine Absicht, ein solches Aufsehen zu erregen. Mein Name ist Khleona Dalia, ich bin eine Arn aus … ähm … Gorikhapa in Filopa. Ich bin letzte Woche erst hierhergezogen. Da in Gorikhapa die Studiengebühren erneut angestiegen sind und die Universität von Golaḩ legendär ist, habe ich mich entschlossen, mein Studium hier fortzusetzen.«

    Ọş hörte gebannt zu. Khleona Dalia. Ein Gorikhapischer Name? Und sie stellte sich wie selbstverständlich mit ihrem Geschlecht vor. War das in Gorikhapa normal? Ihr Akzent hatte etwas Magisches. Und dieser Blick … Das Sonnenlicht reflektierte sich in ihren dunkelblauen Augen und ließ sie wie Edelsteine glitzern. Gleichzeitig ließ es ihre kurzen, dunkelroten Haare wie Feuer leuchten. Sie wirkte, als ginge sie das alles hier gar nicht das Geringste an … und gleichzeitig, als wüsste sie ein bisschen mehr, als alle anderen im Saal …

    Etwa zwei Minuten später wurde Ọş unsanft aus seinen Gedanken gerissen.

    »Person Fẹn! Würden Sie nun bitte wieder nach vorne schauen?«

    Erst jetzt merkte Ọş, dass er immer noch halb nach hinten und aus einem Fenster sah. Verwirrt blickte er sich um. Er hatte doch auch wirklich nur aus dem Fenster gesehen? Er bildete sich ein, dass Khleona ihm kurz zulächelte. Die Situation war ihm äußerst unangenehm. Ihre Stimme hatte in ihm etwas bewegt. Und zwar ganz massiv. Noch immer klangen jene sachlichen Worte wie Musik durch seinen Kopf. Er rutschte ein bisschen tiefer in seinen Sessel. Sein Taschencomputer projizierte ein Rechteck vor Ọş auf den Tisch. Mit einem farblosen Stift schrieb er konzentriert ein falsches Datum in das Rechteck, es wurde sofort digitalisiert und als Beginn einer neuen Notiz abgespeichert.

    Nach der Vorlesung verließen Ọş und Soyl mal wieder als erste den Saal. Wiederum ein Vorteil, vorne in einem Saal zu sitzen, sofern dort auch ein Ausgang gelegen war.

    »Was war eigentlich eben mit dir los, als du da wie versteinert aus dem Fenster geschaut hast?«, spottete Soyl.

    »Keine Ahnung. Ich war in Gedanken.«

    »Ah. Und woran hast du so gedacht?«, bohrte er mit einem frechen Grinsen nach.

    »Äh … ach so. Ich … hab nur überlegt, ob einey sich vielleicht irgendwann wirklich teleportieren kann.« Irgendwie klang das nicht sehr überzeugend … aber er wollte Soyl nicht die Wahrheit sagen. Er kam sich selbst lächerlich vor.

    Sein Freund blickte ihn auch tatsächlich leicht prüfend von der Seite an. Doch dann beließ er es dabei und wechselte das Thema: »Was hast du vor, Ọş? Ich wollte mir was zu beißen kaufen. Gehen wir zum Bistro, wie letztes Trimester immer?«, fragte er schließlich.

    Ọş war intuitiv neben der Tür des Vorlesungssaals stehengeblieben.

    »Ach so … nein, ich muss noch was erledigen. Geh ruhig, wir sehen uns in der nächsten Stunde.«

    »Was musst du denn erledigen?« »Äh … Professore Reylin was fragen.« Khleona kam heraus.

    »Geh jetzt ruhig, sonst wird die Schlange nur immer länger! Bis nachher!«, versuchte Ọş, seinen Freund möglichst unauffällig wegzuscheuchen.

