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MATADERO: Kriminalroman
MATADERO: Kriminalroman
MATADERO: Kriminalroman
eBook483 Seiten6 Stunden

MATADERO: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Colmar, ein alter Krieger, Polizist und Soldat, hat jedes Maß für Gut und Böse verloren. Wie ein alttestamentarischer Racheengel zieht er übers Land, die Schwarzwaldhöhen und das Rheintal, an seiner Seite ein schwarzer Hund, der ihm wie zufällig über den Weg gelaufen war. Während des Krieges diente Colmar in der Wehrmacht. An seinen Händen klebt das Blut Unschuldiger. Nach der Niederlage floh er in die Fremdenlegion, doch auch dort erwarb er sich zweifelhaften Ruhm. Nun holen ihn die Gespenster der Vergangenheit wieder ein. Alte Gegner gewinnen mit neuen Methoden die Oberhand. Und dann taucht Ava auf, Colmars Leidenschaft aus seiner Zeit in der Fremdenlegion. Zuletzt hatte er sie unter mysteriösen Umständen in Algier gesehen. Und er ist nicht allein auf ihrer Spur. Denn für einen Mann wie ihn gibt es keine Gnade, keine Absolution …
SpracheDeutsch
HerausgeberLuzifer-Verlag
Erscheinungsdatum26. Mai 2023
ISBN9783958357839
MATADERO: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    MATADERO - Friedemann Hahn

    MATADERO

    Ein Blutbad und Melancholie

    Roman Noir

    Friedemann Hahn

    Impressum


    Deutsche Erstausgabe

    Copyright Gesamtausgabe © 2023 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd.

    Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

    Cover: Michael Schubert

    Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2023) lektoriert.

    ISBN E-Book: 978-3-95835-783-9

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    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Inhaltsverzeichnis


    MATADERO

    Impressum

    Vorspann

    ERSTER TEIL

    1

    2

    3

    4

    5

    6

    7

    8

    9

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    11

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    18

    19

    20

    ZWEITER TEIL

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    25

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    27

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    38

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    41

    DRITTER TEIL

    42

    43

    44

    45

    46

    47

    48

    49

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    84

    Abspann

    Abgesang

    Über den Autor

    Den toten Hunden gewidmet

    »Alle Menschen träumen, aber nicht auf dieselbe Art. Die, die nachts träumen, in den staubigen Nischen ihres Geistes, wachen am Tag und stellen fest, dass ihre Träume eitel waren; aber die die am Tage träumen, sind gefährlich, da sie ihren Traum mit offenen Augen leben, um ihn zu verwirklichen. Dies tat ich.«

    T.E. Lawrence, Seven Pillars of Wisdom

    »Il n'y a pas de plus profonde solitude Que celle du samourai si ce n'est celle D'un tigre dans la jungle.«

    Jean Pierre Melville, Le Samourai

    »Ich weiß was du gelitten hast Doch jeder leidet so: Was den Soldaten traurig macht Das macht den Killer froh …«

    Leonhard Cohen, The Captain

    Aufgesang

    Oh Käpt'n, mein Käpt'n!

    Der Käpt'n ruft mich an sein Grab

    Er ist schon kalt noch glänzt er

    Schwarz wie Teer.

    »Es ist vorbei«, sagt er und lacht.

    »Mein Freund ich geh.

    Egal was kommt, es wird nicht leicht

    Es wird nicht schwer, es kommt

    Was kommen muss, mein Freund.

    So schwer wie Dreck das Leben war

    So leicht war es wie Silberhaar.

    Wir taten es ob gut ob schlecht

    Wir tatens weils zu tuen war.«

    »So sind wir Blut befleckt?«

    Frag ich, will nicht ins Feuer gehn.

    »Wir taten unsre Pflicht mein Freund,

    Es war ja nur Befehl.

    Es gibt kein Weinen gibt kein Klagen,

    Wir müssen vors Gericht.

    Du kannst dich nicht entziehn

    Mein Freund.

    Es hilft nicht wenn du‘s selber machst

    Der Tod weiß wie es geht

    Er holt dich ob du schläfst ob wachst

    Er lässt dich niemals ziehn.

    Sei froh du hast noch Zeit

    Du alter Hund,

    Wenn du einmal gegangen bist

    Das Leben nimmt dich nicht zurück.«

    This is the end

    For you my friend

    I can't forgive

    I won't forget

    The end of nights

    We tried to die

    This ist the end

    Kill! Kill!

    Vorspann

    »Der Wald … der Wald …«

    Die Dämmerung legt sich über die Passstraße. Rechts und links der Straße beginnt der Anstieg in die Wälder.

    Bergwälder. Tannen, Fichten, krüpplige Kiefern und schier undurchdringliches Gestrüpp, ein von Haselnusssträuchern und braun verdorrtem Ginster überwucherter Bachlauf.

    »Verdammter Wald …«

    Er ist nervös und angespannt. Seit Tagen schon, gereizt und verdüstert.

