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Die kybernetischen Gärten von Babylon
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eBook389 Seiten4 Stunden

Die kybernetischen Gärten von Babylon

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Über dieses E-Book

Bei der Belagerung einer Festung stößt die Armee des assyrischen Königs Nimrod auf ein seltsames Wesen: Semiramis ist das Ergebnis der genetischen Experimente der Künstlichen Intelligenz Gott. Sie landet als Kampfsklavin am Hofe des Königs und wird bei dessen Eroberungskriegen zur unverzichtbaren Geheimwaffe. Nach Nimrods Tod wird sie von dessen Sohn Ninyas mit Hilfe der Erzengel aus der Hauptstadt Ninive vertrieben. Am Fuße eines aufgegebenen Weltraumaufzuges erbaut sie die Stadt Babylon mit den berühmten hängenden Gärten. Als sie auch dort von Ninyas und den Erzengeln angegriffen wird, bricht sie zusammen mit dem gefallenen Engel Luzifer und seiner defekten Sicherheitskopie Satan ins All auf, um Gottes Weltraumstation zu erobern. Der Supercomputer entschließt sich daraufhin ebenfalls zu drastischen Maßnahmen: zur Anrichtung einer Sintflut …
SpracheDeutsch
HerausgeberWurdack Verlag
Erscheinungsdatum21. Feb. 2023
ISBN9783955561659
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    Buchvorschau

    Die kybernetischen Gärten von Babylon - Michael Böhnhardt

    1

    Semiramis streifte durch das duftende Labyrinth der Gärten hinter dem königlichen Palast von Ninive. Statt in den Thronsaal, hatte Nimrod sie hierher befohlen. In letzter Zeit hielt er die meisten seiner Unterredungen draußen im Sonnenschein ab. Um so besser, auch sie fühlte sich im Freien deutlich wohler als in den marmornen Sälen des Palastes, mochten diese noch so prunkvoll ausgestattet sein. Bisher hatte sie den König an keinem der üblichen Plätze entdecken können. Leicht geduckt, aufmerksam auf jedes Geräusch achtend, schlich sie über die schmalen Pfade, die sich zwischen Wiesen, Bäumen und Sträuchern schlängelten. In den ersten Jahren ihrer Ausbildung hätte sie jederzeit damit rechnen müssen, dass plötzlich Krieger mit Netzen aus dem Gebüsch sprangen, um ihre ständige Kampfbereitschaft zu testen, doch das war schon lange nicht mehr vorgekommen. Darauf vorbereitet war sie selbstredend trotzdem.

    Halb links hörte sie ein helles Lachen. Sofort duckte sie sich und folgte dem Geräusch, dabei stets auf ihre Deckung achtend. Kurz erhaschte sie den Anblick eines nackten Mädchens, das sich umsah, indem es mit schlenkernden Brüsten und fliegenden dunklen Haaren eine volle Umdrehung vollführte, bevor es hinter einer sorgsam gestutzten Hecke verschwand. Kurz darauf brach Ninyas aus dem rot blühenden Gebüsch, ebenso nackt, und hastete lachend hinter ihr her.

    Semiramis schnaubte leise. In der Richtung, in der die beiden verschwunden waren, lag ein kleiner Teich, geschützt von dichtem Gestrüpp, in dem sich gemütliche Lauben verbargen.

    »Mein Sohn hat Gefallen an den Sklavinnen aus Elam gefunden.«

    Semiramis erstarrte. Sie hatte Nimrod nicht bemerkt. Nicht nur das, sie hatte vollkommen vergessen, warum sie hier im Garten war. Was war los mit ihr? Der König würde mit Recht ärgerlich sein. Und wenn er erriet, weswegen sie sich so aufführte … Sie richtete sich auf und wandte sich um. Jetzt entdeckte sie Nimrod, der an einer Zeder lehnte und in das Gartengewirr lauschte. Die Schatten auf seinem Gesicht verhinderten, dass sie seine Laune einschätzen konnte.

    »Was ich von dieser Sklavin gerade sehen konnte, war durchaus bemerkenswert«, sagte sie. Sie schritt auf den König zu. Nimrod wirkte erschöpft, dabei war noch nicht einmal Mittag.