    Und endlich ging Soyl kopfschüttelnd den Gang entlang in Richtung Bistro. Er drehte sich aber noch einmal um, entdeckte Khleona und schüttelte erneut den Kopf. Eine Schlange? In der ersten Pause? In der ersten Pause ging nur ins Bistro, wer sein Frühstück verschlafen hatte. Gut, unter Studenternen kam das schon vor, aber viele hielten es dann doch bis zur Mittagspause aus oder begnügten sich mit einem Becher Korrek aus dem Automaten. Aber zumindest ging einey doch nicht als Erstes aus dem Hörsaal, wenn einey mit derm Professore reden wollte.

    Khleona war inzwischen zu einem Raumplan gegenüber der Hörsaaltür geschlendert und schien diesen aufmerksam zu studieren. Ọş holte tief Luft und gesellte sich zu ihr.

    »Hi«, sagte er bemüht locker und schaute ebenfalls auf den Plan.

    »Guten Morgen! Du warst eben auch bei der Vorlesung, richtig?«

    »Ja, genau!«

    »Kannst du mir sagen, wo die nächste Vorlesung stattfindet? Ich kenne mich hier noch nicht aus.«

    »Klar doch! Ich wollte gerade fragen, ob ich helfen kann. Mein Name ist übrigens Ọş.«

    »Freut mich, danke! Ich bin Khleona.«

    »Ja, du kommst aus Filopa, richtig? Das muss eine echt unangenehme Situation gewesen sein, eben«, meinte Ọş mitfühlend.

    »Nun, ich war auch nicht ganz unschuldig«, stellte Khleona fest.

    Ọş wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.

    »Du bist sehr offen. Einige erscheinen mir hier sehr … wie soll ich sagen? – selbstbezogen«, sagte Khleona nachdenklich. Ọş lief eine Gänsehaut über den Rücken. Was passierte hier? Wer war diesey Person?

    »Äh danke. Du auch«, erwiderte er plump.

    Schweigend liefen sie nebeneinander her, bis sie schließlich beim nächsten Vorlesungssaal ankamen.

    »Hier ist es.«

    Er war plötzlich noch ein wenig unsicherer. Das Schweigen war zwar nicht unangenehm gewesen, aber jetzt waren sie an der Tür zum Vorlesungssaal und er wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte.

    »Ich gehe jetzt ins Bistro. Mein Freund Soyl müsste da sein«, meinte er unsicher, ohne Anstalten zu machen, sich abzuwenden.

    »Gut, wir sehen uns. Und danke dir für die Hilfe!«, lächelte sie und zeigte Auf Wiedersehen¹.

    »Kein Problem, immer gerne!«, erwiderte er und ging unsicher winkend in Richtung Bistro.

    Soyl unterhielt sich gerade mit Helk, den er schon aus der Grundschulzeit kannte. Soyl hatte bereits als Kind in dem Dorf Relşẹst gewohnt, das etwa zehn Kilometer von Golaḩ entfernt lag. Dort war er geboren und eingeschult worden. Nach der Grundschule waren seine Eltern mit ihm nach Hasugrajn gezogen. Der Abschied von seinen Freundernen, insbesondere von Helk, war ihm damals sehr schwergefallen. Die kleine Großstadt kam ihm riesig und er sich darin verloren vor. Doch seine Eltern hatten ihn mit zu den Spielen der Bajtelns genommen, eines international bekannten Kengornteams, das in Hasugrajn saß. Außerdem hatte er in der neuen Schule Ọş kennengelernt. Zusammen hatten sie den Akademikerneabschluss gemacht, um Biologie zu studieren. Und hier hatte er feststellen dürfen, dass sein alter Freund Helk einen ähnlichen Weg eingeschlagen hatte. Es war wie eine Heimkehr nach langen Jahren gewesen.