    Das Warten muss ein Ende haben.

    Er findet eine Schneise, durch die der Blick nach Osten weit bis ins Gebirge reicht. Die Schweizer Alpen auf der anderen Seite des Tales. Mönch, Jungfrau, Eiger. Die schwindende Sonne brennt sich durch das Gewirr der Tannen- und Fichtenäste. Wie verglühender Stahl in kaltem Fleisch. So kommt es ihm vor.

    Über der Ebene am Fuß des Gebirges liegt ein bläulicher Schleier, wie aus feinster, durchsichtiger Seide. Eine tiefblaue Kristallwelle hebt das Firmament in das Abendrot, auf dessen warmer Flut die roten Strahlen der einbrechenden Nacht spielen.

    Er ist tief ergriffen.

    Als er sich umwendet, um die Passstraße wieder zu erreichen, wird es auf einen Schlag so finster, dass eine dumpfe, schleichende Angst in ihm wächst. Er hat gelernt, Angst, Stress und Panik zu beherrschen. An diesem Abend fällt es ihm schwer.

    Er bleibt stehen, verharrt, schließt die Augen und atmet tief.

    Er verliert sich, treibt dahin in Erinnerungen. Die Gedanken sind zum Greifen nah … die bösen, die schmerzhaften … auch die guten, doch davon gibt es nicht allzu viele.

    Er verharrt. Er atmet tief.

    Will sich nicht ergeben. Doch dann.

    Plötzlich.

    Wie ein Phantom steht eine Gestalt vor ihm. Dunkel. Verhüllt. Er erschrickt nicht.

    Bleibt gefasst.

    »Du? … Du bist gekommen?«

    »Ja, ich bin gekommen.«

    »Du hast mich gefunden.«

    »Ich wusste, ich würde dich finden.«

    »Ich wusste, du würdest kommen.«

    »Ich will, dass du meine Träume verstehst.«

    »Warum?«

    »Ich sehe all die Leichen. Die Schuldigen und die Unschuldigen. Ich sehe diese Berge von Leichen. Ich töte dich und gehe fort … es tut mir leid, mein Freund.«

    »Ich wollte Unglaubliches vollbringen, aber das war alles Unsinn, verführerischer Unsinn.«

    »Du wirst büßen. Du wirst mit deinem Leben bezahlen.«

    »Warum? Warum ich?«

    »Einer für alle …«

    »Für ein paar Illusionen ohne Sinn?« Er fasst sich an die Seite.

    Spürt den Aufschlag des Projektils nicht. Auch das Eindringen in das Gewebe und die Milz spürt er nicht. Den Schuss hat er nicht gehört. Für den Bruchteil einer Sekunde nur erscheint es ihm, als tauche er ein in das vollkommene Licht. Und dann wird es dunkel und dunkler, und in dieser Dunkelheit tanzen vor seinen brechenden Augen Bilder. Klare Bilder voller Geschichten, und er wirbelt durch diesen Strudel, wie durch ein Labyrinth, ein Labyrinth zerstörerischer Bilder voller Angst und Schrecken, aus dem es kein Entrinnen gibt.

    »Aaaaaahhh!!!« Und er stammelt: »Wer? … wo? … was bedeutet das?«

    Dann fällt er in die vollkommene Finsternis. Und eine Stille bricht an.

    Ein gewaltiges Schweigen. Und eine Kälte.

    Und es ist seine Kälte. Seine Stille. Seine Finsternis. Aber es ist Gottes Schweigen.

    »So ist das Ende. Das Ende, mein Freund, das Ende«, sagt der Fremde.

    »Heilige Scheiße, verdammte Scheiße! Wenn ich dich nur erkennen könnte … wenn ich nur wüsste …«

    Das Letzte, was er sieht, ist das Aufblitzen eines Mündungsfeuers. Er fällt, bevor das Projektil ihn treffen kann. Es nützt ihm nichts, denn die nächste Kugel sitzt und verletzt ihn schwer.

    »Ich wusste, ich würde dich finden.«

    »Wer … wer bist du?«

    »Du bist der, der gesucht wird, mein Freund.«

    »Wer …? Warum?«

    »Ich muss dir keine Antwort geben … Ich bin nicht der, den man sucht.«

    »Hast du mich gesucht?«

    »Sollte ich …? Hast du etwas getan?«

    »Ich … Ich habe gelebt … wie andere auch.«

    »Dann hast du ja nichts zu befürchten, mein Freund …«

    »… und doch? Meine Seele …? Wird sie ins Paradies finden?«

    »Wenn du mich fragst … du fährst in die Hölle ein … wenn du bereust, machst du Station in der Vorhölle.«

    »Wie lange …?«

    »Es geht vorüber … alles geht vorbei.«

    »Das Fegefeuer?«

    Er bekommt keine Antwort.

    »Ist … ist Sterben wie … wie Abreisen …? In eine entfernte Welt? Vielleicht … vielleicht …?«

    Seine Augen flackern in wildem Stakkato. Sein Körper zuckt spasmisch, als jage brennender Strom durch ihn hindurch.

