Christen sind Fremdbürger: Wie wir wieder werden, was wir sind: Abenteurer der Nachfolge in einer nachchristlichen Gesellschaft
Von Stanley Hauerwas und William H. Willimon
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Buchvorschau
Christen sind Fremdbürger - Stanley Hauerwas
Teil I:
Abschied
Kapitel 1
Die moderne Welt: Lernen, die richtigen Fragen zu stellen
Irgendwann zwischen 1960 und 1980 ist es geschehen, dass eine alte Welt zu Ende ging und eine neue begann. Die eine, alte Welt hat sich erschöpft, und eine aufregend neue Welt wartet darauf, begriffen zu werden. Dieses Buch handelt davon, was es in dieser neuen Welt bedeutet, Christ zu sein. Was es heißt, Geistlicher zu sein, der sich um Christen kümmert, die in dieser veränderten Welt leben.
Eine veränderte Welt
Wann und wie ist dieser Wandel geschehen? Auch auf die Gefahr hin, trivial zu klingen: Einer von uns wäre versucht, die Veränderung an einem bestimmten Sonntagabend festzumachen, der sich im Jahr 1963 in seiner Heimatstadt ereignet hat. Damals, als in Greenville, South Carolina, das Kino mit dem Namen «Fox Theatre» die staatlichen Feiertagsgebote ignorierte und seine Pforten erstmals an einem Sonntag öffnete. An diesem Abend machte ich mit sechs Freunden, allesamt regelmäßige Besucher des sonntagabendlichen Jugendgottesdienstes unserer örtlichen methodistischen Kirche, einen Pakt: rein durch die Haupttüre der Kirche, gesehen werden, und dann auf leisen Sohlen raus durch die Hintertür und weiter zu John Wayne im Fox.
Jener Abend wurde zum Wendepunkt in der Geschichte des Christentums nach South-Carolina-Art. An diesem Abend reichte Greenville – bis dahin letzter Hort des Widerstands gegen die fortschreitende Säkularisierung der westlichen Welt – die Kündigung ein. Ab sofort: keine Freikarten mehr für die Kirche. Das Kino hatte der Kirche den Fehdehandschuh hingeworfen im Wettstreit darüber, wer die Weltanschauung der Jugend fortan bestimmen dürfe, und hatte gewonnen.
Zum Vergleich: Noch der Generation unserer Eltern wäre es nie in den Sinn gekommen, sich darüber Sorgen zu machen, ob ihre Kinder als Christen aufwachsen würden. Die Kirche war die einzige Show in der Stadt. Und sonntags war die Stadt geschlossen. Man konnte sich nicht einmal einen Liter Benzin besorgen. Sonntag früh um Viertel vor zehn gab es Staus auf den Straßen. Alle waren auf dem Weg zum Gottesdienst.
Was die Menschen sahen, war eine Welt, die ihnen gut und richtig erschien – auch wenn dabei einiges übersehen wurde, was tatsächlich nicht in Ordnung war; man denke nur etwa an die Rassentrennung, die in dieser Welt herrschte. Und doch: Für Eltern, die ihre Kinder zur Kirche brachten, galt dieser Akt als eine Bestätigung all dessen, was ihnen gut, gesund, vernünftig und amerikanisch erschien. Kirche, Familie und Staat formten einen nationalen Verbund, der dafür Sorge trug, «christliche Werte» in der Gesellschaft zu verankern.
Menschen wie Will Willimon oder Stanley Hauerwas wuchsen als Christen auf, ganz einfach, weil sie das Glück hatten, in Orten wie Greenville, South Carolina, oder Pleasant Grove, Texas, das Licht der Welt erblickt zu haben.
Es ist erst einige Jahre her, dass wir beide aufwachten. Wir begannen zu realisieren, dass ungeachtet dessen, ob die harmonischen Annahmen unserer Eltern über die Welt und den christlichen Glauben damals zu Recht bestanden, heute jedenfalls keiner mehr daran glaubt. Oder jedenfalls so gut wie keiner.
Ob wir nun Pfingstler sind oder Evangelikale, Katholiken, Lutheraner oder Methodisten – wir treffen heute jedenfalls kaum einmal ein Elternpaar, einen Studenten oder Automechaniker, welche glauben, dass man Christ wird durch Osmose: allein dadurch, dass man in einem christentumsfreundlichen Amerika – oder eben in der freien westlichen Welt – Luft einatmet oder Wasser trinkt. Zwar gibt es sicherlich noch solche Leute, die es für möglich halten, eine «christliche» (oder zumindest eine etwas gerechtere) Kultur zu schaffen, indem man ein paar «christliche» Senatoren wählt und entsprechende Gesetze verabschiedet. Doch merken heute mehr und mehr Menschen, dass diese Hoffnung längst überholt ist, ganz gleich, wie herzerwärmend sie diese finden mögen.
Christen verschiedener Couleur wachen nun auf und realisieren, dass dies nicht länger «unsere» Welt ist – wenn sie es denn jemals wirklich gewesen sein sollte.
Wir wollen keinesfalls so verstanden werden, als wollten wir behaupten, dass vor 1963 alles besser gewesen wäre für gläubige Christen. Was wir sagen, ist lediglich, dass bevor das Fox Theatre seine Pforten auch am Sonntag öffnete, Christen sich in der Vorstellung einrichten konnten, an den Hebeln der Macht über eine im Wesentlichen christliche Gesellschaft zu sitzen.
Wir glauben tatsächlich, dass die Welt einen Wandel erfahren hat, nur dass dieser Wandel nicht mit der geänderten Öffnungszeit der Kinos begann. Die Welt wurde grundlegend verändert in Jesus Christus, und wir Christen haben seitdem (meist allerdings reichlich schleppend) versucht, mit diesem Wandel Schritt zu halten.
Vor der Sonntagsöffnung des Fox Theatre konnten wir uns selbst einreden, dass es mit einigen am Evangelium vorgenommenen Anpassungen gelingen könne, amerikanische Werte in einen locker gesteckten christlichen Rahmen zu packen, so dass wir Christen uns als kulturell bedeutsam vorkommen konnten. Diese christliche Selbstverortung in der Welt nahm im Jahr 313 mit Kaiser Konstantins Vereinbarung von Mailand ihren Anfang und endete nach unserer Berechnung um das Jahr 1963. Freilich erinnern uns Datumsangaben, wie etwa Geburts- und Todesjahre, daran, dass die Dinge nicht in Stein gemeißelt