    »Hey Ọş! Hätte gar nicht gedacht, dass du noch kommst! Die Gespräche mit Professore Reylin dauern doch meistens etwas länger. Was hast du en eigentlich gefragt?«

    »Äh … nix Besonderes. Gibt’s noch Dşọk?«

    »Denke schon.«

    Dşọk war Ọşs absolutes Lieblingsgetränk. Es wurde aus den scharfen Zẹşwurzeln gebraut. Die Zẹşwurz wuchs fast ausschließlich im gemäßigten Mesorika, weshalb der süßlich-scharfe Dşọk ein Hauptexportgut Ẹxiliens war. Es wurde traditionsgemäß in speziellen Glasflaschen mit großen Bügelverschlüssen und in verschiedenen Schärfegraden verkauft.

    In der folgenden Vorlesung traf es sich, dass nur noch der Platz links neben Ọş frei war, als Khleona den Saal betrat. Sie grüßten sich und Khleona lächelte ihn freundlich an, als sie sich neben ihm niederließ. Ọş spürte, wie sein Kopf heiß wurde und hoffte, nicht allzu violett im Gesicht zu werden.

    Soyl, der auf der anderen Seite von Ọş saß, fragte ihn leise, woher sie ihn kannte.

    »Hab sie getroffen, als ich mit Professore Reylin geredet hab. Wir haben uns nur kurz gesehen.«

    Als Soyl etwas später konzentriert etwas aufschrieb, beugte sich Khleona zu ihm herüber. »Du Ọş?«

    »Ja, was denn?«, flüsterte er und beugte sich ein wenig in ihre Richtung, ohne von seinen holographischen Mitschriften aufzuschauen. Ihm lief ein Schauer über den Rücken, der diesmal sogar in die hinteren Fußzehen hineinreichte.

    »Wieso sagst du Soyl nicht, dass du mir den Weg gezeigt hast?« »Ich weiß nicht …«, gestand er unsicher.

    »Ah.« Sie schrieb weiter.

    »Seid ihr ein Paar?«, flüsterte sie kurz darauf. »Nein«, grinste Ọş.

    »Verstehe.«

    »Was ist?«, wollte Soyl wissen. »Nichts …«

    »He, Sie drei da! Was meinen Sie als Unbeteiligte, was ich gerade wohl gesagt habe?« Es gab noch Proffessorne, die es nicht aufgegeben hatten, um die Aufmerksamkeit ihres Auditoriums zu kämpfen.

    Nach der Vorlesung verabschiedete sich Khleona und verschwand eilig in einem Korridor. Verwirrt blickte Ọş ihr hinterher.

    »Was hat sie eben gefragt?«, wollte Soyl beim Herausgehen wissen.

    »Ob wir zusammen sind«, erwiderte Ọş und legte Soyl scherzhaft einen Arm über die Schulter. Doch dieser schüttelte den Arm ab, blieb wie angewurzelt stehen und sah ihn perplex an.

    »Warte, was?!«

    Ọş sah ihn erstaunt an.

    »Was hast du denn? Könnte doch sein!«

    »Aber was geht sie das an? Kommt aus dem Nichts daher und fragt so persönliche Fragen?«

    »Was ist los mit dir? Ist doch nichts dabei!«

    »Schonmal daran gedacht, dass sie dich einfach ärgern wollte? Ich finde die eigenartig.«

    »Nein! Sie war eben neugierig! Was hast du denn auf einmal?«

    Es war lange her, dass Soyl und er sich zum letzten Mal gestritten hatten. Das gefiel ihm gar nicht. Was ging denn vor in seinem Freund? Hatte er etwa Angst, dass Ọş neue Freundschaften schloss?

    Ọş grübelte immer noch über die Situation nach, als er nachmittags wieder nach Hause ging. Damals war Soyl der Neue gewesen und Ọş hatte sich rasch mit ihm angefreundet. Ọş mochte es, neue Leute kennenzulernen. Wenn sich daraus eine Freundschaft ergab, umso besser! Warum sah Soyl das mit seiner Vergangenheit nicht genauso?