    Er spürt den Lauf des Revolvers hinter dem rechten Ohr nicht. Der Fremde drückt ab.

    »So muss es sein. Ohne Wenn und Aber.« Dann drückt der Fremde noch einmal ab. Das letzte Mal in diesem Spiel.

    Genau zwischen die Augen.

    Jetzt ist er tot. Ist nur noch ein Haufen zur Verwesung freigegebenes Fleisch.

    »Abreisen«, sagt der Fremde, »wenn du es so siehst. Es ist jedenfalls für immer.«

    Er zieht den silbernen Ring vom Finger, bevor sich die Hand verkrampfen kann.

    Wo sind die Sterne? Er blickt zum Firmament. Als suche er etwas Bestimmtes. Ein Gestirn?

    Er schiebt die Waffe hinter den Gürtel und schlägt den weiten Mantel eng um sich.

    »Tausend Blüten«, raunt er, »tausend Blüten …« Und es beginnt heftig zu schneien.

    »Ich bin es nicht. Auf wen auch immer du gewartet hast«, sagt er und geht, ohne sich noch einmal umzudrehen.

    »Ich bin es nie.«

    ERSTER TEIL

    Eines Morgens finden sie dich mit Fliegen im Mund

    Und wenn sie jr Zeugnis geendet haben.

    So wird das Thier, das aus dem Abgrund

    auffsteiget, mit jnen einen Streit halten,

    und wird sie tödten. Und jre Leichnam werden

    liegen auff der gassen der grossen Stad,

    die da heisst geistlich, die Sodoma und Egypten,

    da unser Herr gecreutziget ist.

    Johannes, Die Offenbarung, 11

    Die alte Wassermühle brannte bis auf die Grundmauern nieder. Schlicht gebastelte Molotowcocktails hatten die mit Fichtenholz aus der nahen Umgebung verkleideten Wände und das hölzerne Mobiliar entzündet.

    Zwei Gasflaschen explodierten in der Küche. Der Wind, der durch die von den Brandsätzen zersplitterten Fenster zog, trieb die Flammen rasch in den Dachstuhl.

    Am Morgen traf die Gendarmerie gegen 5.30 Uhr ein. Kurz darauf war die Feuerwehr am Tatort. Bei den Aufräumarbeiten stießen die Gendarmen auf einen nahezu verkohlten menschlichen Körper. Stark geschrumpft, Hände und Füße zerschmolzen. Das Gesicht war bis zur

    Unkenntlichkeit zerstört, das Fett ausgelaufen, Reste eines menschlichen Antlitzes hingen am Schädel. Die Leiche lag auf dem Rücken. Im unmittelbaren Bereich der Leiche fanden sich eine Armbanduhr Marke Heuer, die um 1.10 Uhr stehengeblieben war, unter der Leiche ein Colt .38 Special Hartford Cam und ein durch die starke Hitze deformierter Silberring.

    Gegen 7.00 Uhr entdeckte die Feuerwehr beim Ablöschen der Gluthaufen die Überreste zweier Hunde, von denen der eine Schussverletzungen im Bereich der Hüfte aufwies. Ferner Reste einer amerikanischen Schrotflinte der Marke Remington, Baujahr 1940. Nicht weit davon vier 6,35-mm-Projektile.

    Ein Nachbar, wohnhaft in einer etwa 600 Meter entfernt gelegenen Jagdhütte, der, weil er schon früh am Abend Schlaftabletten eingenommen hatte, tief und fest schlief und daher weder Schüsse noch Explosionen gehört hatte, war von dem starken Brandgeruch aufgeschreckt und diesem nachgegangen. Um 5.00 Uhr früh traf er an der schwelenden Ruine ein, alarmierte umgehend die Feuerwehr und die Gendarmerie Nationale.

    Der Nachbar wusste zu berichten, dass Tage zuvor Hakenkreuze und altgermanische Runenzeichen mit weißer Farbe auf den Asphalt geschrieben standen. Der eigentliche Besitzer, ein ehemaliger Militär, den er aber nicht näher gekannt habe, war so gut wie nie in der Mühle aufgetaucht. Der Nachbar sagte »Die Mühle war wohl vermietet. Leute, zu denen ich ebenfalls keinen Kontakt hatte. Mob, aus Straßburg, aus Marseille … so was kennt man ja. Manche sagen auch Deutsche, ehemalige Besatzer.«

    Weder die Autopsie der verbrannten Leiche, noch Nachfragen bei dem örtlichen Zahnarzt und einem Zahnarzt im nahen Deutschland, brachten die Untersuchungen der Gerichtsmediziner weiter. Durch das stundenlange Liegen im Feuer war die Leiche verkohlt und stark geschrumpft. Arme und Beine nur noch Stümpfe. Sie ließen keine Schlüsse auf die Identität des Opfers zu. Das Loch im Brustkorb und die gebrochene rechte Schulter stammten höchstwahrscheinlich von einstürzenden Balken des brennenden Dachstuhls.

