Zwei für einen: Ein Missionarsehepaar zwischen Islam, Gefängnis und Großfamilie
Von David Byle und Anna Lutz
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Über dieses E-Book
Die Geschichte eines Ehepaars, das zwischen Islam und Verfolgung, Gott erlebt - auf ganz unterschiedliche Weise.
David Byle
Ulrike (Jg. 1963) und David (Jg. 1969) Byle lernten sich in Zentralasien kennen und lebten über 20 Jahre in der Türkei, wo sie ihre fünf Kinder großzogen. David arbeitet als Evangelist bei der Missionsgesellschaft "Operation Mobilisation". Und auch Ulrike ist es ein großes Herzensanliegen, Menschen das Evangelium weiterzugeben. Nachdem David 2018 wegen seiner missionarischen Tätigkeit aus der Türkei ausgewiesen wurde, lebt das Paar in Berlin-Neukölln.
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Buchvorschau
Zwei für einen - David Byle
Ulrike und David Byle
mit Anna Lutz
ZWEI
FÜR
EINEN
Ein Missionarsehepaar zwischen Islam,
Gefängnis und Großfamilie
SCMSCM | Stiftung Christliche MedienSCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7585-2 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6112-1 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2023 SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de
Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002
und 2006 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Holzgerlingen.
Weiter wurden verwendet:
Hoffnung für alle ® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®.
Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel (HfA)
Lektorat: Christina Bachmann
Umschlaggestaltung: Stephan Schulze, Stuttgart
Titelbild: Familie Byle Privatfotos und fotostudioneukoelln.de; Parulava/unsplash;
Gefängnis/gettyimages
Autorenfoto: © David & Ulrike Byle
Co-Autorenfoto: © Annette Riedl
Bildteil: © Familie Byle
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Ein Mensch kann sich nichts nehmen,
wenn es ihm nicht vom Himmel her gegeben wird.
Johannes der Täufer
Johannes 3,27
INHALT
Über die Autoren
Vorwort
Prolog
Ein Testament mit 27 und Elefantenohren
1963–1992 und 1969–1995
Auf nach Zentralasien!
1992–1995
Liebe ohne Grenzen
1995–1999
Fuß fassen in der Türkei
1999–2005
Auf den Straßen Istanbuls
2005–2007
Die Morde von Malatya
2007
Zum ersten Mal im Gefängnis
2007
Geschichten, Gebete und ein Gottesdienst hinter Gittern
2007–2016
Ein langer Abschied
2017–2019
Deutschland auf Türkisch
2019–2022
Epilog
Danksagungen
Anmerkungen
Porträt von David und Ulrike ByleDavid und Ulrike Byle lernten sich in Zentralasien kennen und lebten über 20 Jahre in der Türkei, wo sie ihre fünf Kinder großzogen. David arbeitet als Evangelist bei der Missionsgesellschaft »Operation Mobilisation«. Und auch Ulrike ist es ein großes Herzensanliegen, Menschen das Evangelium weiterzugeben. Nachdem David 2018 wegen seiner missionarischen Tätigkeit aus der Türkei ausgewiesen wurde, lebt das Paar nun in Berlin-Neukölln.
Porträt von Anna LutzAnna Lutz Ulrike (Jg. 1983) ist Journalistin und lebt mit ihrem Mann und drei Kindern nahe Berlin. Neben verschiedenen Buchprojekten verfasst sie regelmäßig Texte für das Magazin PRO. Dabei bewegen sie vor allem die Themen Politik und Religion.
VORWORT
Wenn ich mich recht erinnere, begegnete ich Ulrike und David Byle zum ersten Mal bei einer Konferenz christlicher Mitarbeiter in der Türkei. Meine türkische Frau und ich waren nach ein paar Jahren in Deutschland gerade wieder dorthin umgezogen. Familie Byle hatte vor kurzer Zeit Turkmenistan verlassen müssen, sie waren als Missionare dort nicht mehr gern gesehen. Sie mussten in Istanbul wieder von vorne beginnen mit einem Sprachstudium und dem Einleben in eine weitere neue Kultur. Aber dass sie nicht daran dachten, ihren Dienst der Evangeliumsverkündigung unter Muslimen aufzugeben, schien sonnenklar.
Bei weiteren Konferenzen fiel David mir dann dadurch auf, dass er vehement für mutigere Evangelisation durch die Missionare in der Türkei plädierte. Viele ausländische Mitarbeiter hielten sich mit einer Verkündigung in der Öffentlichkeit eher zurück und sahen ihre Aufgabe darin, die einheimischen Christen aus dem Hintergrund heraus zu ermutigen. Davids Votum: »Nein, wir müssen vielmehr selbst vorangehen!« Ich konnte nichts dagegen einwenden.