    Dann war er auch schon zu Hause. Er wohnte in der Ẹl-Rismor-Straße sieben, im elften Stockwerk eines Bionic Towers – eines Turmes, der mit Hilfe von speziellen Algen Elektrizität erzeugte und so gleichzeitig die Luft und das Abwasser reinigte. Eigentlich wollte er mit Soyl zusammen eine gemütliche Zweier-WG gründen, doch sein Freund wollte unbedingt wieder in seinem alten Heimatdorf wohnen. Ọş wollte aber nicht jeden Tag auf den Luftbus angewiesen sein und so hatten sie sich jeweils eigene Bleiben gesucht. Und vielleicht war das auch besser so gewesen.

    Der Bionic Tower war riesig und ragte hoch über die anderen Gebäude des Stelzenbezirks hinaus. Ọş betrat das Gebäude durch den Bewohnerneeingang. Zu den Technikräumen und zu dem kleinen Supermarkt im Erdgeschoss gab es eigene Zugänge.

    Er fuhr mit dem Schwebelift nach oben, presste seinen Daumen auf die Platte neben seiner Wohnungstür, woraufhin diese aufging und schmiss seinen Rucksack in eine Ecke.

    »Guten Tag, Ọş. Die Raumtemperatur beträgt 20 Grad Celsius. Ich habe mir erlaubt, zu lüften, die Außentemperatur beträgt vor den Fenstern 8,3 Grad Celsius. Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Tag!«, begrüßte ihn der Wohnungscomputer.

    »Danke, dir auch«, murmelte er, schlüpfte aus seinen Schuhen, ohne sie zu öffnen, und ging in die Küche.

    Nachdem er Wasser aufgesetzt hatte und einen Löffel Korrekpulver in die Glaskanne gegeben hatte, ließ er sich erst einmal auf einen Stuhl sinken. Er war total aufgekratzt. Die ganze Zeit musste er an Khleona denken. Immer wieder fragte er sich, weshalb er der Einzige war, der bis jetzt auf sie zugegangen war. Zumindest auf eine freundliche Art und Weise, ohne von Teleportation zu faseln … und schließlich merkte er, dass er es eigentlich gar nicht so schlimm fand, der Einzige zu sein.

    Ihm fiel auf, dass er vergessen hatte, in seinen Briefkasten zu schauen.

    »Computer, war die Post da?«

    »Vor drei Stunden wurde etwas in Ihr Postfach geworfen«, bestätigte die Stimme aus dem Off.

    Beim Einzug in seine Studenternewohnung vor nunmehr etwa einem halben Jahr hatte er die Möglichkeit gehabt, den Wohnungscomputer mit einem Namen seiner Wahl zu versehen. Doch das Science-Fiction-begeisterte Kind in ihm hatte die künstliche Intelligenz schlichtweg »Computer« getauft. Ọş goss den Korrek auf und fuhr noch einmal mit dem Schwebelift nach unten.

    Im Eingangsbereich bestand eine Wand fast vollständig aus Briefkästen. Dem seinen entnahm er eine Ausgabe des Golaḩkuriers. Er seufzte. Zeitungen aus Papier, wo einey doch ohnehin schon überall mit digitaler und personalisierter Werbung überhäuft wurde, hielt Ọş für absolut archaisch.

    Dennoch blätterte er kurz durch und tatsächlich blieb sein Blick an einer Abbildung hängen. Darunter stand, dass derzeit besonders günstig Paddelboote auf dem Fluss Ryạ vermietet wurden. Das Wetter sei bestens geeignet, das Wasser gerade noch warm genug zum Schwimmen und ein Treffen mit den Tşerila sei so gut wie garantiert.

    Tşerila! Irgendwie gruselte es ihm vor diesen Kreaturen ebenso sehr, wie er sie faszinierend fand. Gigantische Wesen, die in den Ozeanen und Stromgewässern des Planeten hausten und dort sogar riesige Städte erbauten. Sie waren gute fünf bis zehn Meter lang, hatten große, geheimnisvolle Augen und bewegten sich mittels vieler Tentakel durchs Wasser, die je zwei Reihen kleiner Saugnäpfe aufwiesen. Irgendwie konnten diese Meeresungeheuer mit ihren schlängelnden Armen genauso fein arbeiten, wie ein Raldovar mit ensen Händen. Viele behaupteten, die Tşerila seien allen anderen Bewohnernen des Planeten in ihrer Intelligenz weit überlegen.