    Im April des darauffolgenden Jahres, die Schneemassen eines extrem strengen Winters waren dahingeschmolzen, fand nahe dem Ort Les Charbonnières im Schweizer Jura ein Jäger, der der Spur eines angeschossenen Keilers gefolgt war, das ausgebrannte Wrack eines Citroën DS in einem Dickicht am Waldrand. Das ramponierte und verrostete Nummernschild wurde als französisches Militärkennzeichen identifiziert.

    Im offenen Kofferraum lag eine stark verweste Leiche. Die Arme mit Handschellen auf den Rücken gefesselt.

    1

    Jahre danach. In den 1960ern.

    Träge liegt der Dunst über den öligen Wassern des Hafens. Eine gefährliche, unheimliche Stimmung, die kaum einer der Passagiere wahrzunehmen scheint. Faulig. Hafenbrackwasser. Es stinkt, wenn man es riechen will.

    Marseille ist zeitig an Bord gegangen. Er hasst Gedränge, meidet Menschenansammlungen.

    Der Dampfer wird die ganze Nacht brauchen, um sein Ziel zu erreichen.

    Teilnahmslos blickt er über das Deck und die Gestalten der Passagiere. In seinem Rücken das Wasser, schwer wie Blei, und die langgestreckte Halbinsel an der Spitze der Bucht. Sein Blick geht durch die Menschen hindurch. Ein leerer, starrer und zugleich weicher Blick. Rehbraune Augen.

    Dicht an der Reling sieht er einen Mann stehen. Sein Hut wirkt affig. Alpenländisch. Sein Gesicht regungslos, gerötet, leicht verfettet. Die Lippen bewegen sich kaum, scheinen einen imaginären Dialog zu führen. Die linke Wange ist von drei tiefen Schmissen zerschnitten, was ihm einen verschlagenen Ausdruck verleiht. Er trägt Uniform in Sandbraun, ohne Rangabzeichen. Vielleicht ein Kolonialoffizier? Von welcher Armee ist am Schnitt und der Beschaffenheit des Stoffes nicht zu erkennen. Den schmalkrempigen, olivfarbenen Hut aus Nadelfilz hält er so in der rechten Hand, als wolle er sich verabschieden oder ein Zeichen geben.

    Marseille wird ihn im Auge behalten müssen. Dieser Mann ist nicht zum Spaß hier.

    Marseille wendet sich ab. Denkt zurück. Offenen Auges sieht er Bilder aus bleierner Zeit. Die Gedanken wirbeln durcheinander.

    Marseille der Flieger … Jäger der Lüfte … ein sportlicher Held.

    Von oben, im Flug, sah alles so leicht aus, so spielerisch. Menschen purzelten wie Dominosteine durcheinander, fielen zu Boden, sprangen wieder auf, trampelten sich gegenseitig nieder, wurden getrieben,

    gejagt … wie im Sandkasten beim Kinderspiel … Panik, die nackte Angst … kein Ausweg.

    Diese Bilder … vorbei ist vorbei … er will nur wegschauen … einfach nur wegschauen.

    Marseille nimmt eine Zigarette aus dem Messingetui und streicht über das eingravierte Karomuster des Deckels. Die Fingerkuppen spüren die Kälte des Metalls. Das Feuerzeug wirft rotgelbe Funken in die Dämmerung … die Glut blüht auf wie eine exotische Blume, rot und gelb, wie die explodierende Granate der Legion.

    »Sie können mir eine große Freude bereiten … ich liebe diesen Geruch, diesen Tabak … eine Orientalische, nicht wahr?«

    Marseille zuckt kurz zusammen, unmerklich. Er hatte nicht bemerkt, wie sich ihm jemand näherte. Die schnarrende Stimme reißt ihn unsanft aus seiner Trance.

    Die Stimmung an Deck unverändert, wie zuvor.

    Er wendet sich der Stimme zu und erkennt den Fremden, der ihm an der Reling aufgefallen war. Er sieht aus der Nähe vertrauenerweckend aus, doch nicht ohne eine Spur von Verschlagenheit.

    »Eine Jugendsünde«, sagt der Fremde, »meine amerikanischen Freunde nennen mich Scarface … nett, nicht …? Oder finden Sie Narbengesicht treffender?« Er berührt seine zerschnittene Wange.

    »Ich finde, ich meine …« Marseille weiß nicht, was er antworten soll.