    »Ninyas bemerkt ziemlich wahllos«, sagte Nimrod. »Mir wäre es lieb, wenn er für andere Dinge ähnliches Interesse aufbrächte.«

    »Ninyas verbringt viel Zeit mit seinen Studien. Die alten Kanäle, die er wieder in Gang gesetzt hat, verhelfen uns zu reichen Ernten.«

    »Du meinst also, ich habe das Reich erobert, und er wird dafür sorgen, dass es blüht?«

    »So würde ich es sehen.«

    »Und was wird dein Platz sein?«

    »Ich werde ihn beschützen, wie ich es immer getan habe.«

    Nimrod wiegte den Kopf. Dann räusperte er sich. »Ich habe eine neue Aufgabe für dich. Diese wird dich interessieren.«

    »Jeden Eurer Aufträge erledige ich mit derselben Sorgfalt«, sagte sie.

    »Ja, das weiß ich. Meine Kundschafter melden, dass weiter südlich in den Sümpfen ein seltsames Wesen sein Unwesen treibt.«

    »Was heißt seltsam? Und was Unwesen?«

    »Ein gehörntes Wesen. Ein Seraph, würde ich sagen. Und man kennt seinen Namen. Luzifer.«

    Das klang tatsächlich interessant.

    »Deine Mutter hat alle männlichen Seraphim gehasst. Bis auf ihn. Für mich klang es, als sei sie in ihn verliebt gewesen.«

    Liebe. Ein lächerliches Wort. Erst vor ein paar Tagen wollte jemand aus enttäuschter Liebe zu wem auch immer eine Nacht mit ihr verbringen, wohl wissend, dass kaum jemand eine solches Schäferstündchen zu überleben pflegte. Selbstverständlich hatte sie seinen Wunsch erfüllt. »Muss nicht der Seraph sein, den sie erwähnt hat.«

    »Könnte aber.«

    Wunschdenken. Nicht besser, als wenn ein kleines Mädchen den Tod der Mutter nicht wahrhaben will. Dreizehn Jahre weilte sie nun schon am Hofe des Königs, und zum ersten Mal hörte sie von einem Chaoswesen, das ihr ähnelte. Und dann noch diesen Namen trug, den Namen, den ihre Mutter ihr unbedingt hatte mitteilen wollen.

    »Wie zuverlässig ist diese Nachricht?«, fragte sie.

    »Du stellst die richtigen Fragen.«

    »Das habt Ihr mir beigebracht.«

    »Nein«, sagte Nimrod. »Ich habe dir geholfen, das zu werden, was du bist. Eine Seraphin, und eine ziemlich beeindruckende dazu. Nun, vielleicht bist du ja nicht neugierig, woher ihr Seraphim stammt, ich aber bin es bestimmt.«

    »Mir war nicht klar, dass Ihr mich so seht.«

    »Du bist, was du bist. Sieh in einen Spiegel. Du siehst keinen Menschen.«

    Semiramis schwieg.

    »Ich muss mehr über diese Kreaturen wissen.«

    Kreaturen.

    »Die Legenden besagen ja, dass manche der geraubten Frauen die Kinder dieser Wesen austrugen …«

    »Meine Mutter war ebenfalls eine solche Kreatur.«

    »Diese Chaoswesen waren immer schon da. Schlangen, Löwen, Panther, Krokodile, manches wild durcheinander. Und früher haben sie uns wirklich heimgesucht. Sie haben uns aufgelauert oder als Meute unsere Dörfer überfallen. Immer wieder haben sie Menschen geraubt und verschleppt. Manche der Verschleppten wurden als Sklaven eingesetzt und mussten die Dinge erledigen, zu denen die Tiere mit ihren Pranken nicht fähig waren. Manche verschwanden auf Nimmerwiedersehen in den Turmbauten. Damals waren sie schlauer und handelten mit einem Ziel, oder auf einen Befehl hin. Begleitet wurden sie von seltsamen mechanischen Wesen, die sich von selbst bewegten, und sie alle sollen von Stimmen gelenkt worden sein. Es gibt aber auch Legenden, dass diese Räuberbanden von menschenähnlichen Geschöpfen angeführt wurden, die aufrecht gingen und sprechen konnten. Man munkelt dabei immer wieder zwei Namen, einmal Azrael und zum anderen Luzifer.«