    Dass diese majestätischen Wesen hier wie eine Touristenattraktion beschrieben wurden, grenzte schon fast an eine Beleidigung.

    Nachdenklich betrachtete er das Foto über dem Artikel, auf dem einige Boote in Aktion abgebildet waren. Ob eine gemeinsame Unternehmung zusammen mit Khleona und Soyl nicht eine gute Idee wäre? Gerne wollte er Khleona besser kennenlernen und er hoffte, Soyl würde sie weniger verurteilen, wenn er sie erst einmal kannte.

    Also schrieb er sich den Namen des erwähnten Bootsverleihs auf.

    Wenig später wusch Ọş gerade das Geschirr vom Vortag ab, als er sich dabei ertappte, in Gedanken Streitgespräche mit Soyl zu führen. Er schüttelte den Kopf. Das ging so einfach nicht an. »Computer«, rief er über das Plätschern des Wassers hinweg, »ruf Soyl an!«

    »In Ordnung. Ich baue eine Verbindung zu Soyl Şaḩil auf. Soll ich ein Hologramm über deinen Taschencomputer projizieren?«, schlug Computer sofort vor.

    Solche Geräte hatte heutzutage fast jeder. Die runden, handlichen Dinger hingen oft an einer Kette und verfügten über einen Knopf, einen Holoprojektor und einen Haufen Sensoren. Einey konnte damit alles tun, was einey sich mit einem mobilen Computer zu tun vorstellen konnte. Geladen wurden sie durch Bewegung, Körperwärme oder mithilfe der Induktions-Ladestation. Gegenüber Tablets hatten sie den Vorteil, in jede Hosentasche zu passen, aber den Nachteil, dass Hologramme bei starkem Sonnenschein schwerer zu erkennen waren.

    »Ja, mach das«, bat Ọş, trocknete sich die Hände ab und legte den etwa handtellergroßen Taschencomputer neben sich auf die Anrichte. Wenig später schwebte darüber die holographische Büste seines Freundes.

    »Was gibts?«, fragte dieser.

    Gar keine so leichte Frage. Was sollte er eigentlich sagen? Die Dialoge aus seinen gedanklichen Streitgesprächen waren jetzt wenig hilfreich. »Wie geht es dir?«, fragte er stattdessen plump.

    Soyls Hologramm musterte ihn kritisch. »Mir geht es gut.«

    »Gut.«

    »Ọş, was ist?«

    »Ich will nicht, dass irgendwas komisch ist, zwischen uns. Khleona ist neu, ich wollte einfach, dass sie sich ein bisschen willkommen fühlt, nach der komischen Situation in der Biochemievorlesung.«

    »Du warst komisch. Du hast gar nicht mit Professore Reylin gesprochen, oder?«

    »Nee …«

    »Warum machst du so ein Ding draus? Von mir aus ist nix komisch zwischen uns.«

    »Gut. Hast Recht. Gehen wir morgen zusammen ins Bistro?«

    »Machen wir. Mach dir nicht so ’nen Kopf!«

    »Danke.«

    Soyls Hologramm löste sich auf. Er legte immer einfach auf, wenn er das Gespräch für beendet hielt.

    Bevor Ọş einschlief, dachte er noch lange darüber nach, wie er seine Idee erklären sollte, wann sie die Paddeltour am besten unternahmen und vor allem, was die beiden wohl erwidern würden. Das einzige Ergebnis, zu dem er kam, war, dass die Paddeltour am besten kommenden Şevat passen würde, also am ersten Tag des Wochenendes.

    Irgendwann

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