    Dann fällt ihm eine passende Bemerkung ein, und er sagt: »Sicherlich haben Sie noch andere Eigenschaften.«

    »Ich bin Österreicher«, der Fremde lächelt, »auch wenn das keine Eigenschaft ist, wenigstens keine gute.« Und nach einer Weile. »Was machen Sie hier? Wenn ich mir diese Aufdringlichkeit erlauben darf.«

    »Ich will nach Ajaccio.«

    »Das wollen wir doch alle hier an Bord. Ich meinte mit meiner Frage, was machen Sie …? Wie soll ich es am besten ausdrücken? In welcher Branche, meine ich …«

    »Ich bin Flieger … Pilot. Bin auf dem Weg nach Deutschland«, erklärt Marseille und hält dem Fremden das aufgeklappte Zigarettenetui hin. »Bitte bedienen Sie sich«, sagt er und schlägt mit dem Feuerzeug eine bläuliche Flamme.

    Damals … damals hatte der General wie aus heiterem Himmel gefragt: »Kamerad, sag mir den Unterschied zwischen einem Piloten hoch über den Wolken, der einen Behälter mit Napalm über einer Bauernsiedlung in der Kabylei abwirft und einem Terroristen, der seine Bombe in einem Café in der Kasbah ablegt.«

    War das überhaupt eine Frage?

    Sollte er ihm eine Antwort darauf geben? Erwartete der General das?

    »Der Terrorist braucht nur unendlich mehr Mut. Ist es so?«

    Der General hatte auf keine Antwort gewartet, und eine Gegenfrage hatte er schon gar nicht erwartet. Er wusste Bescheid. Über alles … er kannte Gott und die Welt. Der General war an so vielen Orten gewesen.

    Es gibt nur die eine Antwort oder keine, denkt Marseille. Und wer hat mehr Mut? Das Opfer oder sein Mörder?

    Das ist keine Frage. Also keine Antwort. Es ist, wie es ist.

    Er hatte so viele Gegner vom Himmel geholt, wie keiner vor ihm. Bis es dann ihn erwischte. Was unausweichlich war.

    »Mein Motor brennt!« Er hatte es nicht bemerkt, so wild war die Jagd. Schnell verlor er an Höhe. »Habe starke Rauchentwicklung in der Kabine!«, schrie er in das Bordfunkgerät. Keine Antwort. Mit gepresster Stimme rief er. »Ich muss jetzt raus! Ich halte es nicht mehr aus! Die Maschine fliegt mir um die Ohren!« Keine Antwort …

    »Ja, ich weiß. So etwas werde ich nie fragen. Es gibt keine Antwort«, sagt er zu sich.

    Er hat vergessen, dass der Fremde neben ihm steht. Er ist in Gedanken.

    »Marseille, wir müssen auf das Schlimmste gefasst sein. Die

    Demokratien haben es niemals vermocht, ihre Feinde in die Schranken zu weisen.«

    Der General der Paras hatte ihn beiseitegenommen. »Du wirst es erleben, wir werden uns wiedersehen, und wir kämpfen dann auf der anderen Seite. Vielleicht sogar in Deutschland.«

    »Oder nirgendwo. Oder gegen jeden. Gegen alle.«

    »Nein, so beliebig wird es nicht sein«, antwortete der General, »du wirst an einen anderen Standort verschifft. Du wirst dort deine Pflicht tun, bis du entbunden wirst … oder bis du ins Gras beißt.«

    »Gras?«

    »Ich weiß nicht, ob es dort Gras gibt. Aber es gibt Bäume. Tannen, Fichten, es ist ein schwarzer Wald. Tu, was du tun musst. In die Bäume wirst du nicht beißen können.«

    »Vielleicht …«

    »Es steht geschrieben …«

    Aber der General ließ ihn nicht zu Wort kommen.

    Marseille kommt langsam zu sich. Noch immer wie in Trance,

    wendet er sich dem Fremden zu, nimmt ihn aber erst wieder wahr, als dieser ihn anspricht.

    »Ich heiße Otto«, sagt der Fremde und legt seine linke Hand auf Marseilles Schulter, »einfach nur Otto«, dabei saugt er nicht unelegant an der Zigarette. Mit gedämpfter Stimme fährt er eindringlich fort: »Vielleicht sehen wir uns wieder. An einem anderen Ort. Vielleicht habe ich sogar eine Idee und kann Sie überzeugen. Ich kenne viele Leute. Mit großem Einfluss. Sie verstehen, Beziehungen. Sie sehen nicht so aus … verzeihen Sie … Ich denke, wir brauchen … alle … was wir brauchen sind Freunde … Menschen, mit denen wir Erlebnisse teilen … Kameraden, mit denen wir durch dick und dünn gegangen sind … gehen werden.«

    Marseille sieht auf seine Hände. »… es steht geschrieben …«

    Indem der Fremde Marseille in den Oberarm kneift, sagt er: »Otto, einfach nur Otto.«

    Unappetitlich, denkt Marseille, irgendwie unappetitlich.