    Warum hatte sie noch nie davon gehört? Blöde Frage. Wer würde ausgerechnet ihr unbedarft alte Märchen über Chaoswesen erzählen? »Ihr kanntet den Namen bereits?«

    »Ja.«

    »Auch den von meinem Vater? Belizal?«

    »Nein, den nicht.«

    Das konnte stimmen, musste es aber nicht. Nimrod verriet ihr niemals mehr, als sie wissen musste, um einen Auftrag auszuführen. »Chaoswesen sind auch heute nicht dumm. Sie sind deutlich schlauer als die Tiere, aus denen man sie zusammengesetzt hat.«

    »Das stimmt, aber die regelmäßigen Überfälle haben aufgehört, ebenso die Arbeiten, all die Bauten verfallen, und die Kanäle und Felder und Werkstätten werden inzwischen von Menschen auf eigene Faust in Gang gehalten. Ein besonderes Steckenpferd von meinem Sohn, woran du mich gerade erinnert hast. Manchmal überfallen sie uns noch, rauben Menschen, aber es wirkt fast wie ein altes Laster, von dem sie aus Gewohnheit nicht loskommen.«

    »Und was ist jetzt mit diesem Luzifer?«

    »In den Sümpfen ist ein Wesen aufgetaucht, das sich so nennt. Viele Menschen haben Angst, dass all die verstreuten Chaoswesen sich um ihn sammeln und er die alte Gottesherrschaft wieder errichtet.«

    »Was hat Gott damit zu tun?« Gott saß mit seinen Erzengeln auf der Insel Dilmun. Das war weit weg und gut so.

    »Es gibt Leute, die behaupten, bei den Stimmen, auf die diese Wesen hörten, habe es sich um Gott gehandelt.«

    Kein Gerücht und keine Legende konnte so wirr sein, dass nicht irgendjemand felsenfest von dessen Wahrheit überzeugt war. »Ist da was dran?«

    »Die Chaoswesen haben uns seit Generationen überfallen und verschleppt, und sie haben uns niemals erklärt, warum sie das tun. Zu verschiedenen Gelegenheiten habe ich mit den Erzengeln gesprochen und die haben mir erklärt: Es sei eine Lüge von diesen Monstern, dass Gott unsere Versklavung befohlen hätte. Sie wären einfach grausame Bestien, Gott habe Erbarmen mit uns gehabt und uns die Erzengel geschickt, um uns von ihnen zu befreien.«

    »Das passt zu dem, was meine Mutter auf dem Kristall erzählt.«

    »Stimmt. Trotzdem, ich traue weder Gott noch den Erzengeln.«

    »Die Sache gefällt mir nicht.«

    Nimrod runzelte die Stirn. »Mein Befehl gefällt dir nicht?«

    »Ich würde die Vergangenheit gern ruhen lassen. Die Chaoswesen waren schon immer die Feinde der Menschen. Das wird für meine Mutter ebenso gegolten haben, und auch für diesen Luzifer. Ich will damit nichts zu tun haben. Jetzt lebe ich bei Euch. Ich habe meine Heimat, ich habe meine Leute.«

    »Wie soll ich das verstehen?«

    »Ich …«

    »Machst du dir Sorgen, dass du die Seiten wechselst, nur weil du einem Seraph begegnest?«

    »Nein, natürlich …«

    »Denn wenn du dir solche Sorgen machst, dann müsste ich mir ebenfalls Sorgen machen. Ich habe da einen Seraph in meinem Reich herumlaufen, der meine Untertanen belästigt. Und ich habe einen Seraph in meiner Armee, der mir jenen Kerl einfangen kann. Natürlich schicke ich diesen Seraph dann los. Da denke ich nicht zwei Mal drüber nach. Der Gedanke, an deiner Treue zu zweifeln, ist mir bis heute nicht gekommen. Also, muss ich mir Sorgen machen?«

    »So war das nicht gemeint«, sagte sie. »Gerade um zu vermeiden, dass jemand zweifelt … Ganz Ninive zweifelt und lästert über mich.«

    »Ich bin Ninive. Ich bin Assur. Kümmere dich darum, dass ich niemals zweifle. Alles andere sollte dir egal sein.«

    Eben noch fragte er sich, wie Ninyas sein Erbe wohl fortführen würde, jetzt wiederum hielt er sich für unsterblich. »Wollt Ihr diesen Luzifer lebendig oder tot?«

    »Lebendig. Ich möchte ihm Fragen stellen. Ich habe so viele Fragen.« Damit wandte er den Blick von ihr ab und lauschte wieder in den Garten. Vom Teich her erklang ein regelmäßiges Stöhnen herüber. Ninyas hatte das Wild offenkundig eingefangen.