Und das tat er dann: Evangelistische Verkündigung auf den Straßen Istanbuls schätzten damals viele Christen als zu riskant ein. David begann einfach und ermutigte gerade dadurch über Jahre hinweg viele andere, ihre Ängste und Bedenken abzulegen. Ja, David nahm dafür böse Worte von Passanten, manche Gespräche mit der Polizei, auch mal Schläge in Kauf, aber das schien für ihn Teil der Tätigkeit als Evangelist zu sein.
Als am 18. April 2007 zwei türkische und ein deutscher Christ in Malatya wegen ihres Glaubens brutal ermordet wurden, war ich kurz vorher zu einer Besprechung im Zentrum des Bibel-Korrespondenz-Kurses in Istanbul gewesen, den David leitete. Einer der ermordeten Türken war mein Schwager Necati Aydin. David war einer der Ersten, der mich noch auf der Busfahrt von Istanbul nach Izmit, wo wir damals wohnten, anrief und mir sein Mitgefühl aussprach.
Die Frage, wie Leiden und Nachfolge Jesu zusammenhängen, beschäftigt mich seit dem Verlust meines Schwagers noch stärker. Für David und Ulrike schien das schon vorher keine Frage gewesen zu sein: Demnach geht es nicht etwa darum, Verfolgung anzustreben, aber wir sind Zeugen Jesu – buchstäblich »um jeden Preis«, also auch, wenn das verbale und körperliche Angriffe nach sich ziehen sollte.
Als David in den folgenden Jahren wegen seiner missionarischen Aktionen mehrmals in Abschiebehaft war, es aber irgendwie immer schaffte, in der Türkei zu bleiben, drehten sich unsere Gespräche nicht um die Unannehmlichkeiten der Nächte in Polizeigewahrsam. Er sprach nicht über Rückenschmerzen wegen harter Pritschen, über schlechtes Essen oder Angst vor Gewalt durch andere Insassen. Vielmehr berichtete er mir mit Begeisterung davon, wie viele Gelegenheiten Gott ihm geschenkt hatte, in der Haft Jesus zu bezeugen.
Über die Jahre habe ich türkische Christen öfter darüber klagen hören, dass manche Missionare in der Türkei zu bequem leben und im Ernstfall schnell weg sind. Solche Beschwerden haben meine Frau und ich über David und Ulrike nie gehört: Ihr Eifer für die Sache Jesu, aber auch ihr einfacher Lebensstil und ihre Hingabe an die Gemeinde in der Türkei waren überzeugend. Und sind es bis heute.
Wolfgang Häde, Missionswissenschaftler und Schwager
des türkischen Märtyrers Necati Aydin
Juni 2022
PROLOG
Ulrike, 1999
Das Baby schläft im Koffer. Ich habe ihn aufgeklappt auf den Boden der Wohnung mitten in Istanbul gelegt, die für den Übergang unser neues Zuhause sein soll. Ein paar weiche Decken sorgen dafür, dass Johannes es in seinem Behelfsbett bequem hat. Halbwegs zumindest. Das Baby stören die Umstände nicht. Manche Kinder können überall schlafen.
Den Inhalt der Tasche haben David und ich provisorisch in unserer Bleibe ausgebreitet. Ein paar Klamotten hängen über Stühlen und Nachttischen, Papiere sind auf dem Bett verteilt, das Nötigste für den Kleinen liegt auf dem Fliesenboden – mehr Besitz hatten wir nicht bei uns, als wir einige Tage zuvor, jung, erst kurz verheiratet, mit viel Unsicherheit im Bauch und Erwartungen im Kopf, auf dem Istanbuler Flughafen gelandet sind.
Den muslimischen Türken die Liebe Gottes näherbringen – das war unsere Vision, die uns hierhergebracht hatte. In der Türkei gab es damals zwar einige ausländische Missionsorganisationen, aber kaum christliche Gemeinden. Wir wollten mithelfen, mehr Kirchen aufzubauen und das Evangelium auf der Straße zu verbreiten.
Doch dann kamen die Hochhäuser. Die Dunkelheit. Die fremde Sprache. Und die Sorge um den Neugeborenen. Die erste Fahrt vom Flughafen zur neuen Unterkunft ist mir als düstere Vision in Erinnerung geblieben: laute Menschen überall. Von deren Gesprächen verstand ich nur Bruchstücke. Betonmonolithen mit Fenstern in immer gleicher Anordnung, links und rechts. Eine scheinbar unendliche Autofahrt. Und die hämmernde Frage in meinem Kopf: Was mache ich, wenn mein Baby krank wird?