    2

    Nackt kämpfen, mit Wasser schützen … und er zeigte mir einen Strom lebendigen Wassers, klar wie Kristall, der ausgeht von dem Thron Gottes und des Lamms … auf beiden Seiten des Stromes, mitten aus der Gasse, wächst ein Baum des Lebens … ich bin der Kommandant von Rohlingen, der Anführer eines Haufens von Grobianen ohne militärische Ausbildung … auf beiden Seiten des Stromes … du solltest den Hut vor mir ziehen, fünf lange Jahre einen grausamen Haufen von Rohlingen zusammenzuhalten, weißt du, das ist nicht leicht, das kannst du mir glauben … wir sind nicht unverantwortlich, wir respektieren die Zehn Gebote, meine Männer haben mich respektiert … wenn wir Krieg führen, töten wir den Feind und häuten ihn … man hat ihn in den Rücken geschossen: eingetreten, ausgetreten … ohne Fetische wäre er tot … du solltest eins wissen: Dieser Fetisch setzt alles außer Kraft, wenn wir in den Kampf ziehen … sobald wir einen Schuss hören, werden wir zu wilden Hunden … dieser Fetisch hilft uns zu kämpfen … ist der Krieg zu Ende, sind wir nicht ganz zurechnungsfähig … es kann passieren, dass jemand eine Frau vergewaltigt, er kann sich da nicht zurückhalten, das passiert, weil dich der Fetisch verwandelt … was man auch tut, man wird sehr bösartig. Mädchen wurden vergewaltigt, noch nicht einmal sechs, sie wurden den Armen ihrer Mütter entrissen … sie wurden auf unvergleichliche Weise vergewaltigt … es ging um Zerstörung, nicht um die Bedürfnisse zu befriedigen … aufgespießt, sie benutzen Eisenteile, Eisenstangen oder Holz, die sie in die Frauen hineinzwängten …

    Er reißt die Augen auf. Wischt die Bilder weg. Konzentriert sich. Von seinem Wagen aus beobachtet er die Telefonzelle. Dass der in der Zelle der Richtige ist, erkennt er sofort. Er streift die rindsledernen Schweißerhandschuhe über. Er greift nach dem Eisen. Er steigt aus und zieht die schwarze Baskenmütze tief in die Stirn. Er geht um den Wagen herum, auf die Zelle zu. Er blockiert den Türgriff mit der Eisenstange. Keine Verzierungen, schlichtes rostiges Armierungseisen; so was bricht nie. Er zieht den .38 Revolver. Knallt drei Kugeln in Kniehöhe gegen die Scheibe. Drei Kugeln. Ein dickes Loch in der aufgeplatzten Scheibe. Die Projektile finden ihren Weg. Zurück zum Wagen. Er legt den Fahrersitz nach vorn und zerrt sieben Meter Stachelbanddraht, auf Rundholz gerollt, ins Freie. Er umwickelt die Telefonzelle mit dem Draht. Eine zusätzliche Vorsichtsmaßnahme. Der Kerl in der Zelle kann nicht mehr raus. Dem Kerl in der Telefonzelle muss sein Ende dämmern. Er donnert gegen die Glaswände. Hat ihn wohl erkannt, trotz der dämlichen Mütze und trotz seines erschreckenden Aussehens. Von den Toten auferstanden. So was muss ihm erst mal einer nachmachen. Jetzt rammt er das Rundholz vor der Tür in den Boden, verkeilt es unter dem Türgriff, tritt es fest. Er bewegt sich gemütlich zu seinem Benz, öffnet die Heckklappe, entnimmt das Reserverad und lehnt es gegen die Glastür. Der Kerl in der Zelle ist still geworden. Donnert jetzt nicht mehr gegen die Scheibe. Schreit nicht mehr. Starrt nur noch aus großen, entsetzten Augen auf das, was kommen wird. Kommen muss. Er schüttelt eine Gauloise aus dem Päckchen, wirft sie in die frische Luft, schnappt sie mit den Lippen auf, schlägt eine Flamme aus dem Benzinfeuerzeug und betrachtet sein Werk. Er raucht, inhaliert tief und ruhig. Unter der Heckklappe ruht ein 15 L Blechkanister, randvoll mit Diesel und das Reserverad. Er stemmt den Reifen ein wenig von der Felge und lehrt etwas Diesel in das Reifeninnere. Roll das Rad auf die Zelle zu. Mindestens fünf Liter verspritzt er dann über der Telefonzelle. Der Kerl in der Zelle starrt wie gelähmt. Mit einem Auge blickt er ihm ins Gesicht, das andere kneift er zu. Jetzt verwandelt sich das Gesicht hinter der Scheibe in eine schreckliche Fratze. Todesangst. Ja, Todesangst. Die Fratze sieht ihm immer ähnlicher. Bald sieht sie aus wie seine. Die Fratze des Kerls in der Zelle sieht jetzt aus wie seine eigene Fratze. Er wirft die Kippe gegen die Scheibe. Sie prallt vom Glas ab und fällt zu Boden. Ein kurzes Zischen, und sie erlischt. Blitzschnell stopft er die dämliche Baskenmütze in die Öffnung des Benzinkanisters, schüttelt ihn kräftig und entzündet die Mütze mit dem Feuerzeug. Er wartet, bis die Mütze ordentlich fackelt und die Visagen sich absolut gleichen. Jetzt gibt es keinen Unterschied mehr. Jetzt sieht ihn seine eigene Fratze an. Er wirft den Kanister gegen die Telefonzelle. Es macht puff und die Scheiße beginnt lichterloh zu brennen. Dann folgt eine knappe Explosion, wie der Kanister zerplatzt. Er geht um den Wagen herum, öffnet die Beifahrertür und ruft: »He, Hund …! He, avanti!« Der Hund hält einen Spazierstock aus Kastanienholz mit einem Sterling-Silberring im Fang. Der Hund springt raus. Er hat seine Freude am freien Laufen. Am Rennen, Springen. Was da vor sich geht, sieht er nicht. Der Hund tut so, als würde nichts geschehen. »He, Hund …! He, avanti!«