    Semiramis wartete noch einen Moment, um sicher zu gehen, dass Nimrod sie tatsächlich nicht mehr beachtete, verbeugte sich und zog sich langsam zurück. Sie schlug einen Bogen, um sich außer Sichtweite des Königs dem Teich zu nähern. War sie nicht bei Trost? Verschwinde! Sie schlich weiter. Das Stöhnen des Mädchens erklang jetzt ganz in der Nähe, sie mussten in dem Pavillon hinter der Rosenhecke sein.

    »Suchst du etwas Bestimmtes?«

    Semiramis stieß langsam die Luft aus. Das war heute wirklich nicht ihr Tag. Sie wandte sich um. Vor ihr stand Ninyas. Jetzt war er nicht mehr nackt, sondern hatte einen Umhang nachlässig über eine Schulter geworfen.

    »Oh ja, Nin … yasssss …«, klang die Stimme des Mädchens herüber.

    »Ich war mir nicht sicher, ob du wirklich da in dem Gebüsch hockst oder ob ich mich täusche«, sagte Ninyas. »Also habe ich ihr gesagt, sie soll schon mal ohne mich anfangen.«

    »Oh, oh, oh, jaaaa …«

    »Sie macht das sehr überzeugend«, sagte Semiramis.

    »Du kannst jetzt aufhören«, rief Ninyas.

    »Ninnn …. yassss ...«

    »Man fragt sich, wie viel von ihrem üblichen Gestöhne überhaupt echt ist, nicht wahr?«, sagte Semiramis.

    »Halt endlich die Klappe!«

    Das Stöhnen brach ab. Semiramis stellte sich kurz vor, wie das Mädchen beleidigt ihre Kleidung zusammenraffte und davon stapfte. Aber das war Unsinn. Sie war eine Sklavin.

    Und was war sie selbst?

    »Man erzählt sich, bei dir wäre es ziemlich eindeutig festzustellen, ob deine Leidenschaft echt ist«, sagte Ninyas. »Du zerreißt deine Liebhaber in Fetzen, so wie du deine Feinde im Kampf in Stücke reißt.«

    »Das erzählt man sich?«, fragte sie.

    »Man fragt sich, wie ein Mann überhaupt selbst genügend ausdauerndes Interesse aufbringen kann, um diese Reaktion bei dir hervorzurufen.«

    »Die Geschmäcker sind verschieden«, sagte sie. »Manche Männer erregt die Gefahr. Andere Männer bevorzugen harmloses Wild.«

    »Harmloses Wild. Hm. Du kannst es nennen, wie du willst. Was schleichst du mir nach?«

    »Ich suche deinen Vater«, sagte Semiramis.

    »Mein Vater ist im Garten? Gut. Wir sollten das mit ihm klären …« Er holte tief Luft.

    »Nicht!«, sagte sie und trat rasch einen Schritt auf ihn zu.

    Ninyas wich instinktiv zurück, das Gesicht kreidebleich. Er trat auf seinen Umhang, strauchelte und verlor den Halt. Ebenso instinktiv griff sie nach ihm, doch vor dieser Geste schreckte er noch weiter zurück und stürzte zu Boden.

    »Warte«, sagte Semiramis.

    Noch immer kreidebleich, krabbelte Ninyas rücklings von ihr weg. Aus seinen Augen blitzte die Panik, die sie inzwischen allzu oft in allzu vielen Gesichtern gesehen hatte. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen, Tränen, war das zu fassen; sie knurrte und rannte davon.

    2

    Luzifer hockte in seinem Büro – das eher eine finstere Höhle war, so wie alles hier – und grummelte vor sich hin. Vor der verschlossenen Tür dürfte sich inzwischen ein Großteil der zweihundert Seraphim eingefunden haben, die auf der unwirtlichen Oberfläche des Planeten Phrat unter seinem Kommando in der Verbannung dahinvegetierten.