Hätte ich damals gewusst, wohin uns unsere Reise noch führen würde – ins türkische Gefängnis nämlich –, ich wäre sofort umgekehrt. Diese Stadt, die belebten Straßen voller Menschen und Autos, die Häuserschluchten und der Lärm – das alles konnte nicht weiter von dort entfernt sein, wo ich groß geworden war. Istanbul war eine Zumutung für ein Landei wie mich, aufgewachsen auf einem Bauernhof im schwäbischen Dorf Öschelbronn. Nie hatte ich in eine große Stadt ziehen wollen. Was nur hatte mich glauben lassen, ich könnte mich ausgerechnet in einer türkischen Metropole mit fünfzehn Millionen Einwohnern zu Hause fühlen?
David, 1999
Ich verstand kein einziges Wort. Als wir in Istanbul auf dem Flughafen landeten, umgab mich plötzlich ein Gewirr von Stimmen und trotz meiner Grundkenntnisse in Turkmenisch erschien mir Türkisch so fremd wie irgendeine andere Sprache dieser Welt. Ich erinnere mich nicht mehr daran, ob es Tag oder Nacht war, als wir landeten und uns auf den Weg in unsere kleine Übergangswohnung im Stadtteil Harem machten. Aber eines weiß ich noch genau: wie sehr ich mich freute.
Der Gedanke, den Türken von Jesus und seiner Geschichte zu erzählen, beflügelte mich trotz aller Unwägbarkeiten, die unser Umzug mit sich brachte. Denn immerhin hatten wir unseren kleinen Sohn dabei, gerade mal wenige Wochen alt. Es kam mir vor, als stünden uns in der Türkei alle Türen offen. Vor unserer Abreise hatten Ulrike und ich lange darüber gegrübelt, wohin wir als Missionare ziehen wollten – auch Afghanistan stand damals zur Debatte. Ulrike fühlte sich dem Land auf seltsame Weise verbunden, betete immer wieder für die Afghanen. Doch am Ende hatten wir uns dagegen entschieden.
Uns beiden war klar, dass ich egal, wo ich lebte, das Evangelium laut und deutlich proklamieren würde. In einem Land wie Afghanistan hätte uns das vermutlich schnell in ein Taliban-Gefängnis befördert. Oder wir hätten in der Wüste gekniet, gefesselt und mit verbundenen Augen, unsere Hinrichtung erwartend. Im Gegensatz dazu warteten in Istanbul paradiesische Zustände auf uns, dachte ich.
Ich konnte damals nicht ahnen, dass dieses Abenteuer mich mehrmals in Haft und Ulrike mit unseren Kindern zu Hause an die Grenze ihrer Kräfte bringen würde. Wäre es mir die Sache dennoch wert gewesen? Vermutlich ja. Denn das Leben eines Missionars ist mir geradezu in die Wiege gelegt worden.
EIN TESTAMENT MIT 27
UND ELEFANTENOHREN
1963–1992 und 1969–1995
Ulrike: Ich wurde im Jahr 1963 als zweites Kind von dreien in eine Bauernfamilie hineingeboren. Nahe Tübingen bewirtschaftete meine Familie einen kleinen Hof. Meine Mutter Elsbeth stammte aus Öschelbronn, mein Vater Richard aus dem Ort nebenan. Fünf Kühe, fünf Schweine, zwanzig Hühner, Weizenfelder, Zuckerrüben und eine Apfelplantage – das war unser Leben. All das mussten wir bewirtschaften, um unseren Unterhalt zu sichern.
Für mich begann jeder Wochentag früh am Morgen. Nach dem Kindergarten und später der Schule half ich auf dem Hof, mistete den Stall aus, holte Eier von den Hühnern, las liegen gebliebene Kartoffeln von den Feldern auf oder half beim Holzmachen.
In dem fast hundert Jahre alten Bauernhaus waren Arbeit und Leben eng verzahnt: Im Erdgeschoss befand sich der Kuhstall, gleich darüber das Wohnzimmer meiner Familie und im Dach der Getreidespeicher. Hinter dem Wohngebäude lag ein Holzschuppen, in dem Holz für den Winter eingelagert wurde, sowie der Hühnerstall, davor lag der Misthaufen, dessen Geruch mich zwar meine Kindheit lang begleitete, mir aber kaum schlimm vorkam. Er war so normal wie die Arbeit im Dreck und an der frischen Luft.