    Der Hund kommt nicht. Der Hund kommt nie.

    Ohne die Augen aufzuschlagen, greift er ins Leere, tastet mit der linken Hand seitwärts vor der Matratze herum, nichts … Wo ist die Flasche? Wo ist der heilige Trank?

    Cremer wälzt sich auf die andere Seite des Bettes und tastet mit der rechten Hand. Nein, er will die Augen nicht aufmachen. Die Hand berührt den Flaschenhals, umklammert ihn und hebt die Flasche an, schüttelt sie. Da ist noch was drin.

    Er setzt die Flasche an und leert sie in einem Zug.

    Die Fée Verte meint es wieder einmal gut mit ihm. Er weiß nur nie, ob er der in der Telefonzelle ist? Oder ist er das Untier mit dem Benzinkanister?

    Ist er der oder der?

    Dieser oder jener?

    Oder ist er der eine, und ist er der andere auch? Ist er beide?

    Der Traum kehrt immer wieder. Doch er gewöhnt sich nicht an ihn.

    Er durchlebt ihn stets aufs Neue. Es ist eine Qual.

    »Ich muss mit meinem Gewissen leben«, sagt er zu sich. »Ich habe viele umgebracht, aber als Soldat. Die hatten eine Waffe in der Hand.« Ich bin nicht unschuldig. Die Sache war nicht immer gerecht, aber sie war klar, und sie war eindeutig. Jeder hatte seine Chance. Wenn ich meine Hand nicht mit im Spiel hatte … damals … trifft mich keine Schuld.

    Und wenn ich meine Hand mit im Spiel hatte? Jaaaaaaaaa …! Was denken die alle …?

    Warum ruft man nach mir? Wie weit bin ich gekommen? Wie tief gefallen?

    Wer bin ich denn?

    Bin ich die Polizei?

    Na? Na? … ha …! Na also! Ja ja, ich bin die Polizei.

    Er donnert die Flasche gegen die Wand. Stumpf prallt sie ab und fällt zu Boden.

    »Ich will mich dem Strafgericht nicht entziehen.« Doch warum dieser Traum?

    »Ich will keine Gnade!« Warum diese Gewalt?

    Diese Entwürdigung? Dieser Hass?

    3

    Adam Knochen legt den Hörer auf die Gabel. Er rutscht hinter dem Schreibtisch hin und her. Er ist nicht ungeduldig, doch drangsalieren lässt er sich nicht gern, auch nicht von seinem Boss, Oberst im

    Bundesgrenzschutz Felix Krüger. Die letzten Worte klingen ihm noch verletzend im Ohr. Der Ton macht die Musik. Sein Boss, der BGS- Kommandeur Süd-West, ist ein durch und durch leutseliger Typ, doch aufgeblasen wie ein Pfau. Auch wenn es scherzhaft gemeint war, »die Hammelbeine langziehen.« So etwas darf Krüger nicht sagen, »keine Ahnung« ist auch nicht angebracht. Dabei begann das Gespräch mit verbindlichen Worten.

    »Ein Tier hat keine Wahl.«

    »Colmar?«, fragt Knochen.

    »Ich dachte jetzt an Scarface, den Duce-Befreier.«

    »Das war Otto?« Knochen will es nicht glauben. In den Nazigeschichten kennt er sich nicht sonderlich gut aus, dafür ist er zu jung, und in der Familie hat man über diese Dinge nicht geredet. »Colmar, ein Tier?«, fragt er noch einmal.

    »Colmar. Er ist ein Tier«, wiederholt der BGS-Kommandeur. »Scarface Otto auch. Das sind alles Tiere. Die kennen nichts.«

    Jeder tut, was er tun muss, denkt Knochen, die einen legen Bomben und die anderen schauen zu … das heißt, sie beobachten die Bombenleger und warten ab. Aber Tiere?

    »Killer!«, insistiert der BGS-Kommandeur.