    Im Grunde war es ein Tag wie jeder andere gewesen. Am Morgen hatte ihn eine Alarmmeldung aus seiner Schlafkoje getrieben: Zwei Reaktoren der westlichen Sauerstoffanlage waren ausgefallen. So etwas passierte natürlich genau dann, wenn bereits die Ersatzversorgungsleitung für Block Siebenundzwanzig dringend repariert werden musste und nur noch minimale Durchleitungen erlaubte. Die lokalen Reservetanks hatten gerade mal so ausgereicht, bis sie den Schaden behoben hatten. Jetzt, als sich die Angst etwas gelegt hatte, drängelten sich in der Wartehalle all die Seraphim, die ein paar Fragen loswerden wollten: Wieso hatte sich niemand um die Reparatur der defekten Notleitungen gekümmert, wenn doch bekannt war, dass sie defekt waren? Wie lange genau war das schon bekannt? Und was die ausgefallenen Reaktoren anbetraf: Waren diese planmäßig gewartet worden? Und wenn nein, warum nicht? Und wenn ja, wusste man schon, warum sie trotzdem ausgefallen waren?

    Natürlich kannten sie alle die Antwort: Die Technik hier pfiff auf dem letzten Loch. Das war noch nie anders gewesen. Dass sie gute dreißig Standardjahre nach ihrer Ankunft hier auf Phrat immer noch am Leben waren, hätte niemand für möglich gehalten. Dass es überhaupt einen Wartungsplan gab, um sich nicht daran zu halten, war reine Symbolpolitik: Schmucke Bürokratie suggerierte beruhigende Planmäßigkeit. Doch wie es in der Realität lief, sollte jedem klar sein: Mekardor und seine Jungs sprangen immer genau dorthin, wo gerade am lautesten geschrien wurde. Und damit waren sie vollends ausgelastet.

    Nun saß er hier in seiner Kammer und hoffte darauf, dass den Seraphim vor seiner Tür das Warten zu langweilig wurde. Er hatte keine Lust, der keifenden Meute draußen gegenüberzutreten, aber auch nicht vor, sich durch die Hintertür davonzuschleichen. Das war nicht sein Stil. Irgendwann würde er hinausgehen müssen, besonders, da sich sein Magen inzwischen laut und vernehmlich meldete. Er brauchte was zu essen, und der Gedanke daran, was er sich als Ersatz dafür in den Rachen stopfen musste, verdarb ihm den Tag endgültig.

    Draußen kam plötzlich Tumult auf. Dann flog die Tür auf und Baal stolperte fauchend herein.

    »Was soll dieser Unsinn hier?«, schrie er.

    Hinter ihm quetschten sich weitere Seraphim durch die noch immer offene Tür. Luzifer erhob sich langsam.

    »Raus!«

    Das funktionierte noch immer. Der Tumult verstummte und die Eindringlinge hasteten hinaus. Auch Baal wandte sich zur Tür.

    »Du nicht«, sagte Luzifer. »Schließ bitte die Tür.«

    Baal schubste die Tür ins Schloss und drehte sich um. Der alte Kerl wirkte so knurrig und verbittert wie eh und je. Schön, dass es Sachen gab, auf die man sich verlassen konnte.

    »Kannst du nicht anklopfen?«, fragte Luzifer.

    »Tut mir Leid. Als ich mich dort draußen durch die Meute gekämpft habe, müssen mir dabei meine Manieren abhanden gekommen sein.«

    »Manieren. Wann hattest du jemals welche? Also, was gibt es?«

    »Ein Schiff nähert sich dem Planeten.«

    »Ein Transporter? Wurde auch Zeit. Wie lange ist es her, seit Gott zum letzten Mal ein bisschen was zu Essen abgeworfen hat? Ich habe diese Nährpaste langsam satt.«

    »Wer hat denn Mekardors Vorschlag abgeschmettert, mal andere Synthetisierungsverfahren auszuprobieren?«