In den 60er- und 70er-Jahren waren die Höfe noch wenig spezialisiert, die Arbeit vielseitig und kaum von der Industrie geprägt. Jahre später, als das Geschäft sich langsam ausdifferenzierte, stieg mein Vater aus und war fortan als Lagerverwalter bei einer örtlichen Bank beschäftigt. Meine Mutter hingegen – sie war schon immer von ganzem Herzen Bäuerin gewesen – arbeitete weiter auf dem Hof. Er war ihr Leben.
Meine Kindheit war voll heller und dunkler Momente. Da gab es jene Bullerbü-Tage, an denen ich mir vorkam wie im gleichnamigen schwedischen Film. Im Gras liegend beobachtete ich die Wolken, im Sommer nach der Weizenernte, die bis in die Nacht gehen konnte, versuchte ich, die Weite des Sternenhimmels in mich aufzusaugen. Ich liebte es, meinen Vater aufs Feld zu begleiten, neben ihm auf dem Traktor zu sitzen, Teil seiner Arbeit zu werden, ohne selbst viel dazu beizutragen. Ich saß nur da und schaute ins Grüne, wir haben noch nicht einmal viel gesprochen. Und doch waren wir uns so nah wie Halm und Ähre.
Mein Vater blickte für gewöhnlich positiv auf das Leben, Schwierigkeiten schienen ihn nicht aus der Bahn zu werfen. Das hatte mit seinem tiefen Glauben zu tun. In der Kirche sah man unsere Familie zwar nicht an jedem Sonntag. Die Hochzeitsbibel meiner Eltern stand irgendwo im Bücherregal, aber sie fand kaum den Weg in ihre Hände. Wir sprachen Tischgebete und hatten eine Verbindung zur örtlichen Gemeinde – aber eher so, wie es auf dem Land eben üblich ist. Und dennoch: Vater vertraute fest auf seinen Gott. Auf dem Feld, in der Familie und später in der Bank blickte er immer über seinen Horizont hinaus – und sah dort Güte. Sie ließ ihn sanft bleiben, wenn die Tage hart waren. »Es ist alles in Ordnung«, höre ich ihn das Versprechen Gottes an die Menschen aus 1. Mose 8,22 zitieren: »Solange die Erde besteht, wird es Saat und Ernte geben, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.«
Ganz anders ging meine Mutter durchs Leben. Sie war 1933 geboren und hatte die Wucht des Krieges als kleines Mädchen miterleben müssen. Wie viele Kinder der damaligen Zeit musste sie auf dem Hof mit anpacken, als wäre sie eine Erwachsene. Das Gefühl, schon als Kind Verantwortung für die Familie zu tragen, hatte sie nie wieder losgelassen. Den auf dem Dorf gängigen christlichen Glauben erlebte sie mehr als Last denn als Erlösung. Die frommen Traditionen des Landlebens raubten ihr ihre Freiheit. Die gerade aufgekommenen Seidenstrümpfe geziemten sich nach Ansicht der Familie nicht für ein anständiges Mädchen. Ebenso wenig wie die kurzen Haare, die meine Mutter als Jugendliche zunächst unter einem Kopftuch verbarg. Was würde der Vater sagen und was nur würden die Leute im Dorf denken? Sie wollte einerseits nicht auf die neue Mode verzichten, aber konnte das Gerede darüber dann doch schwer aushalten.
Die Last der frühen Verantwortung machte auch später in meiner Kindheit das Leben meiner Mutter schwer. Im Dorf half sie zwar immer gerne und schnell mit. Sie backte zum Beispiel alle zwei Wochen Brot für unsere Familie im Dorfbackhaus und gab immer gerne etwas davon an andere ab. Andererseits aber hielt sie es kaum aus, wenn die Dinge außer Kontrolle gerieten. Und wie nur sollte ein Leben mit drei Kindern und einem Bauernhof stets kontrolliert sein können? Kein Tag verging ohne Schimpftiraden und Wutausbrüche:
»Man muss sich schämen mit euch Kindern!«
»Womit habe ich euch verdient?«
»Ihr bringt mich noch ins Grab!«
Je häufiger Mutter Sätze wie diese aussprach oder schrie, desto tiefer sickerte eine Erkenntnis in meinen kindlichen Geist: Ich bin nichts wert.
Als ich älter wurde, verbrachte ich oft Stunden allein und dachte über das Leben nach und wozu es bloß gut sein sollte. Ich sah das damals nicht, aber heute weiß ich: So wie die Verantwortung meine Mutter hat leiden lassen, so litt ich an ihrer Missachtung.