    »Killer? Was für ein Wort«, Knochen ist das zu viel. »Das sind alles alte Soldaten.«

    »Ein Soldat handelt auf Befehl. Das ist seine Legitimation. Das müssen Sie noch lernen. Killer sind reißende Wölfe. Aber das wollen wir jetzt nicht vertiefen. Wir jedenfalls greifen nicht ein, es sei denn … die Franzosen richten eine Anfrage an uns … ansonsten, mein lieber Knochen, calme, calme.«

    Das Gespräch ist beendet. Bei der nächsten Sitzung kauen wir dann alles noch einmal durch, bis keiner mehr weiß, was zu tun ist. Es ist stets dieselbe Chose.

    Als Knochen zum Bundesgrenzschutz kam, glaubte er, dass er zu einer scharfen Truppe käme. Mehr Soldat als Polizist. Doch mit der Zeit ist ihm klar geworden, das sind Beamte, verdammt …! Warten auf die Beförderung, Pension und den ganzen Scheiß, Frau, Kinder, Haus am Stadtrand … Schweinebauch grillen auf dem Balkon … mit oder ohne Senf, Bier … Bier, Bier. Seine Sache ist das nicht. Er ist jetzt vierundzwanzig, ein Leutnant im BGS. Da muss noch was passieren. Knochen will ein ganz harter Hund sein, will den Laden aufmischen, so oder so.

    »Sie beschatten Otto. Egal, was passiert, Sie bleiben an ihm dran.« Krüger will keinen Zweifel aufkommen lassen. Daher wird er für seine Verhältnisse überdeutlich. Er versucht Strenge und Überzeugung in seine Stimme zu legen, auch wenn es dünn klingt. Es soll auch dem letzten Arsch, für den er Knochen hält, klar werden, dass es sich um einen ganz besonderen Auftrag handelt. »Knochen, das hat Priorität, vor allem. Egal, was auch geschieht. Konsultieren Sie Hauptmann Cremer. Ein guter Kollege. Ein echter Kamerad. Er zeigt Ihnen, wie es geht. Alte Schule. Ein Polizist durch und durch.«

    »Woher wissen wir, dass das Narbengesicht bei uns aktiv wird?«

    »Das braucht Sie nicht zu kümmern, Knochen. Ihr Kommandeur hat seine Kanäle, seine Verbindungen. Sie haben Ihre Befehle … und damit Punktum!«

    »Und wo finde ich das Narbengesicht.«

    »Beobachten Sie Krumm. Sie wissen, den ehemaligen Brigadeführer.«

    »Den Spediteur?«

    »Ja, genau den. Der Spediteur oben im Schwarzwald. Hat in Baden-

    Baden ein Zweitbüro. Niemand kennt Sie in diesen Kreisen. Sie sind ein unbeschriebenes Blatt. Und vermassele mir das nicht! Machen Sie regelmäßig Meldung. Ich will auf dem Laufenden sein. Verstanden? Das ist ein Befehl! Ach ja, und was ich ja noch sagen muss, haben Sie ein Auge auf Proust. Man kann nie wissen …«

    »… Proust? Der ist doch der französische Gendarmerie-Chef in Straßburg.«

    »Er agiert auch hier in Rheinstadt. Darf er auch offiziell. Ich muss mich da zurückhalten. Machen Sie das mit Feingefühl und ohne Uniform bitte.

    Haben Sie kapiert, Knochen? Und vergessen Sie Cremer nicht. Ist ein

    alter Hund. Von dem können Sie lernen. Der stößt Sie mit der Nase drauf. Oder in die Scheiße. Je nachdem.«

    »Jawohl«, sagt Knochen darauf sehr langsam und prononciert, und noch einmal: »Jawohl … Kommandeur, ich habe verstanden.« Und denkt, was soll das jetzt wieder?

    Er steht auf, quält sich um seinen Spanholzschreibtisch herum und blickt dem Bundespräsidenten ins Gesicht. Das Foto des

    Bundespräsidenten, sein Dienstherr, in Standardgröße DIN A4 ist hinter Glas in einem schmalen Fichtenholzrahmen gefasst. Der Bundespräsident blickt ernsthaft oder mürrisch, was Knochen hoch wie breit ist, auch findet er es nicht aufregend, dass das Staatsoberhaupt eine linke Hand ans Kinn hält, was wohl ausdrücken soll, wie viele Gedanken er sich um seine Mitbürger macht.

    Knochen nimmt den Rahmen ab, dreht ihn um und drückt den dreieckigen Aufhänger über den Nagel. Er hat auf die Rückseite des Rahmens eine Buchseite geklebt. Sein Vater hatte es bis zu seinem Tod nicht bemerkt, dass sein Sohn Adam die Seite mit dem Buchdruck von Albrecht Dürers Ritter, Tod und Teufel aus dem Bildband über die Kunst der Deutschen rausgetrennt und an sich genommen hatte. Es ist Adam Knochens Lieblingsbild. Immer wenn er sicher ist, dass er in seinem Dienstzimmer nicht gestört wird, dreht er den Bundespräsidenten zur

    Wand und betrachtet das kaschierte Stück Papier. Ein welliger Fetzen nur, aber was für ein Motiv.

    Aufmerksam studiert er jedes Detail, vor allem die

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