    Ja, genau. Auf das Gejammer wäre er mal gespannt, wenn der Meistertüftler bei solchen Versuchen ihre einzige Nahrungsquelle zerschredderte. So wie er für mehrere Monate ihre Energieversorgung lahmgelegt hatte, sodass sie nicht nur im Dunkeln gesessen hatten, sondern auch die Notstromversorgung für die Sauerstoffgewinnung mit Muskelkraft betreiben mussten. Wie viele Versuche hatte es gedauert, bis Mekardor diesen funktionierenden Bakterienstamm herangezüchtet hatte? Und wie froh waren sie darüber gewesen, als ein paar Monate später das übliche Versorgungsschiff ausgeblieben war. Nein, was auch immer in diesem Kessel brodelte und blubberte, so lange durch die Ausflussrohre kostbarer Nährschleim tropfte, würde Mekardor das Ding nicht anfassen. Bis heute hatte er es nicht geschafft, eine zweite funktionierende Anlage aufzusetzen, obwohl er den Schleim aus der Funktionierenden als Ausgangspunkt hatte.

    Und trotzdem juckte es den Kerl in den Fingern, am bestehenden Kessel herumzubasteln. »Er braucht nur ein paar genauere Messwerte aus dem Inneren«, murmelte Luzifer. »Zwei, drei Probebohrungen. Nichts, worüber man sich Sorgen machen muss.«

    »Was?«, fragte Baal.

    »Ein Transporter also. Wurde auch Zeit.«

    »Wir wissen nicht, was das für ein Schiff ist«, sagte Baal. »Fällt in keine Klassifikation, die wir kennen.«

    »Gott schmeißt häufig mit Felsen. Wie klassifizierst du die?«

    »Große Felsen. Scheißgroße Felsen. Überhaupt kein Felsen. Das ist es übrigens.«

    »Was?«

    »Es ist kein Felsen. Ist ein richtig schickes Schiff. Davon hatte Gott zu unserer Zeit nicht besonders viele und warum sollte er so etwas Hübsches verwenden, um seinen unbeliebtesten Engeln ein paar Hilfspakete abzuwerfen?«

    »Jetzt hast du meine Neugier geweckt.«

    »Das war der Sinn der Sache.«

    Luzifer erhob sich und trat zur Tür. Hier hielt er inne und holte tief Luft. Es würde nicht einfach werden, sich durch die Meute da draußen durchzukämpfen.

    »Warum genau stehen die da?«, fragte Baal.

    »Das Übliche.« Luzifer öffnete die Tür und schritt hindurch. Der Saal war vollkommen leer. »Die Neuigkeit scheint sich herumgesprochen zu haben.«

    »Wundert mich nicht. Kommst du?«

    Sie hasteten durch den Stollen in Richtung des Koordinationszentrums. Luzifer stieß sich ein paar Mal den Kopf, schimpfte auf das mangelhafte Licht (als ob er nicht selbst die Energiesparmaßnahmen angeordnet hätte) und erreichte schließlich den Eingang zur Zentrale. Darin rannte ein aufgebrachter Seraph hin und her. Als er sie hörte, sprang er ihnen entgegen.

    »Also, darf ich die Schleudern einsetzen?«, fragte er.

    Mekardor und sein Lieblingsspielzeug, die Magmaschleudern.

    »Achso, das habe ich vergessen zu erwähnen«, sagte Baal und verdrehte die Augen. »Er will sie abschießen, ist das zu fassen?«

    »Dieses Schiff ist in die Atmosphäre eingedrungen und fliegt so tief, dass wir es mit den Schleudern erreichen können?«, fragte Luzifer.

    »Ja, auch das hätte ich vielleicht erwähnen sollen«, sagte Baal.

    »Noch nicht, aber bald«, sagte Mekardor. »Ihr Kurs führt sie genau genau in den Korridor, den wir mit unseren Schleudern abdecken. Ich habe ja gesagt, dass ein anfliegendes, angreifendes Objekt genau diese Route wählen würde. Ihr habt mich ausgelacht.«

    »Wir müssen ja nun nicht alles abschießen, nur weil es zufällig in Reichweite deiner Schleudern fliegt«, sagte Luzifer. »Ich kann ja verstehen, dass du die Dinger auch mal im echten Einsatz ausprobieren möchtest, aber trotzdem. Deine Schleudern funktionieren, das wissen wir. Und was sie mit ihrer Magmaladung treffen …«

    »Sie greifen uns an. Sie fliegen Angriffskurs.«

    »Sie könnten auch landen«, sagte Baal.