Ich erinnere mich an einen Tag im Herbst. Finster war es draußen, meine Mutter hatte gerade einen ihrer verzweifelten Wutausbrüche gehabt. Traurig verkroch ich mich in den Schuppen hinter dem Haus. Immer öfter würde ich das künftig tun: Einsamkeit suchen. Bloß nicht in ihre Nähe kommen. Die Dunkelheit erschien mir sicherer. Einfacher. Allein und im Finstern fragte ich mich: Was muss eigentlich geschehen, damit meine Mutter mich liebt? Und würde ich jetzt sterben, könnte sie mich wohl vermissen?
Diese Zeiten voll Licht und Schatten und die Frage nach dem Sinn hinter allem begleiteten mich alle Jahre meines Heranwachsens. Sie waren der Grund dafür, dass ich mich eines Tages neu mit dem christlichen Glauben beschäftigte. Doch es war ein langer Weg.
Ganz selbstverständlich war ich als Mädchen Teil der örtlichen Jungschar, einer christlichen Jugendeinrichtung. Jede Woche traf ich mich mit anderen Kindern meines Alters in den einfachen Räumen gegenüber der Öschelbronner Bäckerei. Wir hörten Bibelgeschichten und sangen gemeinsam Lieder, die von Jesus Christus handelten. Ich genoss die Gemeinschaft, aber Gott war mir fremd. Gelegentlich betete ich, doch meine Worte stiegen scheinbar nie höher als bis zur Zimmerdecke. Manchmal bekam ich eine Ahnung davon, dass Beten sich auch anders anfühlen konnte – immer dann, wenn ich die Jugendleiter in der Jungschar zu Gott sprechen hörte. Es klang, als redeten sie mit einem Freund.
In einem Sommer – ich muss um die zwölf Jahre alt gewesen sein – flatterte die Einladung zu einer Jugendfreizeit in Bad Liebenzell in unser Haus. Rund fünfzig Kinder zwischen elf und vierzehn Jahren sollten sich dort treffen und ein paar schöne Tage miteinander verbringen. Meine Freundinnen waren dabei, also sagte auch ich zu und machte mich auf den Weg in die dreißig Kilometer entfernte Kurstadt. Dort ist bis heute der Sitz der Liebenzeller Mission, einer evangelischen Missionsgesellschaft, die die Jugendfreizeit veranstaltete. Die Liebenzeller senden Christen in die ganze Welt aus, um die Botschaft von Jesus weiterzuerzählen.
Während der Sommerfreizeit waren wir Kinder in einfachen Hütten untergebracht. Jeden Morgen gab es eine Bibelarbeit, wir wanderten gemeinsam oder gingen schwimmen. Doch die Woche brachte mir weit mehr als nur nette Begegnungen mit Gleichaltrigen fernab des Alltags auf dem Hof. Zwischen all den Jugendlichen und Missionaren begann sich meine Sicht auf den Glauben zu verändern. Zum ersten Mal hörte ich davon, dass Gott Mensch geworden sein sollte, um die Welt zu retten. Ich hörte die Botschaft, dass er jeden liebte und sich sogar nach mir – dem einfachen Kind vom Land – ausstreckte und mir begegnen wollte. Konnte das wahr sein?
Mehrmals war ich kurz davor, dazu ein Gespräch mit den Leitern der Freizeit zu suchen. Doch immer dann, wenn ich mich fast überwunden hatte, fragte ich mich: Was werden wohl die anderen über mich denken, wenn ich diesem Jesus folge?Was werden nur die Leute denken? So verließ ich die Freizeit mit diesem bedrückenden Wissen: Ich habe mich wie ein Feigling verhalten und habe eine Chance verpasst, Gott kennenzulernen.
Als ich wieder zu Hause war, erinnerte ich mich daran, dass irgendwo in einem meiner Bücherregale eine alte graue Taschenbibel ungelesen herumlag. Von diesem Tag an schlug ich sie immer wieder auf. Je mehr ich las, desto mehr fühlte ich: Hinter diesen Worten steckt jemand, der es gut mit mir meint. Auf der letzten Seite des Buchs entdeckte ich ein Gebet:
Vater im Himmel, vergib mir meine Schuld. Danke, dass du meine Sünden vergeben hast, weil Jesus Christus für mich am Kreuz gestorben und mein Erlöser geworden ist. Herr Jesus, bitte übernimm du die Führung in meinem Leben. Verändere mich nach deinem guten Willen, so, wie du mich haben willst. Danke, dass du mein Gebet erhört hast. Amen.
Darunter fanden sich zwei freie Zeilen, eine für das Datum, an dem diese Worte vom Leser gesprochen worden waren. Und eine weitere für