    Luzifer blickte ihn völlig verblüfft an.

    »Schon mal was von Gravitationsloch gehört?«, fragte Mekardor. »Niemand landet auf einem Planeten.«

    »Das haben wir beide schon zwei Mal getan. Und unser Obermotz sogar noch einmal mehr.«

    »Ich würde das nicht landen nennen«, sagte Luzifer. »Abstürzen trifft es besser. Ich habe noch kein Fluggerät jemals wieder abheben sehen.«

    »Vielleicht stürzen sie ja ab«, sagte Baal. »Dann haben wir ein ganzes Schiff voller Technik, die wir ausschlachten können.«

    »Man kann schon von einem Planeten wieder abheben«, sagte Mekardor. »Ist nicht Gottes Art und Weise, aber es geht.«

    »Wenn man konzentrierten Treibstoff in Hülle und Fülle hat«, sagte Luzifer.

    »Und verrückt genug ist, mit so viel Sprengstoff unterm Arsch eine solche holprige Landung zu wagen«, sagte Baal.

    »Das ist nicht Gottes Art und Weise«, wiederholte Mekardor. »Aber es wäre genau seine Art, uns mit einer selbststeuernden Bombe zu vernichten. Sie taucht hier auf, sondiert ihr Ziel und trifft dann voll ins Schwarze.«

    »Gott darf uns nicht einfach alle töten«, sagte Luzifer. »Das widerspricht seinen Direktiven.«

    »Er lässt uns hier im Grunde verhungern«, sagte Mekardor.

    »Da findet er einen Weg, sich da rauszureden. Aber eine Bombe …«

    »Das Ding stürzt ab«, sagte Baal. »Viel Spielzeug für Mekardor.«

    »Ich würde mich ja auch drüber freuen. Aber die greifen uns an, glaub mir.«

    »Und wenn es keins von Gottes Schiffen ist?«, fragte Luzifer.

    »Was denn sonst?«, fragte Baal.

    »Etwas völlig Fremdes.«

    Bleierne Stille senkte sich über den Raum.

    »Das ist doch Unsinn«, sagte Baal.

    »Auch Gott ist in diesem Sonnensystem eines Tages als völlig Fremder angekommen«, sagte Luzifer. Er stellte sich den einsamen, hilflosen Computer vor, der sich erst alle Werkzeuge schaffen musste, durch die er dann so mächtig wurde, wie er heute war. Wissen allein war noch keine Macht, wurde es nur dann, wenn es tatsächlich wirksam werden konnte.

    »Wenn es wirklich ganz von außen kommt, dann sollten wir es erst recht abschießen«, sagte Mekardor. »Ein Gott reicht, finde ich.«

    »Dürfte dann tatsächlich kein biologisches Leben drin sein«, sagte Baal.

    »Das schließt jetzt mal nicht wirklich viel aus«, sagte Luzifer.

    »Leute, das ist eine Bombe«, sagte Mekardor. »Das ist die wahrscheinlichste Erklärung. Und wir haben zwei Magmaschleudern, die genau für einen solchen Fall gebaut sind. Und wir haben das Riesenglück, dass sie genau durch die Reichweite dieser Abwehrwaffen fliegt. Wir wären bescheuert, wenn wir sie nicht abschießen. Und als alternative Erklärung kommt ihr mir mit interstellarer Raumfahrt. Also bitte.«

    »Da hat er Recht«, sagte Baal.

    »Mir fallen aber durchaus noch plausiblere Erklärungen ein«, sagte Luzifer.

    »Zum Beispiel?«

    »Nur weil es nicht Gottes Art und Weise ist, heißt es nicht, dass er es nicht könnte. Er könnte ein Raumschiff mit konzentriertem Treibstoff für den Rückflug konstruieren. Das ist bloß nicht sein übliches Vorgehen.« Das sah anders aus: Gott erkundete einen Planeten zunächst mit autonomen Sonden, die dessen Oberfläche niemals wieder verließen und ihre Ergebnisse funkten. Sie hatten auch auf Phrat entsprechende Überreste gefunden. Falls er einen Planeten tatsächlich erschließen wollte, erstellte er eine Nanofabrik und darin das Seil für die Jakobsleiter. Diese ließ er vom Himmel herab und verankerte sie am Boden. »Aber wenn er nur ein einziges Mal auf einen Planeten wollte, und nur einmal etwas abholen, dann würde er ein Gefährt konstruieren, das wieder selbst von diesem Planeten starten kann. Schon allein, um mal auszuprobieren, ob er es wirklich hinbekommt.«

    »Was sollte er denn hier abholen wollen?«, fragte Baal.

    »Na uns. Er könnte uns begnadigt haben und will uns abholen.«

    Baal öffnete den Mund, stockte dann aber und blies nur laut hörbar die Luft aus.

    »Da ist ja eure Idee mit dem interstellaren Raumschiff glaubwürdiger«, sagte Mekardor.

    »Da hat er Recht«, sagte Baal.

    »Das mag sein«, sagte Luzifer. »Aber ganz egal, warum dieses Schiff …«

    » … diese Bombe …«

    »Warum auch immer das Schiff hier ist: Falls auch nur die geringste Chance besteht, dass es von diesem Planeten abheben kann, dann wäre ich persönlich liebend gern an Bord, wenn es wieder startet.«

    3

    Semiramis starrte hinaus in die Nacht. Das Trommeln zerrte an ihren Nerven. Es war ein simpler, allerdings überwältigender Rhythmus, der letztendlich ihren Herzschlag in seinen Takt zu zwingen schien. In der Dunkelheit wäre seine Entfernung schwer einzuschätzen gewesen, doch da hinter der flachen Hügelkette vor ihnen ein rötlicher Lichtschein waberte, konnten sie wohl davon ausgehen, dass von dorther auch die Musik erklang.

    Anscheinend waren die Auskünfte, die sie erhalten hatte, zutreffend. Die Flussanwohner hatten berichtet, dass das gesuchte Wesen namens Luzifer oben in den Bergen hauste und die Bewohner dort versuchten, es mit Geschenken und unaussprechlichen Ritualen bei Laune zu halten. Genauer hatten sie nicht beschreiben können, in welcher Gegend sie nach ihm suchen mussten, doch »oben in den Bergen« hatten sie schließlich Leute aufgetrieben, die das konnten. Weder mussten sie groß erklären, wem sie nachspürten, noch sie später irgendwie zum Sprechen überreden. Die beiden Männer hatten Semiramis zitternd angestarrt, die Augen so weit aufgerissen, dass alles im Weiß ertrank, und gequasselt wie ein Wasserfall. Dieser Luzifer schien ihr wirklich ähnlich zu sehen.

    Lautlos schritt sie in Richtung des Hügels. Ihre Krieger folgten ihr. Sie hatte fünf Männer dabei, auf deren Kampfkunst sie sich verlassen konnte. Jeder hatte ein Netz am Gürtel befestigt, noch immer die effektivste Waffe gegen ein Chaoswesen, doch da nicht sicher war, ob sie es hier wirklich mit einem gepanzerten Seraph zu tun bekamen, trugen sie Schwerter in der Hand.

    Das Trommeln wurde lauter und inzwischen vernahm sie zudem einen kehligen Gesang, der es begleitete. Sie erreichten den Hügel und stiegen den felsigen Abhang hinauf. Auf dieser Seite wuchs nur knorriges Gestrüpp, oben angekommen jedoch entdeckte sie auf der anderen ein dichtes Geflecht von Bäumen und Sträuchern, unpassend üppig für solch trockene Gegend. Dieser unerwartete Wald füllte eine Mulde aus, und man hatte den Eingang zu diesem Tal mit Mauern aus angehäuften und gestapelten Steinen verschmälert. Auf einer gerodeten Fläche vor dem Wald brannten Feuer, deren Schein sie gesehen hatte. Sie erkannte eine dunkle Gestalt, eher klein, aber massig, die die Trommel schlug. Die Gestalt trug einen dicken Umhang aus Tierfellen und hatte sich einen gehörnten Tierkopf aufs Haupt gestülpt. Offenbar wollte sie damit die Gestalt des Wesens nachbilden, das sie mit dem Getrommel anzulocken hoffte. Auch die anderen Menschen auf dem Feld gaben sich alle Mühe, ködernde Schaulust zu erregen, sie verknoteten sich in zuckenden Verrenkungen

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